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490 X. Europa unter Bonapartischem Einfluß. die einst vor der Revolution in die Nachbarlande sich geflüchtet, die durch ihr wüstes Treiben, ihre Spiel- und Streitsucht, ihre Ausschweifungen und Ver schwendungen, ihr Betteln und Schuldenmachen die ganze sittliche Verderbniß des alten Frankreich in erschreckender Weise an den Tag gelegt, die sich in allen Ländern um Hergetrieben und insbesondere in der „Pfaffenstraße" am Rhein ein so trauriges Andenken hinterlassen hatten; von jener Bande war die Mehrzahl derer, die nicht zu Grunde gegangen oder gestorben waren, während der Napo- leonischen Zeiten mit Bewilligung oder Connivenz der Regierung zurückgekehrt. Aber noch immer waren viele Unversöhnliche fern geblieben und hatten sich um die Bourbon'schen Prinzen, die Grafen von Provence (Lille), Artois, Conds geschaart. ' Der erste, der sich seit dem Tode des Dauphin den Titel Ludwig XVIII. bcigelegt und von den Royalisten und Ausgewanderten als rechtmäßiger König von Frankreich geehrt ward, hat, wie uns bekannt, sich nicht an den conspirato- rischen Umtrieben betheiligt, die so viele Royalisten ins Verderbe» gestürzt. Aus seinen wechselnden Aufenthaltsorten in Verona, Blankenburg, Mietau, War schau durch französische Einflüsse und Machtgebote vertrieben und endlich in England eine Zufluchtstätte suchend, hat er sich begnügt bei jeder Gelegenheit durch Manifeste, Erklärungen und Schriftstücke aller Art seine Rechte und An sprüche zu wahren, nur selten den veränderten politischen Zeitideen einige Rech nung tragend. Unkriegerisch von Natur, ohne Thatkraft und Unternehmungs geist und so schwerfälligen Körpers, daß er schon in jungen Jahren kaum ein Pferd besteigen konnte, machte „der Prätendent" kaum Versuche auf dem Wege der Gewalt sich die Rückkehr zu erkämpfen; aber ebenso wenig war er zu einer Entsagung, zu einem Aufgeben seines legitimen Erbrechts zu bewegen. Er war tete mit Geduld und Gelassenheit ab, bis die Umstände sich ändern würden, mehr auf die Prinzipien seiner Sache als auf die Hülfe des Auslandes bauend, auf das er stets mit Mißtrauen blickte, und mit der ihm eigenen Klugheit und schlauen Verstellungskunst in scheinbarer Resignation dem Schicksal sich ergebend. Anders sein Bruder Karl. Wir wissen, daß der Graf von Artois, der nach manchen Irrfahrten seinen bleibenden Aufenthalt in England nahm und meistens in dem Edinburger Schloß Holyrood residirte, den Mittelpunkt der royalistischcn Komplotte bildete, welche theils durch Aufstände, theils durch Verschwörungen einen Umsturz der Dinge herbeizuführen suchten. Seine Verehrer feierten ihn als den ritterlichen Kämpen des Königthums, und er selbst sprach viel von „zu Pferde steigen" und berief sich gern auf das Beispiel des Ahnherrn Heinrich IV. Aber wie wenig stand sein Benehmen daniit in Einklang! Den kostbaren Degen, den ihm Katharina II. als „symbolisches Geschenk" verehrt hatte, verkaufte er in London an einen Juden, und wie kläglich seine Haltung gegenüber den Insur genten der Vendee und den Emigranten auf Quiberon war, haben wir früher erfahren (XIII, 963 f.).