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74 einer Jeden anheimgcstcllt, sowohl in die Ehe zn treten, als überhaupt eine andere Lebensweise zu beginnen, unter Ausgebung aller priester- lichen Verrichtungen. Doch sollen es nur wenige gewesen sein, welche an dieser Erlaubnis; Freude fanden, oder, wenn sie es thaten, dadurch ihr Lebensglück begründeten. Meistens brachten sie den Rest ihrer Tage in Reue und niedergeschlagener Stimmung zn, wodurch sodann auch die andern in Gewissensangst verfielen, so daß sie lieber bis zum Alter und bis zum Tode in dem Stand der Enthaltsamkeit und Jung fräulichkeit verharrten. Die Auszeichnungen, die ihnen Numa znerkannte, waren sehr bedeutend. Unter anderem besaßen sic das Recht, sogar schon bei Leb zeiten ihres Vaters selbständig ein Testament zu machen und alle an deren Geschäfte zn bereinigen, ohne jemals einen Beistand nehmen zu müssen, gerade wie heutzutage eine Mutter von drei Kindern. Bei jedem Ausgange begleitet sie ein Liktor, und wenn sie einem Menschen, der zum Tode geführt wird, von selbst begegnen, so unterbleibt die Hinrichtung. Doch muß die Vestalin einen Eid ablegen, daß die Be gegnung lediglich eine zufällige und nicht beabsichtigte gewesen sei. Wer unter ihre Sänfte tritt, wenn sie sich austragen lassen, muß sterben. Die Bestrafung dagegen für ihre meisten Verfehlungen besteht bei den Vestalinnen in Schlägen, wobei der Pontifex Maximus die Züchtigung vornimmt. In manchen Fällen muß sich die Sünderin sogar entkleiden, und dann wird in einem dunklen Gemache ein Tuch herübcrgespannt. Hat eine ihre jungfräuliche Ehre verloren, so wird sie in der Nähe des Collinischen Thores lebendig begraben. Dort ist, noch innerhalb der Stadt, eine Erderhöhung, die sich weit hinaus erstreckt und im La teinischen heißt. Hier richtet man nun ein unterirdisches Zim mer ein und zwar von unbedeutendem Umfange, mit dem Eingänge von oben. Darin steht ein vollständiges Ruhebett, ein brennendes Licht und eine geringfügige Kleinigkeit von den nothwendigsten Lebens mitteln, z. B. Brod, Wasser in einem Gesäß, Milch, Oel und dergl., um gleichsam die Schuld nicht auf sich kommen zu lassen, daß man eine Person, deren Leben den bedeutendsten religiösen Verrichtungen gewid met war, dem Hungertode preisgegebcn habe. Die Deliquentin selbst