Volltext Seite (XML)
III. Deutsche Wissenschaft und Dichtung. 739 Phil, von Schönborn gezogen. In der Nähe dieses gebildeten und wohlwollenden Fürsten verbrachte Lcibniz fünf Jahre (1667—72) theils mit publicistischcn, thcils mit juristischen Arbeiten beschäftigt. Wir wissen, daß er im Aufträge Boincburgs den Plan entwarf, Ludwig XIV. zu einem Unternehmen gegen Aegypten zu bewegen, durch welches die Eroberungslust dieses Monarchen von Deutschland und Holland abgelenkt und auf Kosten der Türkei eine Annäherung Frankreichs an Oesterreich hcrbcigcführt werden sollte. Die diplomatische Mission hatte keinen Erfolg für die Politik; aber für den deutschen Rcchtsgclchrtcn war sic von Wichtigkeit: er verlebte vier Jahre in der Welt stadt an der Seine, ein Aufenthalt, der für seinen Bildungsgang von der größten Bedeutung war. Huygcns war sein Lehrer in der höheren Mathematik; mit der fran zösischen Sprache und Philosophie machte er sich vertraut. Nach seiner Rückkehr trat er in die Dienste des Herzogs von Braunschwcig-Lüneburg, und lebte nun vierzig Jahre lang als Bibliothekar und Rath in Hannover, wo er das Vertrauen des zum Kurfürsten er hobenen Herzogs Ernst August genoß und an dessen Gemahlin, der geistreichen Kurfürstin Sophie eine wohlwollende Gönncrin fand. Die Berliner Akademie wurde von ihm ge gründet: verschiedene Höfe bezeigten ihm ihre Anerkennung durch Standeserhöhung, Titel und Pensionen, alle gelehrten Gesellschaften durch Ernennung zum Mitglied. — Lcibniz war in allen Wissenschaften, im klassischen Nltcrthum und im Mittelalter, in dm Schriften der Theologen und Philosophen gleich bewandert und traf mit wunder barem Tact und Scharfsinn stets das Richtige, an Fleiß und Thätigkeit kam ihm Niemand gleich. Das Studium der Jurisprudenz, dem er sich zuerst gewidmet, führte ihn zu dm gründlichsten Untersuchungen über Staats- und Völkerrecht, den Historikern zeigte er durch seine umfassenden Quellenforschungen über die Geschichte des Hauses Braunschweig, wie viel noch über die vaterländische Geschichte aus dem Staube der Archive zu ziehen sei; sein großartig angelegtes Werk: „Annalen des deutschen Reichs", das bei dem Tod des Verfassers erst zum Jahr 1005 gediehen war, blieb zum großen Nachtheil der Geschichtswissenschaft über ein Jahrhundert blos Manuseript, bis der vaterländische Sinn unserer Zeit es an das Licht der Ocffcntlichkcit zog. In Maihcmatik und Naturwissenschaften begründete er eine neue Periode; er theilte mit Newton den Ruhm des Erfinders der Integral- oder Infinitesimalrechnung, die er in der ersten, von Otto Menkcn gegründeten, gelehrten Zeitschrift Xots. srn- äitorum bekannt machte, eine Erfindung, durch welche eine völlige Umgestaltung dieser Wissenschaft angebahnt ward. Daß der große englische Physiker und Mathematiker ihm die Priorität dieser wichtigen Erfindung, die aus verschiedenen Wegen aber im Grund gedanken übereinstimmend fast gleichzeitig in beiden Ländern geschah (S. 270), strei tig machte, verbitterte ihm die letzten Tage seines Lebens. Von seinen theologischen Bestrebungen, Einheit der Kirche zurückzuführcn, wird später die Rede sein, seine Pseudonyme Schrift über die Verfassung des deutschen Reichs haben wir früher kennen gelernt (XI, 1030). In der Philosophie hat Lcibniz sich an keine der herrschenden Schulen angcschlofsen, A^r->b- sondern ist unabhängig seine eigenen Wege gegangen. „Er verhält sich zu Bacon und Philosophie. Descartcs nicht als Gegner, denn er will das Gleiche, was sic wollen: eine natürliche ' Erklärung der Erscheinungen, eine rationelle Betrachtung der Dinge; aber er wird auch nicht ihr Schüler, denn er findet jene Erklärung, so wie sie dieselbe gegeben haben, unzureichend und der Ergänzung durch andere, von ihnen vernachlässigte Elemente be dürftig". Der philosophischen Wissenschaft soll ein „allgemeines Inventar aller Kennt nisse" vorausgehcn, der naturwissenschaftlichen wie der historischen. Auf diese gestützt suchte dann Lcibniz an der Hand logischer und mathematischer Beweisführung zur vollen Klarheit und Bestimmtheit des Denkens und zugleich zur Ucbcrcinstimmung mit der 47*