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710 Literatur und Geistesleben. Satire die Mitte haltend. In seinen Episteln, wo die glatten, lcichtfließcnden Verse nicht selten an tändelnde Geschwätzigkeit grenzen, erscheint Boilcau als niedriger Schmeichler des Königs, dessen Gunst und Protection er sich auf diesem Wege erwarb; durch seine Poetik in vier Gesängen, die er verfaßte als er auf dem Gipfel seines An sehens stand, wurde er Gesetzgeber der Dichtkunst nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, so niedrig auch sein Standpunkt, so oberflächlich sein Urthcil ist und so wenig eingehend in das Innere der Kunst seine Kritik erscheint. Dem komischen Helden-, gedicht „das Chorpult" sie Intrin) fehlt es nicht an interessanten Partien und erheitern den Scherzen, wenn es auch an Mannichfaltigkcit und poetischem Muthwillcn hinter dem „Eimcrraub" des Italieners Tasioni iX, 352) zurückstcht. Den Stoff bildet eine Stadtanckdote vom gewaltigen Streit zweier Chorherren über die Beibehaltung oder Entfernung eines großen wurmstichigen Pultes. Die Situationen sind mit komischer Wahrheit in poetischen Bildern und mit Beizichung allegorischer Figuren ausgcmalt. In seinen Oden setzte Boileau seiner Schmeichelei die Krone auf; aber gerade diese Gattung bewies seinen Landsleuten, daß er eigentlich kein Dichter, wenigstens kein Odendichter sei. Die Oden und geistlichen Lieder des mürrische», aus Frankreich vcr- V?püst wiesenen Joh. Baptist Rousseau, des Schützlings des Prinzen Eugen, haben bei Aouffcau aller Frostigkeit doch viele Vorzüge vor denen Boilcau's. Lafontaine Der gelesenste Dichter Frankreichs ist Lafontaine, dessen Erzählungen und i«2i—i«ig4. fabeln sich noch jetzt in Aller Händen befinden. In einer Welt voll Zwang, Förmlich keit und steifen vornehmen Wesens bewahrte „der gute Mann", wie man ihn nannte, stets seine angeborne Naivetät, seine heitere Unbefangenheit und seine kindliche Natur, glücklich und zufrieden mit dem harmlosen einfachen Leben, wozu ihm einige Gönner und Freunde die Mittel gewährten. Im Leben wie in der Literatur wußte er sich von allen Kunstregcln frei zu halten und den fremden Stoffen durch leichte und anmuthige Behandlung, durch „naturnachahmende Mannichfaltigkeit des Ausdrucks und Musik der Verse" ein „gallisches Gepräge" zu geben. Aber ohne hohen Flug der Phantasie und ohne energische Entwickelung poetischer Gedanken und Gefühle ist Lafontaine nur groß in der leichten Erzählungsgabe, in der gefälligen Kunst reizender und witziger Darstellung. Auch seine kleineren lyrischen Gedichte, Lieder, Elegien, so wie die mythologisch-roman tische Dichtung „Psyche" sind nur durch die Lieblichkeit und Anmuth ihrer Form her vorragend. In seinen dem Boccaccio und den alten Provcncalcn uachgebildeten Er zählungen findet sich zwar nicht die offene Nnsittlichkcit jener ältcrn Dichter, aber an schlüpfrigen und lüsternen Stellen ist auch bei ihm kein Mangel. Dafür drängte die Geistlichkeit in den Jahren der religiösen Devotion den harmlosen Greis zu Bußübungen. Lafontaine's Fabeln wurden als Schul- und Kinderbuch in allen Familien bekannt und dienten den folgenden Fabeldichtern als Vorbild, so sehr auch ihre breite Geschwätzigkeit dem Wesen und der Natur der echten Fabel entgegen war. Auch die muntern und muthwilligcn Erzählungen Jacques Bergt er's fanden viele Leser, obwohl sie an naiver Feinheit weit hinter Lafontaine zurückstehcn. Sv°s. Während die größten Dichtertalente sich der dramatischen Poesie zuwandten, blieb das Epos Geistern von untergeordnetem Range überlasten. Nachdem Dcsmarets, ein Dichter, dem cs nicht an Phantasie und poetischem Gefühl, wohl aber an Geschmack und Kunstsinn fehlte, in seinem „Clovis" statt eines Heldengedichts einen „vcrsificirtcn Ritterroman" mit dem ganzen Apparat einer romantischen Zauberwelt geschaffen und der „epische Reimer" Chapelain den unglücklichen Versuch gemacht, in der historischen Dichtung „die Jungfrau oder das befreite Frankreich" ein NationalcpoS aufzustellen, unternahmen noch einige Dichter die schwierige Aufgabe mit gleich geringem Erfolg. So der schon erwähnte Scudery, ein provenzalischer Edelmann, der durch sein Heldengedicht