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1. Diejenigen, welche zuerst eine Ähnlichkeit der Künste mit den sinnlichen Wahrnehmungen angenommen haben, dachten hie bei, wie mir scheint, hauptsächlich an die in beiden liegende Fähigkeit der Unterscheidung, womit wir bei den einen, wie bei den andern, von Natur in den Stand gesetzt sind, selbst die vollkommensten Ge gensätze gleichgut zu erfassen. Diese Eigenschaft ist allerdings beiden gemeinschaftlich, während sie in der Zweckbcziehung der unterschiede nen Gegenstände auseinandergehen. Die sinnliche Wahrnehmung muß ebensogut dienen zur Erkenntniß von Weiß und Schwarz, von Süß und Bitter, von Weich und Elastisch oder Hart und Spröde. Ihre Aufgabe besteht nur darin, bei dem Zusammentreffen mit Din gen aller Art von jeden« einen Eindruck zu erhalten und sodann die sen Eindruck, so wie sie ihn empfunden hat, zum Bewußtsein zu bringen. Anders verhält sich dieß bei den Künsten, welche sich mit der Vernunft vereinigen, um etwas Entsprechendes zu wählen und anzunehmen, dagegen etwas nicht Entsprechendes zu meiden und ab zustoßen. Sie ziehen also manche Gegenstände ganz vorzüglich und um ihrer selbst willen in Betrachtung, andere dagegen nur zufällig, um sich vor ihnen zu hüten. Die Medicin z. B. muß in letzterer Weise auch das Wesen des Krankhaften, die Mufiklehre das Wesen der Disharmonie kennen lernen, aber mit dem Zwecke, das Gegen- theil von beiden zu schaffen. Die vollendetsten Künste von allen, die sittlichen Künste: Mäßigung, Gerechtigkeit, Weisheit, sind ebenfalls kritische Richter nicht nur über Alles, was sittlich, gut, gerecht und nützlich —, sondern auch über Alles, was schädlich, unsittlich und ungerecht ist. Und wenn sich die Schuldlosigkeit mit der bloßen Un- kenntniß des Schlimmen zieren will, so billigen sie ein solches Ver fahren keineswegs; sie finden darin vielmehr nur eine geistige Be-