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752 I'. Literatur und Geistesleben. Kunstübung Schuld gegeben; allein warum hat ihn denn die Poetenzunft als ihren Großmeister anerkannt, den unberufenen Chorführer nicht wcggcstoßen? In Opitz lebte, wie bemerkt, immer noch eine dunkle Ahnung, daß das Feuer der Poesie vom Himmel stamme, daß der Dichter nicht allein durch Regeln und Uebung hcrangcbildet werden könne, daß ihm von Natur eine poetische Kraft inwohnen müsse. Wenn nun die Nach ahmer und Nachbeter den Zusammenhang zwischen Himmel und Erde aus dem Gesichte verloren, wenn sic auf seine Worte schwuren, seinen Beispielen und Vorschriften folgten, so war dies ein Zeichen, daß jenem Geschlecht- dichterische Kraft und Originalität ab ging, daß ihr Auge und ihr Sinn zu stumpf war, um die wahre Himmelstochter zu erkennen und ihr zu dienen. Nur ein mächtiger Genius vermag poetische Schöpfungen hcrvorzubringen, die ihren göttlichen Ursprung in sich tragen und Begeisterung erwecke» für das Schöne und Erhabene; aber eine solche genialische Kraft wohnte nicht in der Seele des schlesischen Dichters; Opitz war ein empfängliches und anregendes Talent, und mit dem Pfund, das ihm die Natur verliehen, hat er als verständiger Haushalt« gewirthschaftct. 4. Deutsche Lyriker neben und nach Opitz. Der neue Kunstgeschmack erlangte bald die Herrschaft in Deutschland; Opitz selbst erlebte noch die schönsten Triumphe seiner Wirksamkeit. Alle Lehrbücher über Dichtkunst waren im Grunde nur systematische Ausführungen des Opitzschen Entwurfs; selbst d« issi^Äün "Wegweiser zur deutschen Dichtkunst" des verständigen Büchner, eines Wittenberg« Professors und Poeten, hielt sich an die Grundgedanken seines schlesischen Zeitgenossen. '^Dichtrr* Besonders fand Opitzens corrccte Verstandespoesie in dem protestantischen Norden ^ ' Beifall und Nachahmung, während derSüden und besonders die katholische Welt sich noch > einige Zeit abwehrend verhielten. Jacob Balde aus Ensisheim im Elsaß, in Miinche» und anderen Städten Baierns als Jesuitenprediger thätig, blieb der lateinischen Dicht kunst treu, in der auch Opitz seine ersten Versuche nicdergclegt hatte, und verfaßte eine große Anzahl lyrischer Gedichte, religiösen und weltlichen Inhalts, die von hoh« Sprachgewandtheit und poetischem Crfindungssinn Zeugniß geben, aber in ihrem Schwulst und ihrer erkünstelten Liebesglut die italienische Nachahmung verrathcn. Weniger gelangt» 1592—die deutschen Verse. Ein anderes Mitglied des Jesuitenordens Friedrich v. Spec, einer altadeligen Familie am Niederrhein entsprossen, derselbe, der zuerst durch sein An kämpfen gegen die Hexenprozesse sich um die Menschheit verdient gemacht hat sXI., 1042), bringt in den lyrischen Gedichten, die nach seinem Tode in zwei Sammlungen als „Trutz- . Nachtigall, oder geistlich-poetisch Lustwäldlein" und als „Güldenes Tugendbuch" in Köln herausgegeben wurden, die sinnlich-religiöse Anschauungsweise des jesuitischen Katholi- cismus mit Anklängen an das weltliche Volks- und Liebeslied und an die mittelalterige Mystik zum Ausdrucke. Ein Mann von Gefühl und Natursinn hat Spee ähnlich dc» italienischen Malern der Zeit die ncukatholische Sentimentalität und die christlichen Jdcal- gestalten in weichen verschwimmcnden Farben und verhimmelnden Tönen in seine Poesie cingeführt, mit einem Reichthum von Bildern, Verzückungen und mystischen Vorstellun gen, die eine überreizte Phantasie, ein Schwelgen in landschaftlichem Naturleben und sinnlich-religiöser Gesühlseligkeit, eine „geistliche Wollust", erkennen lassen. Daß ab« auch Spee dem Verlangen nach neuen metrischen Formen und Gesetzen nachzugebcn stv genöthigt sah, auf Beobachtung des Silbemnaßcs und des Accents drang, beweist, »»e richtig Opitz den Geschmack und das Bedürfniß der Zeit erkannt hatte. Wie verschiede» ist aber die weiche sinnlich-schwärmerische Naturanschauung des rheinischen Jesuilc»- der Alles in den Dienst seiner religiösen Vorstellungen und süßlichspiclendcn Christ»-'