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774 Zcistesleben. cinzuführcn. Und schvn mar der Mann gefunden, der diese Aufgabe zu lösen bemüht war — Christian Thoinasius. Unterstützt van Wolf und derLcibnitz-Walfischen Philosophenschule, die uns bereits bekannt geworden, und im Bunde mit Spcncr und Hermann Francke, die wir an einem andern Orte als Begründer eines neuen kirchlichen Lebens kennen lernen werden, unternahin dieser Reformator der deutschen Lehrart einen Kampf gegen die durch Herkommen und Gewohnheit geheiligten Mißbräuche, der nach vielem Arbeiten und Ringen der deutschen Sprache auch in den Lchrsälcn und in der Wissenschaft eine Freistätte und zuletzt den Sieg gewann. Was schvn BalthasarSchupp in Schulpsorte vergebens in seinen „lehrreichen Schriften" empfohlen und angcstrebt, setzte Thoinasius mit Erfolg durch. mbb—lTLt? Christian Thoinasius wagte zuerst den großen Kampf wider verjährte Vor- 'urtheile. Als Privatdocent in Leipzig schrieb er ein deutsches Programm (DiscourS), worin er die Nation ausforderte, im Gebrauch und in der Ausbildung der Mutter sprache die Franzosen nachzuahmen, und hielt dann philosophische Vorlesungen in deutscher Sprache. Uncrschüttert durch das Geschrei der Pedanten, die in der Neuerung eine Minderung ihres Ruhms erblickten, und der strenggläubigen Theologen, die in seiner freien Richtung Gefahr für Zion fürchteten, schritt Thoinasius auf der betretenen Bahn ruhig fort. Durch deutsche Vorträge weckte er den Geist der Jugend; durch populäre Werke über wissenschaftliche und philosophische Gegenstände bemühte er sich unter dem Volke Licht und Aufklärung zu verbreiten; durch Begründung der ersten deutschen Zeitschrift („Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch Vernunft- und gesetz mäßige Gedanken oder Monatgespräche über allerhand, vornehmlich über neue Bücher" 1688—90), worin mit Witz und Verstand die neuesten literarischen Erscheinungen gewürdigt wurden, suchte er eine neue Periode der Literatur zu begründen und das barbarische Schullatcin, das bisher aus dem Katheder und in allen Lehrbüchern herrschte und dem er die Schuld beimaß, daß die Deutschen hinter andern Nationen in der Bildung zurückständen, zu verdrängen. Als der „Jrrlehrer" dem Zorne seiner Gegner I6S3. weichen und unter dem Geläute des Armcnsündcrglöckchens Leipzigs Mauern verlaßen mußte, begab er sich an der Spitze einer Schaar treuergebencr Studenten nach Halle und führte dadurch die Gründung einer neuen Universität herbei. Hier konnte er als Professor der Rechte mit weit mehr Nachdruck die Bahn verfolgen, die er in Leipzig Ungeschlagen. Alles, was einer freien Entwickelung hemmend im Wege stand, ward von ihm mit den Waffen des Witzes und Verstandes bekämpft. Die schmachvollen Hexenprocesse wurden durch seine lateinische, später ins Deutsche übersetzte Abhandlung äs orinaino Lcksxias so mächtig erschüttert, daß fortan die meisten Gerichtshöfe sich schämten, dergleichen vorzunchmen. Weniger erfolgreich waren seine Angriffe gegen die Folter. Noch über ein halbes Jahrhundert bestand dieser Gräuel, bis der hochsinnige Markgraf Karl Friedrich von Baden den Anstoß zur Entfernung gab. Thoinasius und Spener trafen darin zusammen, „daß sie nach der Befreiung des Geistes von Schul- und Facultätszwang, von starrer Satzung und todtein Formelwesen, von Pedanterei, Vorurtheil und nutzloser Wortgclchrsamkeit strebten; daß sie den Glauben und das Wissen innerlich zu befruchten und in lebendiges Wirken übcrzulciten, der Rohheit des Zeitgeistes in Sitten, Neigungen und Geschmack entgegen zu arbeiten suchten" und daß sie vor Allem bemüht waren, durch Ausbildung, Veredelung und Verbreitung der deutschen Sprache die Kluft zwischen dem Volk und der vornehmen und gelehrten Well auszugleichen, die zwischen den höheren und geringeren Ständen aufgcrichtete Scheide- mand zu durchbrechen und niederzurcißm.