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i» -L k- I. Frankreichs klassische Litcraturperiode. 701 und Darstellung, welche der französischen Sprache die Herrschaft in Europa ver schaffte, dieselben formalen Vorzüge, die der gesellschaftlichen Unterhaltung in den vornehmen und gebildeten Cirkcln ihre Anmuth und ihre Reize verliehen. Sprache, Stil, Versbau hatten einen leichten angenehmen Fluß, an dem man keine Mühe, keine Studien bemerken durfte, die ein Abbild waren von der gra ziösen Conversation, wie sie in den Salons herrschte. Nicht durch Originalität oder kühne Conccptionen, nicht durch schwungvolle Phantasie oder geniale Ge bilde glänzten die Dichter und Künstler des klassischen Zeitalters, sondern durch Schönheit und Correctheit der Form, durch äußere Politur, durch kunstmäßigen Aufbau und Anlage. Die Schriftsteller stiegen nicht in die Tiefe der Natur und des Seelenlebens hinab, sondern suchten ihre Vorbilder in der vornehmen Welt, in den Hofcirkeln und geistreichen Gesellschaftskreisen. Die poetische Begeisterung, die das Herz ergreift oder die Phantasie zu kühnen Schöpfungen fortreißt, blieb dem conventioncllen Zeitalter Ludwigs XIV. fremd. Alles Große und Unge wöhnliche ist stets ein Feind der regelrechten kunstmäßigen Uebereinkunft und wirkt unharnionisch. Es entsprach daher vollkommen dem Hoftone und den gesellschaftlichen Formen jener Tage, daß man für Drama und Theater die ari stotelischen Kunstregeln aufstellte, wodurch jedem Ueberschreitcn der gesetzmäßigen Schranken, jedem allzukühnen Aufschwung der Einbildungskraft, jeder genialen Neuerung Thür und Thor verschlossen ward; wie im Leben die Freiheit durch die Regeln der Mode und Convenienz gebunden war. so sollte auch der dichterische Genius sich auf gemessener Bahn fortbewegen. Und so sehen wir denn das geistige Schaffen ganz in Uebereinstimmung mit den übrigen Erscheinungen des Tages, ganz im Dienste und nach dem Geschmacke des Hofes und der aristokra tischen Gesellschaft, ganz in dem eleganten Gewände, in den festgesetzte» Formen der Pariser Welt auftreten. Mögen die großen dramatischeu Dichter Corneille und Racine für ihre Tragödien, Moliöre für seine Komödien die Stoffe aus dem Alterthum oder aus der spanischen Sagen- und Bühncnwelt hcrholen, mag Boileau im horazischen Geiste das Füllhorn der Schmeichelei ausgießen oder mit Ironie und Witz heimische Zeitcrscheinungen behandeln; Alles nimmt eine französische Gestalt und Färbung an, in allen Erzeugnissen spiegelt sich das monarchische Frankreich, spiegeln sich die Anschauungen, die Gedankenkreise, die Geschmacksrichtungen der Gegenwart ab. Die gesammte Literatur und Kunst ist ei» kosmographisches Bild der Pariser Gcsellschaftsbildung. Selbst die Fabel tritt bei Lafontaine im Salongewande auf. Nicht einmal in mythologischer Hülle darf der sanftmüthige fromme Fenclon ungestraft das Ideal eines Re genten zeichnen, das dem Versailler Musterkönig so wenig entspricht. Aus den tonangebenden Gesellschaftskreisen und mit Rücksicht auf die darin herrschenden Grundsätze und Lebensanschauungen schöpft Larochefoucauld den Stoff tür seine Marimen; ebendaher nimmt La Bruyerc die Beispiele für seine Charaktere; in den vornehmen Gesellschaftskreisen hat Frau von Sevigne