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I. Reactionärc Experimente u. revolutionäre Gegen sch läge. 577 ristischen Maßregeln fortzurcißen vermochte, so daß es ihm vorkam „er sei lebend an einen Leichnam gebunden", fand an dem Grafen von Artois, dem er den Oberbefehl über die Nationalgardc zuwandte, die kräftigste Stütze, um die gesammte Bureaukratie zu „reinigen" und zu einer royalistischcn Garde um- znwandeln. Auch bei der Neubildung der Armee, nachdem in Folge der Ver träge mit den Murten die Napoleonischcn Heerkörper aufgelöst worden, wurde bei den Offizieren mehr auf loyale Gesinnung als auf militärische Tüchtigkeit Rücksicht genommen. Schon schaute man im Pavillon Marfan mit Neid und Eifersucht auf die reactionären Orgien in Madrid. Graf Artois hatte, wie der Minister bemerkte, den Muth, „sich über die Sophismen des Jahrhunderts zu stellen", die „Narrheit der freisinnigen Ideen" zu verachten und zu verhindern, daß die Furcht vor den Revolutionsmännern die „Göttin Frankreichs" werde und die Restauration in ihrem Gange hemme. Der religiösen Politik des Pavillon Marsan und der Congregationisten, die, wie wir später sehen werden, an der katholischen Romantik eines Chateaubriand, eines Donald, eines de Maistre eine mächtige Stütze fand, war auch die Fürsorge der beiden Kammern für die Interessen der Kirche und des Klerus zuzuschreiben. Konnte man auch deren ehemalige Macht und Selbständigkeit nicht Herstellen, so wurden doch Be schlüsse gefaßt, welche die Geistlichkeit aus ihrer Erniedrigung cmporzurichtcn geeignet waren. Man erhöhte den Staatsbeitrag, man hielt mit dem Verkauf der noch nicht veräußerten ehemaligen Kirchcngüter zurück, man räumte dem Klerus das Recht ein, mit königlicher Erlaubniß Schenkungen und Vermächt nisse anzunehmen, man traf Vorbereitungen, um den Geistlichen wieder den öffentlichen Unterricht in die Hände zu liefern, die „Freiheit" der Kirche, wie die Klerikalen sie verstanden, herzustellen, man strich die Ehescheidung aus deni8.M-ui8l«. bürgerlichen Gesetzbuch. Blacas, der Günstling Ludwigs, der nach vollbrachter Restauration als Ge sandter nach Rom geschickt worden, schloß mit dem päpstlichen Stuhle ein Concordat Juni I8l7. ab, kraft besten das Bonapartische Werk, das schon um seines Ursprungs willen den ultramontanen Kreisen verhaßt war, im Sinne des alten Concordats vom I. 1515 abgeändert, die Freiheiten der gallikanischen Kirche und die organischen Artikel that- sächlich preisgcgeben und die vorrevolutionäre Kirchenverfassung wieder hergestellt werden sollten, eine Vereinbarung, die jedoch in der mittlerweile umgestalteten Deputirtenkammer beanstandet und von den altliberalen Geistlichen, wie Gregoire, heftig bekämpft ward. Die drei Ausnahmsgesetze begründeten einen neuen Terrorismus in Frank- Nc->->,°näici reich: ein Ausspähungs- und Denunciationssystem, das sich nicht auf Worte und Handlungen beschränkte, sondern selbst in Mienen und Geberden die gehei men Gedanken und Gesinnungen zu errathcn bemüht war; Verstrickungen und hinterlistige Verführungen, verleumderische Anklage», falsches Zcugniß und alle jene gehässigen Kunstgriffe, Verdächtigungen und factiöscn Umtriebe eines partciwüthige», vcrfolgungssüchtigen Geschlechts kamen in Uebung und begrün- Weber, Weltgeschichte. XIV. Z7