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IV. Umsturz und Neubau. 435 tragen konnte, selbst Knaben und Greise, entzogen sich den gewohnten Beschäfti gungen und den Armen der Lieben, um sich der Befreiung des Vaterlandes zu widmen. Studenten und Lehrer verließen die Hörsäle, Beamte ihre Stellen, junge Edelleute den elterlichen Wohnsitz; sie ergriffen Flinte und Tornister und stellten sich mit großartiger Selbstentsagung als gemeine Krieger in eine Reihe mit dem Handwerker, der aus der Werkstätte ausgezogen, und mit dem Bauer, der die Pflugschaar mit dem Schwerte vertauscht hatte. Selbst mehrere Mädchen dienten bei den Freiwilligen, ohne daß ihr Geschlecht erkannt worden. Die vaterländische Erhebung war mit einem tiefen religiösen Ernst verbunden; aus der Predigt und vom Genuß des Abendmahls hinweg zogen die Freiwilligen in den „heiligen" Krieg; die friedlichen Prediger auf den Kanzeln verwandelten sich in feurige Rufer zum Streit. Wer nicht ins Feld ziehen konnte, theilte von seiner Habe mit; auch die Aermsten im Volke brachten dem Vaterlande bereit willig ihre Gaben und Opfer dar. Freudig wurden die größten Anforderungen für Verpflegung und Ausrüstung der Truppen erfüllt, und was an freiwilligen Liebesgaben auf dem Aliar des Vaterlandes niedergelegt wurde, übertraf die kühnsten Erwartungen. Man kann noch heute die Verzeichnisse der patriotischen Spenden, die ein Jeder nach seinen Kräften brachte, nicht ohne Rührung durch- mustern. Die Gaben an baarem Gclde, an Schmuck und Kostbarkeiten, an den Bedürfnissen zur Ausrüstung und Verpflegung der Krieger, zur Heilung der Verwundeten und Kranken, flössen in immer steigender Fülle zusammen. Tau sende von goldenen Trauringen wurden cingeschmolzen und den Spendern ein Eisenreif mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen", eingehändigt. Die rüh rendsten Gaben wurden dargebracht; ein schlesisches Mädchen, Ferdinande von Schmettau, opferte ihr prachtvolles Haar und wurde dafür weithin ge feiert. Frauenvcreine traten ins Leben und leisteten bald in den Lazarethen die besten Dienste. So bereitete sich ein ganzes Volk, jeder nach seiner Kraft, zum heiligen Kriege vor. Die lang geknebelte Presse durfte jetzt ihre Schwingen wieder regen und Di-v->lri°a. half wacker mit an dem vaterländischen Werke der Befreiung. Patriotische Auf- rufe, Gedichte, Flugblätter, Schmäh - und Spottschriften gegen Napoleon er schienen in massenhafter Zahl und steigerten die allgemeine Erregtheit; es erwuchs eine populäre Literatur, welche die Stimmungen und Ereignisse des Tages be gleitete, wie einst im Reformationszeitalter. Edle Vaterlands- und Freiheits sänger griffen in die Leier und strömten die Gluth ihrer kriegerischen Begeisterung, ihres patriotischen Zornes in Liedern aus, die in ihrer ursprünglichen Kraft, ihrem überwallcnden Gefühl, ihrer oft ans Wilde grenzenden Leidenschaft noch heutigen Tags das Gemüth mächtig ergreifen. Wer kennt nicht die frischen begeisterten Reiter-, Schlacht- und Freiheitslieder Körner's, die „geharnischte Sonette" Rückert's, die schwermüthigen Weisen deS ritterlichen Max von Schenkendorf von Kaiser und Reich, die wilde haßerfüllte „Hermannsschlacht" 28*