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572 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. Heerlager spalteten sich in eine Menge kleinerer Parteien oder Fractionen von verschiedener Färbung, so daß das Parteiwescn die Seele des neuen politischen Lebens ward. In der Folge suchten die Männer der sogenannten „rechten Mitte" vergebens die entgegengesetzten Bestrebungen zu versöhnen, sie ver mehrten nur die Zahl der großen Parteien durch eine dritte, die, von den beiden andern angefeindet, allen Gemäßigten, Unentschiedenen und zum Theil Furchtsamen einen gewünschten Zufluchtsort bot. d«u>sch- Ging auch die große Spaltung politischer Ansichten und die Parteistcllung der Männer des Stillstandes oder Rückschritts zu den Männern des Fortschritts durch ganz Europa, so wurde doch Deutschland vorzugsweise der Sitz der liberalen Opposition gegen das Veraltete, Herkömmliche und Bestehende in Staat und Kirche. Die Ursache davon lag thcils in dem Gang der öffentlichen Dinge, theils in der deutschen Natur. Bald nach dem Frieden nahm die Politik in Deutschland eine so volksfeindliche Richtung, daß alle vaterländisch gesinnten Männer an der Verwirklichung der Verheißungen zu verzweifeln begannen und sich entweder mißvergnügt vom öffentlichen Leben zurückzogen oder sich mit Wort und Schrift, ihren einzigen Waffen, der trugvollen Staatskunst entgegensetzten. Das deutsche Volk hatte sich im Vertrauen auf die Zusicherungen der Fürsten gegen den fremden Zwingherrn erhoben, um die Fesseln einer schmachvollen Knechtschaft abzuschütteln; als aber der äußere Feind besiegt war, wurden ihm die versprochenen Freiheiten und Güter vorenthalten oder verkümmert. Kein Wunder, daß sich das frühere Zutrauen in Mißtrauen verwandelte, und daß daraus eine mächtige Opposition gegen alle Regierungen und Obrigkeiten er wuchs. Diese Opposition wurde um so nachdrücklicher, als sic auf dem Rechts boden stand, als sie die öffentliche Treue und Moral gegen Falschheit und diplo matische Tücke vertheidigte, als sie sich auf die Ansichten und Bestrebungen der edelsten Patrioten, eines Stein, Schön, Arndt u. A. berufen konnte; und die Worte der Liberalen fanden um so mehr Anklang in der Nation, als das öffent liche Leben an schweren Gebrechen litt, und die Vorenthaltung der gebührenden Rechte eine tiefe Kluft zwischen Regierungen und Volk erzeugt hatte. Die Lenker der Staaten empfanden bald diese wachsende Opposition; statt aber durch billige Zugeständnisse, durch Eingehen auf die öffentliche Meinung dieselbe zu brechen, setzten sie ihr Gewalt, Verbote und Bestrafung entgegen und verliehen somit dem Staatsorganismus den Charakter eines „Polizeistaats". Durch Zwang und Heimlichkeit hoffte man die widerstrebenden Kräfte zu bändigen, erhöhte aber dadurch nur den der deutschen Natur innewohnenden Widerwillen gegen jede Art von Hemmung der persönlichen Freiheit. Die Liberalen, durch den Argwohn und die Abneigung der Regierungen von jeder Betheiligung am praktischen Staatsleben ausgeschlossen, folgten der angcbornen Neigung der Deutschen zu Theorien und Systemen und setzten den bestehenden Zuständen ideale Gebilde