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DIESIEKFORMi.lAHKCiANG HEFT1. Naturstudium. ie erste Notwendigkeit für den Künstler, der einen Gegenstand schmücken will, ist die, Ddass er in der Lage ist. eine gute Linie von einer schlechten zu unterscheiden. Obwohl die Natur jedem Lebewesen einen gewissen Schönheitssinn verliehen hat, so ist dieser doch bei dem einen oder anderen Individium mehr oder weniger ausgebildet. Da die Natur vollkommen ist, und ohne diese ein Vorstellungsvermögen undenkbar ist, bleibt die Natur unsere einzige nie versiegende Quelle der Schönheit. Je ausgeprägter nun die Liebe eines Volkes zur Natur ist, desto liebevoller ist auch der Schmuck. Die Japaner beweisen dies. Und selbst Völker, die unserer Anschauung nach auf einer niederen Kulturstufe stehen, wie etwa die Einwohner Neu- Guineas, zeigen oft ein solch feines ornamentales Empfinden in ihrem Schmuck, dass dieser unseres besonderen Studiums wert ist. Und immer sind es Naturformen, die die Anregung geben zu den oft merkwürdigen aber stets schönen Formen und LinienS' Mit Vorliebe verwenden diese Völker in ihren Formen die Dinge, die sie am meisten lieben oder deistisch verehren, Sie geben so den Gegen ständen einen mystischen Reiz oder eine poetische Weihe, die im merkwürdigen Gegensatz steht zur Höhe ihrer allgemeinen Kultur. Auch bei den höheren Kulturvölkern ist die Natur stets die Führerin zur Schönheit gewesen. Aegypter, Assyrer. Griechen, Römer, alle folgten der Natur in ihrer Weise, und mit dem Siegeslauf der christlichen Kultur erlebt die stilistische Verwertung der Naturformen in der Gothik ihren Höhepunkt. Das nun hereinbrechende Zeitalter des Humanismus brachte diese Be wegung ins Stocken und seit dieser Zeit sind die Stile, mögen sie sich noch so sehr unterscheiden, Nachahmungen griechisch-römischer Formenelemente. Die Natur selbst gab nicht direkt ihre An regung. sondern die Uebersetzung, gesehen mit den Augen der Griechen und Römer. Die Zeitstile nun auf ihre temporäre und nationale Eigenart zu betrachten, gehört nicht hierher, und ich begnüge mich mit der Feststellung, dass diese Formen wohl von klarem Naturstudium zeugen, auch meinet wegen von Geist und Grazie, aber Gemüt und Poesie vermissen lassen. N ach unserer Befreiung von dem historischen Stilwirrwarr kämpften zwei Parteien um den richtigen Weg den die neue Formkunst nehmen sollte. — Hie Pflanzenornament hie Linienornament. Das Letztere hatte insofern seine Nachteile, ja es wurde gefährlich für die Masse, weil es stets der Ausdruck einer starken Persönlichkeit ist. Das Linienornament aitet darum zur Plattheit aus, wenn minderwertige Künstler diese Formen nachahmen. Das Pflanzenornament lag deshalb näher.