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310 ^ Europa unter Bonapartischcm Einfluß. und Rangstcllung war noch nicht vergessen. Dem Generalstatthalter wurde als Ersatz für seine zerronnene Hoffnung eine andere Krone in Aussicht gestellt. Aber die Täuschung traf ihn schwer. Er erkrankte und verließ Madrid vor der Ankunft Joseph's. Ein militärischer Fürst wie Murat wäre unter den obwal tenden Umständen auf dem spanischen Throne mehr am Platze gewesen als der Erstgeborne der Bonaparte's. Von König Ludwig von Holland, an den Na poleon früher einmal gedacht hatte, war jetzt keine Rede mehr. Joseph von Neapel, ein wohlwollender verständiger Herr, aber weit entfernt von dem Ehr geize, dem Thatendrang und dem Genie des jüngeren Bruders, folgte mit wider strebender Seele dem Rufe Napolcon's zu der schwindelnden Höhe, auf die ihn die dämonische Kraft des Imperators emporhob. Von weicherem Stoffe ge bildet und von milderer nachgcbcndcr Natur, gehorchte er dem gewaltigen Geiste wie seinem Schicksal. Er reiste nach Bayonne, wohin der Kaiser die Spitzen der spanischen Monarchie, Glieder des hohen Adels, des Klerus, der Beamtenwelt, des Militärs, Stadträthe und andere Notablen aus allen Provinzen berufen hatte, um als Vertreter der Nation die Zukunft des spanischen Reiches nach dem Plane Napoleon s zu bestimmen. Diese Generaldeputation oder „Constitutions- Junta", die aus cinhnndcrtfünfzig Mitgliedern bestehen sollte, in der That aber nur einundneunzig Deputirte umfaßte, nahm den vorgelegten VcrfassungScntwurf 2un>undJu«nach mehrwöchigen Discussionen mit einigen Abänderungen an und leistete dem König Joseph von Spanien den Eid der Treue. Unter den Versammelten be fanden sich Männer vom höchsten Rang und Ansehen: die Hcrzöge von Ossuna, von Jnsantado, von Frias, der Fürst von Castelfranco, die Grafen von Santa Colonna und von Fcrnan-Nunez, daneben Bischöfe, frühere Staatsräthe, Hof- leutc, hohe Beamten, selbst ein Inquisitor Raimnndo Cthenard y Salinas. Der neue König ernannte ein Ministerium, worin die intelligentesten und gc- achtetsten Staatsmänner liberaler und patriotischer Gesinnung den verschiedenen Geschäften des öffentlichen Lebens Vorständen und reiste am 9. Jnli von Bayonne nach seinem neuen Reiche ab, begleitet von mehreren Regimentern kaiserlicher Truppen zu Pferd und zu Fuße, von den Gliedern der Constitutions-Junta und einem glänzenden Gefolge spanischer Notablen von Rang und Auszeichnung in mehr als hundert Wagen. Napoleon gab dem Bruder das Geleite bis zur Bidassoa; an diesem Grenzflüsse nahmen sic mit einer Umarmung Abschied von einander. Am 20. Juli zog Joseph in Madrid ein. Im Moniteur konnte man lesen, daß seine Reise durch Spanien nur eine einzige Huldigung gewesen, daß sein Einzug in die Hauptstadt unter dem Zujauchzen einer unermeßlichen Men schenmenge erfolgt sei. Und in der That waren die Herzen gehoben. Versprachen denn nicht die Minister, die unter dem Vorsitz des verehrten Urquijo den Ver- safsungsstaat ins Leben einführen sollten, ein Jovellanos für das Innere, ein Cevallos für das Auswärtige, ein O'Farril für den Krieg, ein Cabarrus für die Finanzen u. A.. eine neue Aera der spanischen Geschichte, eine Wiedergeburt