Volltext Seite (XML)
I. Reaktionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 567 Stände stören oder unterbrechen mochte, widerwärtig war. Er liebte den Umgang mit Frauen, so daß die Wiener Scandal-Chronik viel von seinen galanten Abenteuern zu erzählen wußte; aber sic bahnten ihm auch häufig die Wege für diplomatische und politische Jntriguen. Auch stand er im Rufe, daß er seine Hände nicht rein gehalten von schmutzigem Gewinn, daß er eben so bestechlich als verschwenderisch gewesen sei. Und die wechselvolle Zeit, in welcher die Glücksgüter so gewaltsamen Wandlungen und Katastrophen ausgesetzt waren, bot tausend Mittel und Wege zu Bereicherungen und zum Gelderwerb. Außer dem Johannisberg mit seinem trefflichen Rheinwein fiel manches werthvolle Befitzihum an das Mettcrnich'sche Familienvermögen. Des Staatskanzlers Hauptstütze bei diesem politischen Erhaltungssystem war der G-G uns wohlbekannte Friedrich Gentz jXHI, 718 s.) ein publicistisches Talent von hoher ' Begabung, von klarem Verstand und nüchternem Urtheil, aber ohne sittliche Grundsätze, ohne Ueberzeugungstreue und Charakterfestigkeit, den sinnlichen Genüßen und einem epicuräischen Wohlleben im Umgänge mit leichtfertigen Weibern ergeben und zitternd vor dem Tode als dem höchsten Ucbcl. Abhängig von Stimmungen und Zeitströmungen, stellte Gentz in seinen zahlreichen Schriften und Abhandlungen ein treues Spiegelbild der wandelbaren Anschauungen dar, von denen die Welt in jenen ereignißvollen Pe rioden durchdrungen und beherrscht war, um schließlich in dem System der Stabi lität, der Dämpfung und Riederhaltung alles geistigen und philosophischen Schaffens, das seinen sinnlichen Neigungen, seiner Wollust, Genußliebe und trägen Weichlichkeit den größten Spielraum gewährte, das Ziel seiner politischen Thätigkeit zu finden. Zur Zeit des Wiener Congresses, wo er als Protokollführer seine formale Meisterschaft in dem klaren lichtvollen Anordnen und Darstellen verwickelter Aufgaben der Staats kunst an Tag legte, nannte ihn Stein einen Menschen „von vertrocknetem Gehirn und verfaultem Herzen". Seitdem diente er auf allen Kongressen und in den Wiener Zei tungen durch seine gewandte Feder der Metternich'schen Politik, arbeitete die Staats- schriftcn aus und verfocht mit oratorischer und stylistischer Sophistik alle Maßregeln des österreichischen Cabincts, alle politischen Gänge und Ziele seines Gönners. Aber seine Staatswcisheit war ebenso unschöpferisch und unfruchtbar wie die seines Meisters, Auch er sah in der Unterdrückung und Absperrung des geistigen Lebens, in der Be schränkung aller populären Kräfte und Institutionen die wirksamsten Mittel und Hebel des Regierens. Es war wohl nur Furchtsamkeit, wenn Gentz, der sich noch im I. 1829 als fünsundsechzigjähriger Wittwer in die neunzehnjährige reizende Tänzerin Fanny Elßler sterblich verliebte, beim Ausbruch der Zulirevolution wieder in liberalere Bahnen einlenkte, sich in die vollendeten Thatsachen zu fügen rieth. Wie einst der Westfälische Friede dem zerrütteten Europa eine neue Ord- Das sn-ben nung geschaffen, so hatte sich der Wiener Kongreß die Aufgabe gestellt, das n!nkUm' durch die französische Revolution und das Napoleonische Jmperatorenreich fo!m-n. aus den Fugen gerissene europäische Staatensystem wieder einzurichten theils durch Herstellung ehemaliger Organisationen, theils durch neue Schöpfungen und Gestaltungen. Dabei herrschte die Grundidee vor, die Ermüdung und Friedenssehnsucht der Welt zu benutzen, um die losgelassenen Geister zu fesseln, die alten Formen und Institute ins Dasein zurückzurufen, die Vorstellungskreise, in denen die früheren Geschlechter sich bewegt, wieder zur Geltung zu bringen, aus den zerschlagenen und zerstreuten Steinen einen neuen Staats- und Gesell schaftsbau aufzuführen, der mit dem zertrümmerten so viel als möglich in Ueber-