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IV. Umsturz und Neubau. 517 Wegfall. Die bedeutsamsten staatlichen Lebensäußerungen waren der Gesetzgebung der Tagsatzung entzogen und der particularistischcn Ordnung durch die Cantone anheim gegeben ; freiwillige Vereinbarung unter den einzelnen Ständen mußte wie in Deutsch land in den meisten Fragen des öffentlichen Lebens die Stelle gemeinsamer Gesetzgebung einnehmcn. Die Tagsatzung war, wie der deutsche Bundestag, ohne selbständige Exe- cutivorgane, ohne Ansehen und ohne die Macht, irgend welche gemeinsame Interessen zu fördern. Nur das Band eines einheitlichen Heerwesens und eine geschlossene Stellung dem Auslande gegenüber kam in der Schweiz schärfer zum Ausdruck als in Deutschland. Ueber die Orientfragen wurde keine Verständigung erzielt. Zwar legteOn-n«. Kaiser Alexander dem Congreß einen Entwurf vor, wonach sich die Mächte insgcsammt verpsiichtcn sollten, für die Menschenrechte der Rajah einzutreten, Rußland insbeson dere als Protector der Orthodoxen, Oesterreich und Frankreich als Beschützer der La teiner. Allein Oesterreich mochte sich damals mit den türkischen Angelegenheiten nicht befassen, wies aber eben dadurch die russische Politik auf die Laufbahn, die sic seitdem rastlos als Ziel verfolgte. Eine Garantie für den Besitzstand der Türkei zu leisten, ver weigerte Alexander. Die Orientfrage wurde damit zu den vielen andern ungelösten Ausgaben des Congresses gelegt, obwohl die Wirren und Gräuel, die sich gerade da mals wenige Tagereisen von Wien abspielten, eine dringende Mahnung hätten sein müssen, dem Chaos und der Anarchie in dem Osmanenreiche durch europäische Ord nung entgegenzutreten. 3. Die Gründung de» deutsche» Bunde». Die territorialen Auseinandersetzungen waren endlich zu einem leidlichen Du d-uische Abschluß gekommen. Noch aber lag die Frage, wie sich Deutschland als Ge- sammthcit constituiren werde, völlig im Dunkel. Die Nation in ihren edelsten und patriotischsten Vertretern verlangte einen höheren Preis der kriegerischen Er hebung als ein loses Gefüge selbständig und eifersüchtig neben einander stehender Staaten mit der unbeschränkten Machtfülle des Napoleonischen Souveränetäts- begriffs. In welcher Form aber das nationale Band den unendlichen Schwie rigkeiten zum Trotz wiedcrhergestcllt werden sollte, darüber wogten die Ansichten wirr und unklar, selbst in erleuchteten und staatsmännisch denkenden Köpfen hin und her. Phantastische Projekte, ideale Träume, begeisterte Wünsche und Hoff nungen schwirrten durch die publicistische Welt und setzten sich in fast rührender Unbefangenheit über die Schwierigkeiten der Praxis hinweg, die ihre nüchterne, reale Existenz doch auf Schritt und Tritt niedcrdrückend genug kundgaben. An einer durchgearbeitetcn öffentlichen Meinung, an klaren politischen Begriffen, an schöpferischen staatsbildenden Gedanken fehlte es diesem träumerischen Ge schlecht«: noch allzusehr. Alte romantische Erinnerungen verschmolzen sich wun derbar mit Freihcitsideen, die der Zeit voraneilten. Der fürstliche Absolutis mus und Particularismus nicht allein war daran schuld, daß der deutsche Ver fassungsbau so küinmerlich ausficl, sondern auch die Unklarheit des politischen Denkens und Fühlcns in der Nation selbst, die zwischen überschwänglichen Hoff nungen und trüber Resignation haltlos hin und her schwankende öffentliche Meinung. Wer die reiche publicistische Literatur der Zeit durchmustert, der wird