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III. Deutsche Wissenschaft und Dichtung. 741 Selbstbestimmung und damit die Moralität selbst aufzuhebcn; die Freiheit, nicht als Exemtion von der Gesetzmäßigkeit, sondern als Selbstcntschcidung nach dem erkannten Gesetz gehöre zum Wesen des Geistes. Der Raturlauf sei so von Gott geordnet, daß er jedesmal dasjenige herbeiführc, was sür den Geist das Zuträglichste sei". Die Harmonie, die Leibniz in dem Weltall erkannte, die ihn zu der optimistischen Anschauung führte, daß das Nebel und das Bose weitaus von dem Guten überwogcn na,- ThäMz- wcrdc, fand er auch in seinem Innern; ihin erschien die Wcltordnung als eine glückliche ^ heitere Nvthwendigkcit, „mit Grazie umzogen". „Leibniz war ein edler und liebens würdiger Charakter", sagt Zeller, „von biederem offenen Wesen, wohlwollend und menschenfreundlich, feingcbildct und geistreich im Umgang, ein Muster philosophischer Heiterkeit und Milde, voll Gefühl für das Wohl und die Vorzüge seines Volks und voll Entrüstung über die unwürdige Rolle, zu der es in jener Zeit herabgcdrückt war, von warmer und aufrichtiger Frömmigkeit, wenn auch kein fleißiger Kirchcnbesuchcr". Ohne Familie lebte er nur der Wissenschaft, der Erforschung der Wahrheit, der Beförderung der Humanität. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, die er um von dem Auslande ver standen zu werden, in lateinischer oder französischer Sprache verfaßt hat, wurden theils in gelehrten Zeitschriften Deutschlands und Frankreichs theils in monographischen Auf sätzen oder in Briefen und Sendschreiben niedcrgclcgt; die bedeutenderen, wie die „Ver suche einer Thcodicec über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Ucbcls", wie die „neuen Versuche über den menschlichen Verstand" gegen Locke, wie die „Monadologie" und die „Prinzipien von der Natur und der Gnade" u. a. sind auch in's Deutsche und in andere Sprachen übersetzt. Er selbst mochte cs tief beklagen, daß er äußerer Rücksichten halber sich seiner Muttersprache nur selten bedienen konnte; denn er selbst hat über die deutsche Sprachwissenschaft treffliche Gedanken ausgesprochen, und wo er seiner Feder freien Lauf läßt und sich von dem zopfigen Hof- und Kanzleistil der Zeit losmacht, ein reines, klares und körniges Deutsch geschrieben. Leibniz war ein Universalgenie der Wissenschaft, urthcilt K. Fischer. „Eine solche Fülle und Genialität des Wissens war seit Aristoteles nicht mehr in einem einzigen Kopf vereinigt. Seine Berufswisscnschaft ist die Jurisprudenz, die er mit reformatorischen Ideen durchdringt; sein eigentliches Genie ist die Philosophie, deren Geschichte er mit einer gründlichen Gelehr samkeit umfaßt und die er zugleich niit einem neuen Geist umbildet. Physik, Mechanik, Mathematik treibt er mit Vorliebe und Originalität, er ist in diesen Wissenschaften, welche die Herrschaft des Zeitalters führen, nicht bloß einheimisch, sondern erfinderisch thätig. Dabei ist er zugleich Diplomat, Publicist, Politiker, Geschichtschreiber und Biblio thekar. In Paris beschäftigen ihn gleichzeitig Kriegspläne für Ludwig XIV., mathe matische Studien, mechanische Projekte und diplomatische Friedcnsunterhnndlungen. 3n Hannover beschäftigen ihn gleichzeitig Bergbau, Geologie, Nationalökonomie, Münz wesen und Staatsschristcn, im Interesse seines Fürsten. In allen Stücken ist er sclbst- thätig, durchdringend, erfinderisch. Er sucht eine neue universelle Philosophie, ein der Vernunft consormes Christcnthum, eine diesem Lhristcnthum entsprechende Kirche, befördert die allgemeine Civilisation, verwaltet Bibliotheken, gründet Akademien und ist daneben fortwährend mit der Erfindung der Wcltschrist beschäftigt." Leibniz hat sich sorgfältig gehütet, dem Offcnbarungsglauben cntgcgcnzutreten; i»r dennoch wollte kein Geistlicher seinem Leichenbegängnisse beiwohnen. Eine Lehre, welche »iw Kirch«. Aufklärung und Tugend für die Merkmale der wahren Religion erklärte, in der Sittlichkeit die höchste Stufe der Frömmigkeit erkannte und den Glauben nur in Ucbcreinstimmung »nt Vernunft gelten lassen wollte, in deren Weltplan alle Wunder, mithin auch die Menschwerdung Gottes keine Stätte fanden, konnte vor der Orthodoxie nicht be stehen. Sie entdeckte unter der philosophischen Hülle die Keime, die zu dem späteren