Volltext Seite (XML)
VI Verkennung als einer Kunst, als organischen Abschlusses der übrigen Künste, als Darstellung des Schönen vermittelst der Sprache, hat ohne Zweifel die Hauptquelle in der Überschätzung der römischen Poesie, die doch selten mehr als ausstaffirte Prosa ist, aber sich seit unfern Bildungsanfängen im Vordergründe behauptet hat, theils wegen ihrer hausbackenen Würde und ihres Nützlichkeitscharakters, theils weil sie leichter zugänglich ist als die griechischen Werke, die man bezeichnend genug vielmehr abzulehnen sucht. Daraus entsteht auf der einen Seite Begriffsverwirrung, auf der andern Haltlosigkeit, und aus Beidem eine Verwilderung des Geschmacks, welche die Talente erdrückt, noch ehe sie zur Reife gelangen. Wehe der Nation, die von ihren Malern, Mu sikern, Dichtern ihr Heil erwarten muß, und wehe den Gedichten, die bei einem andern Forum ihr Urtheil suchen als bei dem ästhetischen! Was es aber mit der Musenschaft für eine Bewandtniß habe, spricht unser Gewährsmann Goethe, aus den wir uns nicht oft genug berufen können, als Siebzigjähriger, da ihm keine Farbe mehr in den Pinsel Wollte, in den schlotterigen aber allessagenden Versen aus: Die Kunst versöhnt der Sitten Widerstreit, In ihren Kreisen waltet Einigkeit. Was auch sich sucht und flieht, sich liebt und haßt. Eins wird vom andern schicklich angefaßt: Wie Masken, grell gemischt, bei Fackelglanz Vereinigt schlingen Reih- und Wechseltanz. Vor solchen Bildern wird euch wohl zu Muthe! Empfangt das Schöne, fühlt zugleich das Gute, Eins mit dem andern wird euch einverleibt; Das Schöne flieht vielleicht, das Gute bleibt, So nach und nach erblühet, leise, leise, Gefühl und Urtheil wirkend wechselweise; In eurem Innern schlichtet sich der Streit, Und der Geschmack erzeugt Gerechtigkeit.