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ROKOKO. Es ist auffallend, daß die wirkliche Weltherrschaft der französischen Kunst in die Zeit des Niedergangs der politischen Macht Frankreichs fällt. Die Kunst erntete, was Staatsmann und Krieger gesät hatten. Ja es scheint, daß die Erschütterung des königlichen Ansehens, vielleicht auch die Übersättigung des Königs Ludwig XV. durch Glanz und Pracht die Rückkehr zu dem einige Zeit durch den blendenden Glanz des Königtums eigentlichen französischen Geiste bewirkt habe. Alle unter den Augen Ludwigs XIV. auf gewach senen Personen machen den Eindruck, als wenn sie es nicht verstünden, sich’s bequem zu machen, sie waren schweigsam, schüchtern und linkisch, wo gegen man in den vornehmen Pariser Salons weder schweigsam noch schüchtern war, sich’s aber bequem zu machen und das Leben zu genießen suchte. Ins besondere machte die Ausgestaltung der Bequemlich keit bei den Architekten, wie Hardouin Mansart, dessen Schüler Robert de Gotte, von den späteren Zeiten Ludwigs XIV. an große Fortschritte. An Stelle von Säulen und Pilastern trat an den Wänden der Räume das Rahmenwerk, teilweise schon mit geschweiften Formen, die ganze Farbenstimmung wird weniger prunkvoll und heller. Der Architekt Cailleteau, gestorben 1729, der nicht zu den vom König Begünstigten gehörte, zog in seinen Grundrissen kleinere zweckmäßig geordnete Räume vor, so be sonders beim Hotel des Sassey. Die Fassaden werden frei von der Pedanterie des ausgebildeten Klassizis mus. Rascheren Aufschwung nahm diese Tendenz, als nach dem Tode Ludwigs XIV., 1715, der Herzog von Orleans die Regentschaft für den unmündigen Ludwig XV. übernahm und bis 1723 führte. Derselbe suchte das durch Kriege erlahmte Erwerbsleben weiter Kreise zu heben und auch vielfach mit Erfolg. Die Tradition wurde jedoch erst von Gille-Marie Oppenort, 1672—1742, Schüler von Mansart, Bernini, Pozzo, Fuga, Envara usw., durchbrochen, welcher in der Ausgestaltung des Palais Royal genügend Ge legenheit hatte, seinen Genius frei zu entfalten. Die jetzt sich entwickelnde Kunst wird in Frankreich Stile Regence genannt. Am meisten zur Ausbreitung der neuen Kunst im Auslande trug Germain Boff- rand bei, 1667—1754, von dem Gurlitt sagt: „Hier weiß Boffrand nichts von Regeln; er gibt nur rein technisch praktische Winke über die Dauerhaftigkeit der Stuckdecken, über die Unmöglichkeit, bei im Naturton gehaltenen Holzbekleidungen größere Räume zu erleuchten, über die Höhe, in welcher die Kerzen anzubringen sind, damit die Augen der Damen nicht beschattet werden. Die akademische Weisheit schweigt mit dem Ende der klassischen Vorbilder; hier zeigt sich der Künstler offen und willig als Kind seiner Zeit, hier zeigt er sich, der streng antikisierende Ästhetiker, als vollendeter Meister des Rokokos.“ In den Hotels de Soubise und de Rohan jedoch ist er bereits Meister der zweiten Periode des Rokokos, dem Rocaille. Außer Oppenort waren die bedeutendsten Zeich ner in dieser Kunst Claude Gillot, 1673—1722, Claude Audran, 1658—1739, Antonie Watteau, 1684—1721, und andere mehr. Bezeichnend für den Geist der Zeit ist die Ausbildung der von Gillot aufgebrachten Singeries, die dann von Christophe Huet, gestorben 1759, weiter ausgebildet wurden. Der bedeutendste Maler des Regencestils ist aber der in Valenciennes geborene Watteau, der insbesondere in seinen China serien Bedeutendes leistete, die allerdings im ethno graphischen Sinne nichts mit ihnen zu tun hatten, in denen man aber den Traum der glücklichen Insel voll Heiterkeit, Lebenslust und spielender Grazie verwirklicht sah. Die im Rokoko hervortretende Unsymmetrie ist keineswegs das einzige Beispiel in der Kunst geschichte. Bereits in der Gotik tritt dieselbe zutage, vor allem zeigte sich Naturalismus, Laune und Ein seitigkeit in den Stoffen des späteren Mittelalters, welche zur Anlehnung an ostasiatische Vorbilder ge führt hat. Und so mußte notgedrungen auch das Rokoko an eine solche führen, da diese zum freiesten Naturempfinden und zur freiesten Raumverteilung gelangt, daher mußte, sobald Europa in gleicher Richtung vorgehen wollte, die ostasiatische Kunst sich als Führer und Vorbild darbieten. In Deutschland wird die ganze Kunstrichtung von Ludwig XIV. bis zum Siege des Klassizismus als Rokoko bezeichnet, während in Frankreich die Frühzeit desselben als Stile Regence, die spätere Epoche als Rocaille oder Stil Louis XV. bezeichnet wird. Letzteres kommt vom Worte „roc“, Fels oder Stein, eigentlich das zur Ausschmückung von Grotten verwendete Stein- oder Muschelwerk, welches jedoch bereits im Barock vielfach verwendet worden ist. In der Außenarchitektur tritt das Rokoko wenig zutage, höchstens an Tor- und Fensterdekorationen; es tritt hier an Stelle der Symmetrie das Gleich gewicht der Massen. Hervorragende Zeichner des Louis-XV.-Stiles sind besonders .Tuste Aurele Meisso- nier, 1693—1750, Thomas Germain, Jean Baptiste, Lecoux, Rene Michel Slodtz, der bedeutendste dieser Künstlerfamilie, der Goldschmied Babel, Boucher, Franpois de Cuvilliö, 1695—1768, der großen Ein fluß in Süd- und Westdeutschland hatte, Charles Eisen, Jean Pillement, 1719—1808. Gegenüber der pompösen Kunst Ludwigs XIV. spricht aus dem Rokoko etwas Verneinendes im Streben nach Freiheit und Natur, welches sich aller dings oft in drolliger Weise zu erkennen gibt. Doch ist keineswegs das strenge Rokoko die einzige Kunst, es laufen neben derselben verschiedene andere Kunst richtungen, entweder chronologisch aufeinanderfol gend oder gleichzeitig, denn es gab neben den tem peramentvollen auch maßvolle Naturen, die glaubten, die Natur in Maß und Einfachheit zu finden, nicht in sprühender Bewegung wie jene. Das Rokoko stand in Frankreich nicht mehr unter dem Einflüsse des Hofes, sondern weiterer Schichten, während in Deutschland, im Gegensatz zu der den Städten anhängenden Renaissance, dasselbe eine Hof kunst war. Es ist wohl klar, daß Deutschland nach den Stürmen des 30jährigen Krieges Anlehnung an