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I. Frankreichs klassische Literaturperiode. 703 aus einer gelehrte» Privatgesellschaft wir früher angegeben (S. 46), für Sprache und Geschmack ein höchster Gerichtshof gegründet worden. Dieses Institut, das Ludwig XIV. unter seine persönliche Obhut nahm, das gleichsam zum Hofstaat des königlichen Hauses gehörte, benahm übrigens der französischen Literatur die freie Entwickelung und drückte ihr den Charakter der höfischen und hauptstädtischen Modebildung ans. Nur was die Grammatik und das Wörterbuch der Akademie als sprachrichtig bezeichnet, fand allgemeine Geltung und ihre Poetik und Rhetorik bestimmten die Formen und Regeln, wie man dichten und schreiben müsse. Hatte das Erstere wenigstens den Borzug, daß die französischen Schriftsteller Sprache und Stil beachten und ausbilden, nach eleganter und correctcr Darstellung streben mußten, so schlug dagegen das Letztere jede Naturan lage, jede geniale Cigcnthümlichkcit in die Schranken der Convcnienz und Regel. Nichts desto weniger verschaffte jene Eleganz der Form, jene Leichtigkeit und Gewandtheit des Stils, jene seine Ausdruckswcise, wie sic in den gebildeten Gesellschaftskreisen des Hotel Rambouillet, bei der Marquise de Scvigne, bei Ninon de l'Enclos und ihrem Freund St. Evrcmond in Ucbung war, verbunden mit Frankreichs politischem Uebcrgcwicht. der französischen Sprache und Literatur fast ein ganzes Jahrhundert lang die Herrschaft in Europa. Die für den geselligen Verkehr, für Conversation wie für Briefe besonders ausgebildete französische Sprache, auf deren Vervollkommnung die Hauptsorge aller Gelehrten und Dichter jener Zeit, aller die auf Geist und Bildung Anspruch machten, gerichtet war, blieb fortan die Sprache der Diplomatie, der Höfe und der höhcrn Ge sellschaft ; ihre Schriftsteller und Schöngeister standen mit den berühmtesten Fürsten und Staatsmännern in brieflicher Verbindung. Dies begann schon mit Balzac und Voi- ture, deren zierliche Briefe, moralische und politische Betrachtungen über die Erschei nungen der Zeit, über Leben, Sitten und Denkweise der vornehmen Welt in rhetorischer, sentmzenreicher Schönrednerei enthaltend, von der schwedischen Christine, von Richelieu und von dem ganzen gebildeten Europa bewundert wurden. Balzacs „Prinz", das Ideal eines Regenten und „Aristipp", das Musterbild eines Ministers sind Lobschriften auf Ludwig XIII. und Richelieu. Wie sehr dagegen der Despotismus des Cardinals und seiner Schützlinge in der Akademie jede wahre Poesie vernichtete, ersieht man aus dm erbärmlichen Produkten eines Chapelain und Desmarcts, die (jener durch seine Jungfrau von Orleans, dieser durch seinen Clovis) den Franzosen ein National epos schaffen wollten, und aus dem Widerstand, den der einzige geniale Dichter, Peter Corneille von Rouen, bei Begründung eines Nationaldrama zu überwinden hatte. So lange der junge Dichter, „eine zugleich bescheidene und hochstrcbende, durch beschränkte Verhältnisse auf eine gewisse Fügsamkeit angewiesene, aber in sich selbst auf das Ideale gerichtete Natur" sich dem herrschenden Geschmack anbequemte, in „Melite" und den fünf andern Lustspielen, mit denen er seine dramatische Laufbahn begann, die Lebensintercsscn der vornehmen Welt und den feinen Conversationston abspiegelte und in seiner ersten Tragödie „Mcdca" sich genau an sein lateinisches Vorbild 'Sencca hielt, erfreute sich Corneille der Gunst des diktatorischen Staatsmannes; er schien in den Planetenkreis einzutreten, der von der Sonne Licht und Wärme empfängt. Als er cs aber wagte, ohne Zustimmung des Cardinals und der Akademie sein Hauptdrama, den Cid, aus die Bühne zu bringen, worin er den von den Spaniern entlehnten tragischen Stoff und die dem Euripides und Seneca nachgeahmte Form und prunkvolle Darstellung zu einem, in Sprache und Ton eigenthümlichen Dichtungsstücke umzuschaffen gewußt hatte, fanden der Cardinal und seine Freunde an der neuen Richtung Vieles auszusctzen, mußten aber erfahren, daß die sonst überall unterdrückte Nationalstimme wenigstens in der Literatur »och Gewicht habe. Denn während Chapelain im Namen der Akademie eine klassische Kritik des Cid ausarbcitete, und ein sehr mittelmäßiger Kopf, Scudery, dessen Balzac 1594-1654. Voiturc 1598—1648. Corneille 1606—84