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I. Reactionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 581 Es trat zwar bald genug zu Tage, daß weder der König noch das Ministerium große Neigung hatten, mit aufrichtiger Hingebung in das parlamentarische System cinzutretcn, die monarchische Gewalt durch die nationale Vertretung hcrabdrücken zu lassen; aber für den Augenblick suchten sie mit den Kammern in gutem Einvernehmen zu bleiben. Dies wurde denn auch ermöglicht durch den gemäßigten Charakter des Ministeriums Richelieu-Laine-Decazes, denen kurz nachher noch Pasqnier, ein ehrgeiziger Streber aus Talleyrand's Schule von w. Jan. w,7, hoher geistiger Begabung, als Leiter der Justiz zugesellt ward. Dieses Cabinet glaubte in einer mittleren Richtung zwischen Reaction und Liberalismus am sichersten zu fahren, wobei aber nicht fehlen konnte, daß es oft schwankend und unentschieden auftrat und nach keiner Seite völlig genügte. So konnte denn ein Wahlgesetz vereinbart werden, das zwar bei der geringen Zahl der Wahlberech tigten keine wahre Nationalvertretung schuf, aber doch ein monarchisches Regi ment innerhalb der konstitutionellen Formen gestattete. Das neue Wahlgesetz bestimmte, daß in jedem Departement ein Wahlcollegium Das n-u- zusammengesetzt werden sollte aus französischen Bürgern, welche das dreißigste Lebens-5. Mr.'lsir. fahr überschritten und dreihundert Franken Steuer entrichteten, daß von diesen Wahl körpern durch einzige und direkte Wahlhandlung die Dcputirten, zweihundertachtund fünfzig an Zahl, gewählt werden sollten, die mindestens vierzig Jahre zählen, tausend Frs. Steuern zahlen mußten und für ihre Arbeiten weder Gehalt noch Entschädigung zu beziehen hätten. „Dies System, wonach etwa neunzigtausend Wähler die Abge ordneten aus scchzehntauscnd Wählbaren ernannten, sollte den demokratischen Gefahren durch die Ausschließung der Nichtbesitzcnden und zugleich dm aristokratischen Gelüsten begegnen, indem cs Capitalisten, Industrielle und vermögende Beamte, den eigentlichen Mittelstand, zur Wahl berief". Der Austritt eines Fünstheils in jedem Jahr war ge eignet, der Körperschaft stets frische Kräfte zuzuführen. Dieses Wahlgesetz konnte nur nach heftigen Kämpfen gegen die Ultras aufopxaiuwndcr der Rechten erzielt werden, weil durch dasselbe der Schwerpunkt des Staats lebens nicht in die großen Grundbesitzer aus den alten Adelsgeschlechtern zu liegen kam, sondern in die begüterte Mittelklasse, somit ein Fortschrcitcn auf der Bahn des Constitutionalismus vorauszusehen war. Noch schärfer war die Opposition der Königlichen gegen die von den Ministern in Vorschlag gebrachte Milderung der Ausnahmsgesetze, durch welche die Freiheit der Presse und der Rede und die persönliche Sicherheit so schwer geschädigt war. Und hierbei hatten sie den Vorthcil. daß sie sich mit dem Scheine des Liberalismus und populärer Gesinnung decken konnten, indem sie gegen alle Ausnahmsmaßrcgeln zu Felde zogen. Sie erlangten durch ihre Opposition wenigstens so viel, daß die Gesetze nur auf eine bestimmte Zeit gültig sein. also einen interimistischen Charakter haben sollten. Um so entschiedener war der Sieg der Gemäßigten bei dein Recrutirungs- riani«i»un» gesetz, das Gouvion St. Ehr, der an Clarke's Stelle das Kricgsministerium übernommen hatte, durchführte. Wie entsetzte sich die hochroyalistische Partei,