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580 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. zeit, in der ritterlichen Eitelkeit auf des Schwächeren Seite zu sein, in der letzteren Rolle, in den Minderheiten der Widerstandsparteien behaglicher zu fühlen". In den Tuilerien wurde ein Wechsel des Ministeriums und die Auflösung der unbotmäßigen Kammer beschlossen. Wenn der Verfasser des „Genius des Christenthums" im Grunde seines Herzens gehofft haben mochte, er selbst würde in den Ministerrath berufen werden, so erfuhr er eine bittere Täuschung. Ludwig XVIII. war ein zu großer Gönner der klassischen Richtung in der fran zösischen Literatur, als daß er das Haupt der Romantiker hätte an seiner Seite dulden mögen. Vielmehr bewirkte Decazes, daß der König an die Stelle Vau- blanc's, der schon am 7. Mai seine Entlassung erhielt, einen Vertrauten und Gesinnungsgenossen Richelieu's, den freiheitliebenden wohlgesinnten Lame, der sich während der Herrschaft der hundert Tage einen guten Namen erworben, zum Minister des Innern ernannte. Einige Zeit nachher erfolgte die Auflösung »-SeMr. der „unfiudbaren Kammer", weil, wie es in der Verordnung hieß, die Ver- faffungsurkunde unverletzt erhalten werden sollte. Wahlgesetz. Die eigentliche Ursache war aber der Zwiespalt der Regierung und der Deputirten über das Wahlgesetz. Waren auch beide Gewalten darüber einig, daß man den Census so hoch greisen müsse, daß nur eine geringe Zahl von Wählern in den Kreisen und Bezirken als wahlberechtigt auftretcn könnte, und die Abgeordneten selbst, die ihr Mandat ohne Diäten zu üben hatten, der Klaffe der Höchstbesteuertcn entnommen werden sollten, so gingen dagegen über andere Bestimmungen die Ansichten der Re gierung und der Gesetzgebung weit auseinander. Die Vorlage der Minister verlangte, daß die höheren Beamten, Richter und Bischöfe von Rechtswegen in den Wahlcollegien Sitz und Stimme haben, daß jährlich ein Fünftel der Deputirten austreten und Neu wahlen vorgenommen werden sollten, während die Kammer für den Gesetzentwurf Villele's in die Schranken trat, nach welchem fünfjährige Parlamente mit Auflösung des ganzen Hauses nach Verlauf dieser Frist festgesetzt und den reichen Grundbesitzern das Ucbcrgewicht in den Wahlcollegien verschafft werden sollte. Die Absicht, die un- findbare Kammer für das nächste Lustrum beisammen zu halten, war trotz der mehr demokratischen Bestimmung über die Wahlart nicht zu verkennen. R.Lc' Die »eue Kammer, die am 4. November eröffnet ward, trug eine andere ' Physiognomie. Die Rechte, wo die Führer der Ultraroyalisten, die Villele, Kammes Labourdonnaye, Corbiere, Donald, Castelbajac u. a. ihre Sitze nahmen, war i8is. gegenüber dem rechten und linken Centrum, wo die Constitutionellen, und der Linken, wo die „Independenten" aus den Kreisen Lafayette's ihre Plätze hatten, in der Minderheit. Mit den Männern des rechten Centrums, aus deren Mitte Roher-Collard, das Haupt der Schule der „Doctrinärs", zum Vicepräsidenten gewählt ward, ging die Mehrzahl der Minister und der hohen Beamten, unter ihnen Guizot und Mole Hand in Hand. Sie waren für Befestigung und Aus bau des constitutionellen Staatslebens auf Grund der Verfassungsurkunde. Ludwig XVIII. selbst liebte es, als treuer Wächter seiner Charte angesehen zu werden. Die Thronrede mißbilligte den heftigen Eifer der vorigen Kammer.