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714 k'. Literatur und Geistesleben. rung, der er sich zuwcndct, nicht in der kirchlichen Rechtgläubigkeit. Das unter dem Titel „Gedanken" (xensäev) nach seinem Tode von seinen Freunden herausgegcbene geistreiche Buch, theils theologischen, theils skeptisch-philosophischen Inhalts enthält nur Bruchstücke dieses großen Werkes, woraus jene absichtlich Alles entfernten, was dem neugeschloffenen „Kirchenfrieden" und dem guten Verhältnisse zu der Geistlichkeit hätte hinderlich sein können. "cau°w lim dieselbe Zeit da Pascal den Entschluß faßte, „nichts weiter sein zu wollen als —i«so. xjn Apostel der tieferen Religion" und sein Genie in stiller Eingezogenheit sich entfalten ließ, reifte in der großen Welt der feine Beobachtungsgeist des Herzogs Francois de la Rochefoucauld. Wir haben den hochgestellten Mann, den Verehrer der schönen Herzogin von Longueville schon während des Krieges der Fronde kennen gelernt, an dem er so thätigen Antheil genommen und von dessen politischen Gängen, Jntriguen und Schachzügen uns seine Memoiren ein so interessantes Bild entwerfen. Man hat diese Denkwürdigkeiten mit den Annalen und Historien des Tacitus verglichen; aber die leichte anmuthigc Erzählungswcise des französischen Feudalherrn gleicht dem herben sinn schweren Stil des römischen Republikaners so wenig wie der Inhalt der Darstellungen und der Charakter der Autoren. Weit entfernt von der stoischen Härte und wcltver- achtendcn Resignation des Römers, lebte der reiche vornehme Edelmann nach Beendigung der bürgerlichen Unruhen mitten in der großen Welt, im Genüsse aller geselligen Freu den und im Umgänge mit den glänzendsten und geistreichsten Männern und Frauen, denen sein Haus zum Sammelplatz diente. Da hatte denn der feingebildete Welt- und Lebemann Gelegenheit genug zu den Beobachtungen, wie sie sich in dem aphoristischen Buch „Reflexionen und Maximen" abspiegeln, einem Buche, aus dem man er steht, wie sehr der Egoismus die Haupttriebfeder der höheren Kreise war; denn die Maximen Rochefoucaulds sind nicht sowohl „Resultate des allgemeinen Denkens" als Kennzeichen der damaligen Sitte. Während Pascals „Gedanken" einen idealen Stand punkt für Geist und Gemüth zu erstreben suchen, sind die Reflexionen des Herzogs kalt, wcltklug, voll Witz und Eleganz aber ohne Glauben an menschliche Tugend und Be geisterung. resÄss" Wenige literarische Erzeugnisse aus dem Jahrhundert Ludwigs XIV. wurden wegen ihrer eleganten Form und lebensvollen Schilderungen so viel gelesen und so sehr bewundert als „die Charaktere" des seinen Weltmannes Jean de la Bruyere. Durch Boffuet als Lehrer eines der königlichen Prinzen empfohlen, hat er sein Leben bei Hofe und in der vornehmen Gesellschaft zugebracht und seine Beobachtungen und Studien als Stoff und Grundlage für seine Schilderungen der menschlichen Charaktere benutzt, wie sie sich in den Sitten, Lebensformen und socialen Erscheinungen der Zeit abspiegelten. Angeregt durch die Charaktere des Theophrast, die er den seinigen in einer französischen Uebersetzung beigesügt hat, macht La Bruyere die Persönlichkeiten, die er sorgfältig studirt, zur Folie eines allgemeinen Sitten- und Zeitgemäldes; aber er begnügt sich nicht mit Umrissen gewisser allgemeinen Formen der menschlichen Denkart und Sitte, wie der alte Peripatetiker, sondern seine Charakterbilder steigen vom Indi viduellen und Einzelnen zum Allgemeinen auf, wodurch sie Leben, Wahrheit und feste Gestaltung empfingen. Alles ist sein beobachtet und mit sicherer Meisterhand gezeichnet, nur daß man mitunter das Gekünstelte und Studirte herausfühlt. Der größte Fehler in den Augen des Weltmannes sind lächerliche Gewohnheiten, denn die Lächerlichkeit ist die Klippe, woran der Mensch in der Gesellschaft scheitert. Durch die Eleganz der Sprache und des Stils hat La Bruyere seinen Restexionen und Charakterzeichnungc» den Stempel rhetorischer Vollkommenheit ausgeprägt; aber an wissenschaftlicher Bedeu tung war er nicht hervorragend. Als er kurz vor seinem Tode in die Akademie aufge-