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I. Der spanische Erbfolgekrieg. 783 In seinem Innern war der König gleich Anfangs entschlossen, die durch Di-Sonck-i das Schicksal dargcbotene Gelegenheit, die dynastische Ehre seines Hauses Mch?» »°n und die Vorthcile und Machtstellung Frankreichs zu erhöhen, nicht aus der ^"'°" Hand zu geben. Doch hielt er einige Tage mit seiner Meinung zurück. Erst nach einigen Besprechungen mit Frau von Maintenon und seinen Näthen, wobei der Herzog von Anjou selbst feurig für die Rechte des Blutes und des Erbes eingetreten. traf er die Entscheidung zu Gunsten seines Enkels. „Die Macht- Vergrößerung von Frankreich, das kirchliche, das dynastische Interesse wirkten zusammen, um den König zu vermögen, daß er über die Verpflichtungen, die er gegen die Seemächte eingcgangen, hinweg sah und sich zu der Annahme des Testaments entschloß." Vier Tage später erfolgte in Versailles in einer feierlichen Vorstellung vor dem gcsammten Hof die Erklärung, daß Philipp von Anjou König von Spanien sei. Ludwig selbst behandelte seinen Enkel dem neuen Range gemäß als einen Höheren; er gab ihm bei jedem öffentlichen Auftreten die rechte Seite und den Vortritt vor dem Dauphin. Er war sichtlich gehoben durch die Wendung. Bis zur Einschiffung, die nicht sogleich bewerkstelligt werde» konnte, ertheilte Ludwig dem neuen König Anweisungen und Ermahnungen über seinen Beruf, über die Lebens- und Negierungsweise, die er zu befolgen, über die Stellung, die er zu seinen Unterthanen und zu Frankreich cinzunehmen habe. Und faßte man die Persönlichkeit ins Auge, so konnte man die Wahl nur billigen und loben. Philipp von Anjou war ein milder wahrheitliebender Fürst von unbescholtenen Sitten, freigebig und zuverlässig, dessen ganze Natur das spanische Eeprüge trug, das von Mutter und Großmutter auf ihn übergegangen war. Selbst der melancholische Zug und der lenksame, mehr weibliche als männliche Charakter, der mit den Jahren immer schärfer hervortrat, erinnerte an die letzten Habsburger in Madrid. Als er am 23. Januar des folgenden Jahres noi. bei Fuentarabia unter Kanonendonner den spanischen Boden betrat und am l8. Februar in Buenretiro von dem Cardinal-Erzbischos Portocarrero, dem ehrwürdigen Greise mit weißem Haare, der dem jugendlichen Monarchen als Mentor zur Seite stehen sollte, feierlich empfangen ward, da schien es, als ob die große Frage der Erbfolge ihre befriedigende Lösung gefunden hätte. Spanien lckbst hatte über seine Zukunft bestimmt; die Einheit und Integrität des Reiches, Kelche die Nation als ihr heiligstes Palladium betrachtete, war gerettet. Und auch im Auslande schien man sich in die vollbrachte Thatsache finden Das u»s- zu wollen. Kaiser Leopold allerdings war entschlossen, das ihm nach alten Hausverträgen wie nach der Verfügung Philipps IV. zuständige Recht auf die panische Monarchie selbst mit Waffengewalt zu behaupten, und die so glücklich beendigten Türkenkricge hatten sein Selbstvertrauen und seine Autorität wesentlich Weigert. Aber die österreichische Politik hatte in der Erbfolgefrage so viele Wandlungen gemacht, und die Langsamkeit und Bedächtigkeit des Wiener ^abinets war so weltbekannt, daß die übrigen Mächte kein rechtes Vertrauen