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704 I'. Literatur und Geistesleben. Schwester durch ihre breiten Romane im falschen Geschmack jener Zeit sich einen Namen und viele Nachahmer erworben, tadelnde Bemerkungen gegen denselben schrieb, fand Corneille's Drama solchen Beifall, daß er von dem franzsischen Volke, das für Roman tik und effectvolle Scenerie noch nicht allen Sinn abgestreist hatte, seitdem als erster dra matischer Dichter bewundert ward. Die Literaturgeschichte stellte den Cid an die Schwelle des „goldenen Zeitalters", das im Anbruch begriffen war. Gehoben durch den Beifall der Nation verfaßte Corneille in den nächsten Jahren die drei Dramen „die Horaticr", „Cinna", „Polyeucte" und das dem spanischen Dichter Rojas sXI, 299) nachgebildete Lustspiel „der Lügner", welche für die ausgezeichnetsten Produkte seiner Muse gelten und sich bis zur Stunde auf der Bühne erhalten haben. Wenn auch die handelnden Per sönlichkeiten, in deren Conflict mit der Welt, mit den Geschicken, mit den gegebenen oder geschaffenen Situationen das dramatische Pathos besteht, weniger individuell entwickelt sind als in dem englischen oder deutschen Drama, mehr den typischen Charakter der spanischen Stücke an sich tragen, so lassen sich doch gewisse Beziehungen auf Zcitinter- cffen, aus die herrschenden Ideen des Lebens, auf die Ansichten über Königthum, über höchste Gewalt, über religiöse und politische Tagesfragen nicht verkennen. In den Ho- ratiern „ist es die Hingebung für das Vaterland vor welcher jedes persönliche und indi viduelle Vcrhältniß verschwindet"; in Cinna „erscheinen die republikanischen Stürme und Zwistigkeiten, aus denen gehässige Leidenschaften und blutige Ereignisse entspringen, im Gegensatz zu der Monarchie, die, nachdem sic einmal begründet ist, keiner Gewaltsam keiten zur Sicherung ihrer Zukunft bedarf und nur nach Verdienst belohnt und bestraft; die Fabel des Stücks beruht auf dem Widerstreite der Rachsucht, welche die Nachkommen der Besiegten erfüllt, und der Milde, mit welcher der Fürst sie entwaffnet". In dem christlichen Trauerspiel Polyeucte stellt der Dichter die stegreiche Macht und die Wahr heit der christlichen Ideen vor Augen und berührt die damals viel besprochenen Strei tigkeiten über Gnade, Vorherbcstimmung und Willensfreiheit. Mit diesen Stücken, denen noch „Rodogune" und der „Tod des Pompcjus" beigefügt werden dürfen, erreichte Corneille den Höhepunkt seiner Kunst. Die späteren Produktionen. worin er meistens spanischen Originalicn folgt, wie „Heraclius", wie „Sancho von Aragonien", wie „Ni- comcdes" zeugen von einer frühen Abnahme seiner Schöpferkraft; selbst seine „Andro meda", ein Schauspiel mit eingestreuten Gesängen, worin er die Correctheit und Würde des tragischen Stils mit den Reizen eines Spcctakclstücks nach spanischer Art zu vereinigen suchte, vermochte das Volk nicht mehr zu begeistern. Und als in Racine ein neues dra maturgisches Talent auftrat, fing man an den alternden Corneille zu vergehen, obwohl er fortfuhr bis in sein sicbenzigstes Jahr für die Bühne thätig zu sein. Dennoch gilt Peter Corneille mit Recht als der Schöpfer der dramatischen Poesie Frankreichs. In allen seinen Stücken, deren Zahl sich auf mehr als dreißig beläuft, rollt er eine Welt voll „großartig angeregter und energischer Naturen" vor uns auf. Cr hatte ein seltenes Gefühl für das Große der tragischen Kunst und ein ebenso seltenes Talent, energische Charaktere die stärkste Sprache der Leidenschaft mit Würde reden zu lassen. Sein Sinn war, „nicht allein durch Schrecken und Mitleid, sondern auch durch Bewunderung dm ethischen Zweck der Tragödie, die Reinigung der Leidenschaften zu erreichen". Aus den kritischen Untersuchungen, die Corneille selbst seinen Theaterstücken beifügte, so wie aus den drei Abhandlungen über die Tragödie, erkennt man, mit welcher Umsicht und Ucber- legung, mit welchem Studium und Ernst er zu Werke ging, wie sehr er sich Mühe gab, Composition, Sprache und Charakterzeichnung in Uebcreinstimmung zu setzen. Aber man ersieht auch daraus, daß er weniger durch Genialität als durch die Macht der Kunst zu wirken suchte, weniger auf die angcbornc poetische Begabung und schöpferische Phan tasie als aus Gesetz und Regel, auf Methode und Reflexion Werth legte. „Die Einpfm-