IV. Umsturz und Neubau. 467 Nordheer warfen mit leichter Mühe das ganze Königreich Westfalen über den Hausen. Oberstlicutenant v. d. Marwitz überfiel Braunschweig, wo er mit Begeisterung empfangen ward. Mit großer Kühnheit wagte sich der Kosaken- general Tschernitscheff sogar bis nach Kassel, der Residenz König Jerome's, der eilig die Flucht ergriff. Die Stadt wurde beschossen und capitulirte ohne ernsten Widerstand; die Bewohner begünstigten offen die Russen; die westfäli schen Truppen weigerten sich vielfach, gegen dieselben zu fechten; Desertionen aus ihren Reihen zu den Verbündeten gehörten längst zu den gewohnten Erschei nungen. Der immer wachsende Druck hatte die Erbitterung und Verzweiflung des Volks aufs Höchste gesteigert. Beim Einzug in die Stadt erklärte Tscher- l. v-»br. nitscheff das Königreich Westfalen für aufgelöst, ein Vorgang, der eine unge heure Wirkung in ganz Deutschland hatte. Freilich zogen die Russen in we nigen Tagen aus der vorgeschobenen Stellung wieder ab und Jerome konnte noch einmal für einige Tage nach Kassel zurückkehren. Aber die Schwäche der Napoleonischen Schöpfungen in Deutschland lag nach solchen Vorfällen klar vor Augen. Aehnlichc Erfolge wurden gleichzeitig an der untern Elbe und Weser erfochten, ohne daß der in Hamburg stehende Marschaü Davoust mit seiner ge wohnten Energie dagegen ausgetreten wäre. In dem Gefecht an der Göhrde, i», S-pib«. unweit Lüneburg, wurden die Franzosen unter Pechcux von dem General von Wallmoden blutig aufs Haupt geschlagen. In einem kühnen Streifzug bemäch tigte sich General Tettenborn mit Kosaken und Freiwilligen der Hansestadt Bremen, welche die Befreier mit Jubel begrüßte. 15. vc«b.. Unter dem Eindruck des siegreichen Vordringens der Verbündeten lockerte sich mehr und mehr der Rheinbund, das Denkmal der Napoleonischen Macht ' ^ diesseits des Rheines, und es drängte sich damit die Frage nach der künftigen Gestaltung der deutschen Verhältnisse in den Vordergrund. Allein schon in dieser Zeit, da sich die Befreiung aus der Knechtschaft eben erst vollzog, ließ sich erken nen. daß der nationale Gewinn aus der deutschen Erhebung hinter den Hoff nungen der Patrioten weit Zurückbleiben werde. Die Pläne einer festen centra- lisirten Organisation Deutschlands, die man zur Zeit des Kalischer Bündnisses gehegt und in den stolzen Worten der Proklamationen ausgesprochen hatte, traten mehr und mehr in den Hintergrund. Das Zurückweichcn von dem Ka- lischcr Programm mit seinen nationalen Bestrebungen war die Voraussetzung der österreichischen Allianz und ist seitdem Schritt für Schritt weiter fortgesetzt worden bis zu den Schöpfungen des Wiener Congresses. Die deutsche Politik Mctternich's drängte immer mehr den Geist zurück, in welchem die preußischen Patrioten die neue Ordnung in Deutschland ursprünglich vollziehen wollten. Steins Stellung als russischer Bevollmächtigter war nicht derart, daß er seinen Reformplänen hätte Eingang verschaffen können, und Hardenberg war nicht immer von Schlaffheit und Nachgiebigkeit freizusprechen. Der Sieg des deutschen Programms, wie es Metternich vorschwebte, trat bereits in den 30'