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I. Frankreichs klassische Literaturperiode. 709 fahren des Fanatismus, oder vielmehr des Glaubens an irgend eine Offenbarung schil dern, entstellte aber auf schnöde Art einen großen geschichtlichen Charakter. Bei dein hohen Interesse des Hofes und der Pariser Gesellschaft für das Theater- tvesen konnte cs nicht fehlen, daß man auch die musikalische Kunstproduction für die Bühne zu verwerthen suchte. Wir werden der Ausbildung der Oper. deren Anfänge im elften Bande d. W. erwähnt sind (S. 775), an einem andern Orte gedenken. Die Aufführung italienischer Singspiele durch eine florentiner Sänger- und Schauspiclcr- gcscllschaft, die Mazarin nach Paris berufen, gab Veranlassung zur Gründung der „königlichen musikalischen Akademie", aus welcher die große oder heroische französische Oper hervorging, bei deren Entwickelung der florentiner Tonseher Lulli und der fran zösische Theaterdichter Phil. Qutnault ihre Talente vereinigten 3. lkaileau. Lafontaine, ckenelon. Die lyrische Poesie, in der früheren Epoche die am meisten gepflegte Dichtgattung, nahm keinen so glänzenden Aufschwung als die dramatische. Weder die Lieder, Sonette und andere kleinere Gedichte des Hofpoeten Jsaac de Benserade, dem über zwanzig Jahre das Amt oblag, die Ballette und Festivitäten des Hofes mit Versen zu ver schönern ; noch die zum Theil witzigen und geistreichen aber auch leichtfertigen Gelegen heitsgedichte und Episteln der genialen Genußmenschen aus dem Gesellschaftskreise der Ninon de l'Cnclos, der neuen Aspasia, eines Chapelle, Bachaumont, Chau- lieu u. a. haben eine nachhaltige Wirkung, einen bedeutenden Einfluß gehabt. Es waren poetische Erzeugnisse des Tages im Tone und in den gewandten Formen der gesellschaftlichen Zeitbildung, des französischen Esprit. Auch für die Hirtenpoesie, für die bukolischen Empfindungsgemälde einer Madame Deshoulieres und für die Idyllen eines Fontenelle, die sich ehedem in der romanischen Welt einer so großen Vorliebe erfreuten, hatte das damalige Geschlecht das Interesse verloren. Erst Nicolas Boileau Despreaux, der Horaz der Franzosen hob auch die Lyrik und die andern Dichtungsarten aus die Hohe der dramatischen Poesie und wurde neben Racine, mit dem er sehr befreundet war, der eigentliche Repräsentant der dichterischen und sprach lichen Formvollendung des Zeitalters des großen Ludwig. Sohn eines Rechtsgelehrten in Paris widmete sich Boileau gleichfalls diesem Studium, ging dann zur Theologie über, so wenig sein Weltsinn für den geistlichen Stand paßte und wählte endlich Dichtkunst und schöne Literatur als Lebcnsbcrus. Er gewann bald die Gunst des Königs, der ihm einen Jahrgehalt aussetzte und ihn neben Racine zum Hofhistoriographen ernannte. Boileau's Hauptverdicnst bestand in der vollendetsten Ausbildung der französischen Sprache und des Stils, so daß er als Gesetzgeber der poetischen Formen und des Ge schmacks angesehen ward. Phantasie bcsaß er wenig, aber einen offenen Blick und ein gesundes Urthcil für alle Erscheinungen im Leben wie in der Kunst; und Niemand verstand cs besser, die Resultate seiner scharfen Beobachtungsgabe mit Witz und Verstand in eleganten Versen vorzutragen. „Fast unempfänglich für die höheren Reize der Poesie, die aus dem Innersten der Seele entspringen und zum enthusiastischen Mitgefühl Hin reißen, hatte er den feinsten Takt für das Richtige und Schickliche und für die wahre Harmonie der Gedanken und des Ausdrucks". Sein bedeutcnstes Werk find seine Sati ren, worin er mit Frcimüthigkcit die Heuchelei und Anmaßung der Jesuiten, die durch ihr Journal de Trevoux den französischen Geschmack bilden und leiten wollten, die Er bärmlichkeiten der zahlreichen Dichterlinge und die Gebrechen seiner Zeit züchtigt, zwischen der scherzenden Heiterkeit der Horazischen und dein strafenden Ernst der juvenalischen