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689 V. Der Norden und Nordosten Europas. brächen. Sie stürmten die Treppe hinauf, warfen Matweejew und Dolgoruky auf die aufgerichteten Speere der untenstehenden Kameraden und ermordeten dann mehrere im Palaste anwesenden Edelleute, deren Namen sich auf einer von den Miloslawskys angcfcrtigten Liste befanden. Damit nicht zufrieden, durch- stnrmten die Tobenden die Stadt und häuften Gräuel auf Gräuel. Der Vater des ermordeten Dolgoruky, ein achzigjähriger Greis erlag den tödtlichen Streichen, eben so der Knäs Romodanowski der Sieger von Tschigirin, der Bojar Iwan Naryschkiu, Bruder der Zarin und mancher andere. Nach diesem blutigen Ein gang verlangten die Streichen, daß Iwan und Peter gemeinschaftlich herrschen und Sophie die Regentschaft führen sollte. So hatte denn die ehrsüchtige Fürstin das Ziel erreicht, nach dem ihre Seele der-Erusfil-be langte. Sic lohnte die Leiter und Werkzeuge mit Gnaden und Ehrenzeichen und berief unterdrückt, ihre Anhänger in die hohen Staatsämter. Den größten Einfluß hatte ihr Günstling, Fürst Wassily Galizyn, ein geistreicher, gebildeter und der europäischen Civilisation befreundeter Magnat, mit dem Sophia durch zarte Bande verknüpft war. Da sollte sie nun aber bald empfinden, welche Geister sie und die Miloslawskys durch die Palast revolution wach gerufen hatten. Iwan Cho wanski und sein Sohn Feodor, welche »n der Stelle der ermordeten Dolgoruki zu Verwaltern der „Strclitzen-Kammcr" er nannt wurden, suchten im Gegensatz zu Galizyn und der Großfürstin selbst dem Alt russenthum den Sieg zu verschaffen. Nicht nur daß die Strclitzcn auf jede Weise be vorzugt wurden, daß sie sich das „Fußvolk des Hofes" nennen dursten, daß sie die Güter der Ermordeten an sich brachten, daß aus dem „schönen Platz" in Moskau ein Denkinal ihre Verdienste um das Zarenhaus der Nachwelt verkünden sollte; der hcrrschsüchtige Chowanski suchte auch mit ihrer Hülfe die Sekte der"„Raskolniken" oder Altgläubigen wieder in die Höhe zu bringen, die kirchlichen Neuerungen Nikons und Alcxei's abzu schaffen , vielleicht sogar sich selbst die Krone anzucignen. Der seines Amtes entsetzte Geistliche Nikita, „Pustoswät", der Scheinheilige genannt, predigte auf offenem Markte gegen die herrschende Kirche, nannte den Patriarchen und die Bischöfe Diener des Anti- christs, Verfolger des wahren Glaubens und der heiligen Bücher. Eine von Chowanski veranstaltete Disputation zwischen beiden Parteien im Audienzsaal des Zarenpalastes, ber auch die Regcntin und andere Glieder der Herrscherfamilie beiwohnten, nahm fast ben Verlaus der Räubcrsynode von Ephesus. Der Trotz und Uebermuth der Strelitzen und Altgläubigen ließ eine völlige Umkehr in allen öffentlichen Angelegenheiten befürcht en. Eine solche Rcaction, wodurch die Errungenschaften eines Jahrhunderts vernichtet Korden wären, wollten Sophia und ihre Rathgeber nicht ins Leben treten lassen; nach- bem sie den „Afterheiligen" Nikita hatte verhaften und hinrichtcn und seine eifrigsten Anhänger in entlegene Klöster bringen lasten, entfernte sie sich aus der Hauptstadt, ent bot die übrigen bewaffneten Mannschaften, die nicht wie die Strelitzen der alten Kirchen- hkrtei angehörten, nach dem Troytzkischen Kloster und ließ die beiden Chowanski, als Ür im Vertrauen auf ihre Macht der Einladung der Regentin eben dahin Folge leiste ten, sofort ergreifen und ohne Verhör und Richtcrspruch umbringcn. Dieses energische^- Sept. Erfahren hatte die erwartete Wirkung. Rach einigem drohenden Aufbrauscn gaben die strelitzen klein bei und lieferten selbst die Anstifter zur Bestrafung aus. Die Hinrich tung von dreißig Rädelsführern stellte die Autorität der Regierung her und schlug die Erussische Reaction nieder. Weber. Weltgeschichte. XII. 44