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I. Frankreichs klassische Literalurperiode. 713 Forschungen eine neue Aera begründet. Vor Allem war, wie wir früher gesehen, der Jansenismus die hohe Pflanzschulc und Werkstätte der Prosalitcratur; aus dem Port royal gingen die vornehmen Geister hervor, welche die nach Form und Inhalt vortreff lichen Werke geschaffen haben, die den damaligen und den nachfolgenden Geschlechtern als Muster der Sprache und des Stils galten. An ihrer Spitze steht Blaise Pascal, der uns schon früher sS. 409) als der^A^i,,^ Widersacher der Jesuiten bekannt geworden ist. Pascal, einer der bedeutendsten Mathe matiker und Physiker, der die Wahrscheinlichkeitsrechnung erfunden und durch seine Untersuchungen auf dem Gebiete der Physik und Mechanik sich in den Naturwissenschaf ten eine hervorragende Stelle erworben hat, dem manche sogar die Priorität der Ent deckung des Gravitationsgesctzes zuschreiben wollten, huldigte Anfangs der Skepsis des Popularphilosophcn Montaigne, des geistreichen Edelmanns aus Pcrigord und Maire s von Bordeaux, der in seinen „Essays" den Glauben der Menschen an alle geltenden Dog men, an alle bestehenden Sitten der Gesellschaft, an alle Einrichtungen des Staats er schütterte und wie sein Vorbild Horaz in dem naturgemäßen Genüsse die einzige Lebens weisheit erkannte. Aber Pascal beharrte nicht auf dem negativen Standpunkt: von der trostlosen Lehre des Philosophen, daß alles Erkennen unsicher und begrenzt sei, sich abwcn- dend unterwarf er sein Urtheil in Glaubenssachen der Entscheidung der Kirche, flüchtete sich in die christliche Mystik und überwand die Ansätze zum Epicureismus durch Ascctik. Sein Ziel war, die Ergebnisse der Wissenschaft und die Bedürfnisse des Gcmüths in eine befreundete Stellung zu einander zu setzen. Beseelt von strenger Wahrheitsliebe, von aufrichtiger religiöser Frömmigkeit und ernstlicher Sittlichkeit nahm Pascal Anstoß an der schlaffen Moral des den menschlichen Schwachheiten und Neigungen allzu sehr Rech nung tragenden Ordens und richtete unter dem Namen Montalto gegen die Väter Jesu jene „Provinzialbriefc", die bis auf den heutigen Tag wegen des vortrefflichen Stils, der seinen Ironie, des witzigen und gewandten Vortrages und der schlagenden Beweisfüh rung als ein Muster klassischer Polemik gelten. Im Tone gutmüthiger Einfalt deckt er die Geheimnisse des schlauberechnenden Ordens auf und mit edlem Ernst beleuchtet und verspottet er die Casuistik und die sittenvcrderbendcn Lehren der Jünger Loyola's. Diese lottres xrovinoialss, der natürliche und ungesuchte Ausdruck eines aufrichtigen, auf die Gnade Gottes bauenden Gemüthes, mit der ganzen Animith und Correctheit eines fcingebildcten logisch denkenden Mannes vorgetragm, haben der Gesellschaft Jesu eine Wunde geschlagen, die keine Sophistik, keine Verdammung zu heilen vermochte. „Alle Gedanken sind so klar entwickelt, der Ausdruck ist in jeder Zeile so natürlich und be stimmt, der gerechte Spott so treffend, und die ganze Manier hat bei aller Bitterkeit der Ironie einen so hinreißenden Charakter der Wahrheit, daß die Jesuiten sich schämen muhten, wenn sie sich in diesem Spiegel erblickten". —Von der Polemik gegen die jesuitische Entstellung der christlichen Religionslehren stieg Pascal zum „Apologeten des Christenthums" auf. Während er in den Briefen aus der Provinz der Wahrheit, Ver nunft und Moral ihr Recht und ihre Stellung anwies, suchte er zugleich die Nothwen- digkeit und die Berechtigung des Glaubens darzuthun. Allein das große Werk, worin er im Gegensatz zu Cartesius die Unzulänglichkeit der Vernunft zur Erkenntnis; der letz ten Gründe und Ursachen der Dinge und die Nothwendigkeit einer göttlichen Offen barung und mithin die Wahrheit der christlichen Religion philosophisch darzustellcu suchte, blieb unvollendet. „Ihm zufolge sind nur zwei Philosophien möglich: die eine des Zweifels, welche von Gott entfernt; die andere, welche in den Menschen die Kraft voraussetzt, zu wissen, sich zu Gott zu erheben". Cr findet, daß diese beiden Systeme einander ewig bekämpfen, einander zerreiben, zerstören, eben dadurch aber die Religion Hervorrufen und dein Evangelium Platz machen. Doch sieht er die religiöse Offenba-