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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 25.12.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-12-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192312255
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19231225
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19231225
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-12
- Tag 1923-12-25
-
Monat
1923-12
-
Jahr
1923
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Festliche Zeit Draußen im schneeigen Wlnterwald rüttelt der Sturmwind sehr, es knackt in den Zweigen. Du hörst gar bald Rauschen im Tannenmeer. Tannen erzählen, daß sie nun gleich kämen zum Lhristkindeleln, und daß Knecht Ruprecht, auf Sohlen, weich, sie holt zur Stadt heut hinein; denn es sei Weihnacht, die festliche Zeit! Wie es so ging und wie es so kam, Tannen wurden gefällt. Ruprecht sie schnell aus den Schlitten nahm, fuhren weit in die Welt. Kamen in Häuser, ob groß, ob fein, prangten in Schloß und Palast, standen in Hütten, niedrig und klein, man sah sie gerne als Gast: denn es war Weihnacht, die festliche Zeit! Cngelein flogen zur Tür herein, schmückten den Baum mit Gold, Aepfeln und Nüssen und Kerzenschein, Cnglein, lieblich und hold. Christkindlein legte die Gaben aus unter dem Weihnachtsbaum. „Weihenacht!" jubelt's im ganzen Haus. Frieden schwebte im Raum: denn es war Weihnacht, die festliche Zeit! Laut fingen Glocken zu läuten an, Glockenklang schwirrt durch die Welt. „Stille Nacht!" hub's leise zu singen an. Blick auf zum Himmelszelt! Leuchtet vom Himmel ein Sternenheer, sieht herab auf die Erde, wünscht, daß über Länder und Meer Friede von oben her werde: denn es ist Weihnacht, die festliche Zeit! Knn« e»»is-Ko»snoti» Schneewittchen Ein Märchen von Luolozuk» Weihnachten nahte heran. Es waren Tage voll Frost und Schnee. Die Kinder liefen im Garten um her, der außerhalb der Stadt gelegen war und das Haus von allen Seiten umschloß. Sauber waren die Wege gehalten, und neben den Büschen türmten sich die aufgeschaufelten Schneehügel empor. Aus dem Fenster des Salons warf die Mutter oft einen Blick nach den Kleinen, deren Gesichter in immer röterer Farbe erstrahlten und deren silberhelles Lachen sie heiter stimmte. „Was habe ich doch für Hübsche, prächtige Kinder!" dachte sie. Hinter dem Gartenzaun ließen sich wohl ab und zu knisternde Schritt« im Schnee vernehmen, aber di« Kleinen achteten gar nicht darauf. Sie liefen um die Wett«, bis ihnen heiß wurde in ihren Pelzmäntelchen und Pelz- stieselchen, schneeballten sich und dachten dann andere andere Spiel aus. „Weißt du, Schurotschka, wir wollen ein Schneewittchen machen!" schlug Nurka vor, und — gesagt, getan! — „Also eine Schneefrau?" fragte der Knabe. „Nein, warum ein« Frau! Wir machen ein nied liches, kleines Mädchen, so groß, wie meine große Puppe. Sie soll Schneewittchen heißen und mit uns spielen." „Wird sie da« können und wie soll sie lausen?" fragte zweifelnd das Brüderchen. „Sieh mal, wir machen ihr doch auch Füße!" „Aber sie sind doch aus Schnee —" „Das tut nichts, heute ist ja auch heiliger Abend, und da sollst du sehen, wie sie aus einmal zu laufen beginnt und mit uns spielt! . . ." „Ach ja, heute ist heiliger Abend!" sagt« Schurka und sah nun vertrauensvoller dem Wunder entgegen. Er fragte nur noch: „Wird sie auch noch den folgenden Tag hier bleiben?" „Natürlich", sagte Nurka zuversichtlich, „sie wird den ganzen Winter bei uns bleiben und mit uns laufen und spielen." „Und im Frühling?" fragte Schurka. Das Mädchen wurde nachdenklich, sah bedeu- tungsvoll das Brüdercken an, öffnest verlegen den roten Mund und rief endlich fröhlich aus: „Nun, was geht uns jetzt der Frühling an! Dann geht unser Schneewittchen auf den hohen Berg, lebt den ganzen Sommer dort, wo der ewige Schnee liegt und kommt im Winter wieder zu uns herunter." Beide Kinder lachten und hüpften vor Freude. „O, wie schön, den ganzen Winter spielen wir mit ihr! Und der Mama zeigen wir auch unser Schnee wittchen, wk wird die sich freuen! Nur ins Haus dü.fen wir sie nicht führen, damit sie nicht in der Wärme auftaue." — „Und wo soll sie schlafen?" fragte der Knabe, der ebenso praktisch wie sein Vater ver anlagt war. „In der Laube kann sie schön schlafen," erwiderte N r — und dann machten sich beide Kinder ans 3 E» wurde still, und die Mutter beunruhigt« sich sc .. al» sie weder das Schreien noch das Lachen dc. kleinen hörte. Sie setzt« sich aber schließlich auf den Diwan, nahm ein Buch von Ellen Key zur Hand und vertieft« sich darein. Ob irgendein guter oder böser Geist den Kindern wohl zu Hilfe kam bei ihrem Schöpfungsgedanken? — Jedenfalls wuchs Schneewittchen unter ihren Fingern und stand bereits wie lebendig da. Es fehlten nicht die Arme, di« Beine und die feinsten G«sichtszüg«. Auch der l«benden Seele schien die Schneepuppe nicht zu entbehren. „Wie ausgezeichnet sie den Kindern gelungen ist!" rief die Mutter befriedigt aus, als sie nach Beendigung de» ersten Kapitel» wieder hinausblickte. Im Ge fühle der Genugtuung sagte sie sich, daß di« Kunst im Leben de« Kindes eme große Roll« spiele, daß di« Eltern neu« Erziehungsweg« einzuschlagen und bi« kindlich« Selbständigkeit zu fördern hätten, wie sie e» getan hat. Leise sagte inzwischen Nurka: „Gut, daß wir den allerreinsten Schn«e genommen haben, darum ist u-str Schneekind auch so schön geworden." „Der Schnee fiel ja auch gerade vom Himmel! O, wie reizend ist sie, sie sieht dir sehr ähnlich!" er widert« der Knabe. „Wo denkst du hin! Sie sieht der Mama ähnlich." „Und du, du siehst ja gerade so aus wie Mama, während sie alle sagen, daß ich dem Papa gleiche." Boll Entzücken klatschten beide in die Händchen und riefen: „Herrlich, ganz herrlich ist unsre Schnee- puppe, aber weißt du," fügte Nuria h.nzu, „ihr mucken ist so weich, wollen wir ihr noch ein Rückgrat aus Eiszapfen machen?" sofort gcscyah es, und die Kinder waren glück lich über di« Hellen Augen, das weiße Kle.a, oie we.ßen Etiefelchen, das weiße Mützchen ihrer Puppe. Die Mutter östnete das kleine Lustsenstcr und ries: „Kinder, die Hande werden euch starr werden, kommt, erwärmt euch!" „Mama, kannst du unser süßes Schneewittchen sehen?! — Dann," flüsterte sie, „wollen wir noch nichts verraten." Sie mußten aber dem zweiten Rufe folgen, und da das überströmende Glückcgesühl nicht zu bündigen war, sagten sie„ „Mama, heut« abend bekommst du eine neue Tochter, Schneewittchen!" Die Mutter lachte und auch der Dater mußte lächeln, der sich behaglich dem Genüsse der Weihnachtsferien widmete und ein« Zeitung m den Händen hielt. Der Abend senkte seine Schatten und di« Sterne funkelten am klaren Firmament. Die Ungeduld Halle die Kinder bald wieder in den Garten hinaus- gclrieben. Sie konnten Schneewittchen doch nicht so- lange warten lassen. Sie hatten ihr ja versprochen, bald wiederzukommen. Leise traten sie an sie heran. „Wollen wir sie rufen?" fragte der Knabe schüchtern. „Küsse sie! Du zuerst." „Nein du." — „Glaubst du etwa, daß ich mich fürchte?!' „Ja gewiß nicht!" entgegnete der Kleine und drückte scm« roten Lippen auf die weißen der Ruppe! Merkwürdig vollzog sich das Wunder nun, weil der heilige Abend herannaht« oder weil di« Kinder an das Leben glaubten, das sie ihrer Schneepuppc mit allem Ernst einzuhauchen bemüht waren — es er füllte sich ihr kindlicher Wunsch — und Schneewittchen erwiderte den Kuß in ihrer -arten, kalten We.se. „Guten Tag Schneewittchen!" — „Guten Tag!" ant wortet« das Schneekind, bewegte sein« Schultern, atmete leicht auf, trat an Nurka heran und küßt« sie.' „O, wie bist du kalt!" sagt« dos klein« Mädchen. „Dafür bin ich ja auch Schneewittchen!" — „Willst du mit uns spielen?" — „Gern," und all« drei begannen durch die Gartenwege zu laufen. Sie wid meten sich so eifrig dem Spiele, daß Mama dreimal rufen mußte, nachdem der Tisch schon längst gedeckt war. Der Vater nahm schließlich Schal und Mütze und ging die Kinder holen. Sie liefen an ihm vor- bei, und cs waren nicht nur Schurka und Nurka, son dern auch ein drittes Kind, ein liebliches, weißes Mädchen, mit einer leisen Röt« auf den Wangen. Ihr Anzug war nicht zeitgemäß. Das Röckchen zu dünn und zu kurz. Schuhe und Strümpfe paßten für den Sommer, aber nicht für den kalten Winter. „Wo kommt die Kleine her?" fragte der Dater. „Kinder, führt sie in» Haus! Sie erfriert sonst!" Jauchzend sagten di« Kinder wie aus einem Munde: „Papa, das ist unser Schwesterchen, unser Schneewrtr- chcn, wir haben sie selbst gemacht, aus weißem Schnee, und sie wird mit uns spielen — den ganzen Winter und dann —, im Frühling geht sie auf di« hohen Berge." Der Vater schüttelte den Kopf und sprach: „Dumme Phantasien! Vorwärts ins Zimmer, du er- friest ja. Klein«! Du mußt dich wärmen." Und er nahm Schneewittchen bei der Hand. „Ihr habt schön gesorgt für euren Gast, sie hat ja Hände wie Eis!" und er führte sie dem Hause zu. „Dort darf ich nicht hinein," flüstert« Schneewitt chen stehenbleibend. „Papa, laß sie hier, sie wird in der Laube schlafen, im Zimmer taut sie auf!" so baten die Kinder. — Doch der Vater gab ihnen kein Gehör. Er nahm das kalte Schneewittchen auf den Arm und trug es ins Zimmer. „Sieh nur, Njutotschka," sagte er zu seiner Gattin, ins Eßzimmer tretend, „welch em halberfrorenes, kleines Mädchen und in einem Kleid chen!" „Ach Gott, das arm« Kind, setze es an den Kamin!" Doll Schrecken riefen die Kinder: „Mama, Papa, was macht ihr, Schneewittchen wird sich auf lösen, cs ist ja unser Schneewittchen!" Die Erwachsenen bilden sich ein, daß sie alles besser wissen. So wurde denn Schneewittchen in einen großen, weichen S«ffel dicht vor dem Kamin gesetzt. „Haben wir Gänseschmalz im Hause?" fragte der Pater. Und als di« Gatttn es verneinte, sagte er: „Ich gehe selbst in die Apotheke. Man mutz dem Kind« Nase und Ohren einreiben. Sie sind ja schon gan» weiß vom Frost. Und du hüll« die Kleine in- zwischen in warme Decken!" Er ging fort. Di« Mutter holte aus ihrem Schlafzimmer einen dicken Plaid und bedeckt« Schneewittchen. Schurka und Nurka standen verlegen und ängstlich da und blickten aus ihre Schneepuppe. Dieser schien es im Zimmer zu gefallen. Sie saß ruhig im Sessel, schaute ins Feuer, lächelt« und — taute allmählich. „Schneewittchen, Schneewittchen!" rief Nurka, „fpring auf, komm, wir öffnen dir di« Türe und du läufst m den Frost hinaus!" „Ich kann von hier nicht mehr fortkommen, ich sterbe," erwiderte leise Schneewittchen. Auf dem Boden bildete sich eine Wasserlache. In dem tiefen Sessel saß noch das »arte Schneewittchen, dessen Händchen und Füßchen schon aufgelöst waren. Mit leiser Stimme hauchte es noch: „Ich sterbe," und bald war nur noch ein Schneeklümpchen im Sessel zu sei,en. — Die Kinder fingen laut zu schluchzen an. Die Mutter brachte noch ein warme» Tuch. Der Dater k«:a> mit dem Gänseschmalz au« der Apotheke. „Wo ist denn das kleine Mädchen geblieben?" fragten st«. „Aufgelöst!" sagten schluchzend di« Kind«r. „Warum habt ihr st« fortgelaflen?" fragte der Dater ärgerlich. „Sie hat sich selbst aufgelöst," ver- ficberten die Kleinen. Di« Großen und di« Kleinen blickten auf die Schneeüberrest« und auf di« Wasserlache. Si« konnten einander nicht verstehen und machten sich gegenseitig Vorwürfe. „Warum wurde Schneewittchen an» Feuer gesetzt?" „Warum ließet ihr das Mädchen fort, «he e» sich erwärmte?" „Papa Kat was Schlimme« getan; er hat unser Schneewittchen umgebracht!" „Dumme Kinder, was redet ihr da für ungereimtes Zeug!" „Schneewittchen ist aber aufgelöst, und wieviel Schnee hatten wir herbcigeschleppt!" Di« Kleinen weinten, und die Grotzen mußten sich ärgern und auch lachen. Aber Schneewittchen war nicht mehr da. D«»»ich M»rt« v«tz»«rt»G. Lazarus Don krsnll Di« Insel Eapri hat zwei Gemeinden, Capri und Anacapri. Schon der Name Anacapri scheint «inen Antagonismus zwischen dieser Gemeinde und der Lchwcftergemeinde anzudeuten, und eine Untersuchung der Wirklichkeit bekräftigt das phonetische Indizium. Lopreser und Anacapreser hegen keinerlei Achtung füreinander. Die Lapreser verachten Anacapri al» «'nen Sitz des Obskurantismus und der ländlichen Rückständ.gkeit; di« Anacapreser sehen von ihrem Felsen schauend auf Eapri hinab, dessen Großstaüt- allüren es in ihren Augen so ziemlich auf eine Stufe mit Neapel stellt. Eapri hat 3S00 Einwohner, Ana capri 1200. Aber der Antagonismus erstreckt sich auch auf das religiöse Gebiet. Eapri» Schutzheiliger heißt San Costanzo; und di« Anacapreser sagen Mitleid.« von diesem Heiligen: „Lostanz? non d buon santo , er ist kein guter Heiliger! Anacapri» Schutzheiliger beißt Sant' Aritomo; und die Lapreser sagen mit wiederholtem verachtungsvollem Achselzucken: „An tonio? d santo cattivo", das ist ein schlechter Heiliger! Durch Jahrhunderte ist ein unentschiedener Kampf zwischen diesen beiden Heiligen gekämpft worden; Capri hat auf seinen gehalten, Anacapri auf den seinen. Der eine Heilige hatte nicht einen Proselyten zu verzeichnen, der dem anderen genommen wäre. Da ereignet« sich im Februar 1922 der Fall Scipione Taranzttla und änderte mit sinem Schlag« di« Sach- löge zu Sant' Antonios Gunsten. Scipione Taranzella war ein Dauer und wohnt« in Anacapri. Lr hatte ein Haus in der Umgebung der Stadt, ein großes Haus mit einem Stall für die Kühe und Ziegen in der «inen Hälfte und dem Zimmer für di« Familie in der anderen. Er hatte ern paar tausend Quadratmeter Erde, di« abgerutscht wäre, wenn man sie nicht mit Hilfe vieler Steinterrassen in horizontaler Laye erhalten hätte. Die Erde war in Vierecke eingeterlt; auf diesen Vierecken wuchsen Ge- müse; zwischen den Vierecken standen Pfirsich- und Pflaumenbäum«; und von Baum zu Daum schlängel ten sich die Weinranken. Im Frühling, wenn die Pfilsichbäume rot leuchteten und die Pflaumenbäume weiß, während di« Ranken grüne Bänder zwischen ihnen knüpften, war Scipione Taranzellas kleiner Besitz eine Symphonie der italienischen National- färben. Scipione hatte nicht viele Kinder, nur vier Söhne, die sich ständig in den Haaren lagen und nur in einem Punkt« einig waren: in der Hoffnung, daß Scipione Taranzella bald sterben und ihnen alles hinterlassen würde. Scipione Taranzella täuschte diese Hoffnuna Jahr für Jahr. Er ging oft in die Messe und opferte fleißig Sant' Antonio, Anavapri» Schutzheiligem. Dank dieser Vorsichtsmaßregeln halt« er ein Alter von öS Jahren erreicht, al» er am Mon tag, den 20. Februar 1922 von dem Unerbittlichen erreicht wurde. Ein Arzt konstatiert« den Todesfall, und sein« Leiche wurde zur provisorischen Ruhe in einen I Schuppen gelegt, um dort das Begräbnis abzuwarten. Die Erben eilten zu einem Advokaten und ließen sich das Testament vorlesen und stempeln. Es stellte sich heraus, daß Scipione Taranzellas irdische Hab« zu vier gleichen Teilen zwischen die vier Söhne ge- teilt war. Soweit war alles gut und schön, als das Un erhörte, das Unglaublich« sich ereignete. Scipione Taranzella, der tot war, der «in ärztliches Aeugni» darüber hatte, daß er tot war, stand in frechem Trotz gegen die medizinische Fakultät von den Toten wieder auf. Er war nur scheintot gewesen; plötzl'ch erwacht« er in dem Schuppen zum Leben, klopfte an die Tur, wurde herausgelassen und stand aufs neue iw Kreise einer erschrockenen, einer vor Entsetzen ge lahmten Familie. Der erste Gedanke der Söhne, daß ein Betrüger den Platz des Vaters eingenommen hatte, mutzte wieder aufgegeben wenden. Die Bahre im Schuppen war leer. Der vor ihnen stand, war Scipione Taranzella und kein anderer, nur etwas an- rasierter als vor dem Todesfall. Scipione Taranzella, der tot gewesen, war wieder lebendig; auf die vor- wurfsvollen Fragen der Kinder, was er mit einem solchen Betragen mein«, antwortete er nur: „Ich lebe, und zwar dank dem guten Sant' Antonio! Ich bin hungrig. Gebt mir etwas zu essen." Das Gerücht von dem Dorgefallenen verbreitete sich mit Blitzesschnelle in Anacapri und von Anacapri nach Eapri, der Heimatstätte der Großstadtgewohn- heiten und der Skepsis. Eapri erbleichte; Sant' An- tonio, den die Lapreser seit Jahrhunderten verachtet und un santo cattivo genannt hatten, Sant'Antonio hatte einen Mann von den Toten auferweckt! Hatte wohl San Costanzo je etwas Aehnliches auf seiner Kreditseite zu verbuchen gehabt? Nein. Vergeben trugen die Geistlichen von Capri San Costanzos Bild in einer Prozession durch die Straßen von Capri; ein wicderauferstandener Mensch macht mehr Effekt al» ein toter Heiliger. Niemand sah Costanzos Bild an; dir Lapreser strömten scharenweise nach Anacapri hinauf, um in Demut zu versuchen, an Sant' Antonio putzumachen, was sie gegen ihn verbrochen hatten. Der Klerus von Capri war verzweifelt. Das Gleich, gewicht im Heiligenkalender ist ebenso wichtig wie do» europäische Gleichgewicht und muß aufrechterhalten werden. Aber di« Verzweiflung der capvesischen Geist- lichkeit war unberechtigt. Da» Gleichgewicht im Hei ligenkalender sollte bald wiederhergestellt werden. Wer es wiederherstellte, das waren di« Repräsentanten der italienischen Justiz. Scipione Taranzella» erster Gedanke, nachdem er zum Leben zurückgekehrt war, Sant' Antonio zu opfern; der wachste war, di« Arbeit auf seinem Besitz wieder aufzunehmen. L» war Zeit, die Erd« für das Gemüse umzugraben; di« Pfirsiche blühten schon. Scipione Taranzella nahm seine Hocke und schickte sich an, an di« Arbeit zu gehen. Daran sucht« ihn nie- mand zu hindern. Aber al» er auf da» Feld yinau»- ging, sagten seine vier Sohn« zu ihm: „Du gedenkst zu arbeiten? Das ist gut, es ist an der Zeit. Aber du bist dir doch im klaren? Es ist unsere Erde, die du aufhackst, denn du hast sie un» in deinem Testament gegeben, und du bist tot." „Ich bin tot?" rief Scipione Taranzella. „Seht ihr nicht, daß ich lebe?" „Du kannst nicht lebendig sein," sagten die Söhne, „denn der Doktor hat «in Attest geschrieben, daß du tot bist. Und Herr Advokat Pawpini hat dein Testa ment gelesen und ein« Mass« Taffabolli, Stempel, darau foeklebt." „Ich werd« euch sthon zeigen, »- ich tot bin," brüllt« Scipione Laranzella, der für sein« Jahve nsch recht kräftig war. Damit ging man zu Handgreiflichkeiten über. Aber von den Handgreiflichkeiten ging mau zu etwa» über, was schlimmer war, zu den Advokaten. Scipione Taranzella wendet« sich an Herrn Advokaten Nuggieri, die Söhne an den, der das Testament gelesen hatte, Herrn Advokaten Pampini. Es wurde ein spannender Rechtsstreit. * Herr Advokat Ruggieri sagte: Ls ist klar, daß mein Klient, Scipione Taranzca.-, in seine Rechte wiedereingcsetzt werden muß. Wie sollte man ihn derselben berauben können? Nur kraft seines Testamentes. Aber damit sein Testament Rechtskraft besitze, ist erforderlich, daß derjenige, der es gemacht hat, wirklich tot ist." Herr Advokat Pampini sagte: „Diese Forderung ist in allen Teilen erfüllt. Hier in meinen Händen habe ich ein Fede di morte, einen Totenschein, ausgestellt von Doktor Nespoli, und gültig für den Kläger Scipione Taranzella, Bauer i» Anacapri. Herr Dr. Nespoli war bei dem Tode de» Klägers anwesend. Herr Dr. Nespoli» Zeugnis ist mit der gesetzlichen Anzahl Tassabolli versehen. Herrn Doktor Ncspolis Zeugnis ist in der Sache ent scheidend." Herr Advokat Ruggieri sagte: „Herrn Dr. Nespolis Zeugnis, das ich im höchsten Gra« respektiere, ist sub Petition« principii, unter falschen Voraussetzungen. Vivere est facultatibu« omnibus ufu fruere, juridisch lebendig ist der, der im Besitz seiner Körper- und Geisteskräfte ist. Brauch« ich meinen lieben, illustren Kollegen, auf dies« Defi nition aufmerksam zu machen? Und will mein Kollege bestreiten, daß mein Klient kraft derselbe« juridisch lebendig ist?" Herr Advokat Pampini sagte: «Brauche ich meinen lieben, illustren Kollegen auf eine andere Definition aufmerksam zu machen? Mor- tuus est qui praesentia testorum animam reddidit, tot ist der. der in Anwesenheit von Zeugen den Geist aufgegeben hat. Und will mein Kolleg« bestreiten, daß sc«n Klient kraft derselben juridisch tot ist?" Herr Advokat Ruggieri sagte, nachoem er ein neuerliches Honorar seines Klienten entgegengenom- men hatte: „Ich gebe dies zu, aber ich bitte meinen lieben, illustren Kollegen, zuzugeben, daß es sich theoretisch wie praktisch denken läßt, daß ein Mensch, nachdem er in Gegenwart von Zeugen den Geist aufgegeben hat, zum Äben wiedererwacht." Herr Advokat Pampini sagte, nachdem er ein neuerliches Honorar seiner Klienten in Empfang ge nommen hatte: „Nein! Nego principium. Ich negier« das Prin- zip; es widerstreitet direkt dem, was von jener Macht gelehrt wird, di« in Dingen, di« den Tod betreffen, den Ausschlag gibt, der katholischen Kirche. Die Kirche sagt ausdrücklich: Einmal sterben und dann das Gericyt. Ich lenke di« Aufmerksamkeit meines hervor ragenden Kollegen auf das Wort „einmal sterben". E» ist nicht von zwei- oder dreimal di« Rede, sondern von einem Male. Will mein lieber, illustrer Kolleg« da» in Abrede stellen?" Herr Advokat Ruggieri sagt«, nachdem er neuerlich Geld von seinem Klienten empfangen hatte: „Ich greis« mit Vergnügen das Argument meine» lieben, illustren Kollegen auf. Es ist wahr, daß di« Lehre der katholischen Kirche die Wort« enthüllt, die mein Kollege anfiihrte. Aber mein edler, illustrer Kollege wird wohl zugeben, daß gerade di« Schriften ter Kirche, auf tue er sich beruft, Fälle, ja wiederholte Fäll« von der Rückkehr der Toten ins Leben er wähnen!" „Wie? Was hör« ich? Mein lieber, illustrer Kolleg« sucht die unerhörten und aufreizenden An- sprüche seines Klienten durch Zitate aus der heiligsten aller Schriften zu stützen! Mein Kollege scheut sich nicht, Analogien zwischen den Fällen der Wieder- auferstchung, di« in den heiligen Schriften erzählt werden, und diesem Falle, der einen verstorbenen Bauer in Anacapri betrifft, zu finden? Ich warne meinen lieben illustren Kollegen, auf diesem Wege weiterzuschveiten. Ich beeile mich, die Aufmerksam. Kit meines Kollegen auf Paragraph 12, Punkt 1 im Strafgesetzbuch zu lenken sowie auf Paragraph 29, Punkt 3 desseben Gesetzes über Religionsverletzung." Herr Advokat Ruggieri rief, nachdem er das letzte Geld seines Klienten in Empfang genommen hatte: „Ueber Aufforderung meines edlen, illustren Kol- legen lass« ich dies« gefährliche Form der Beweis führung fallen. Da mir weder das bürgerlich« noch da» kirchliche Recht ein« Stütze gibt, will ich mich ganz einfach an di« gesunde Vernunft halten. Die ge'unde ilkrnunft sogt, daß, wenn ein Mensch tot ge wesen ist und der Tod dieses Menschen noch so bezeugt worden ist, alle dies« Zeugnisse damit, daß er in» Leben zurückkehrt, eo ipso ihre Beweiskraft verlieren. Di« gesunde Vernunft muß mit einem Wort den Aus schlag geben und mein Klient in sein« Rechte wieder- eingesetzt werden." Herr Advokat Pampini rief, nachdem er da» letzte Gcld feiner Klienten in Empfang genommen hatte, m>t einer Stimm«, die vor Entsetzen bebte: «Im eigensten Interesse meine» lieben, illustren Kollegen beeil« ich mich, ihn in dem unerhört gcfähr- lichen Raisonnement, in das er sich eingelassen hat, zu unterbrechen. Wie? Den unerhörten, im Gesetz nicht vorgesehenen Fall angenommen, daß ein Mensch, der rot war, wirllich zum Leben zurückkehrt — darum sollten die Zeugnisse, die staatlich geprüfte Beamte über seinen To« ausgestellt haben, vor den Gerichts- Höfen de» Staates ihre Beweiskraft verlieren? Dies« Zeugnisse sollten bei den Richtersprüchen, di« diese Gerichtshöfe fällen, nicht den Auvschlay geben? Da« ist eine dermaßen gesetzwidrige Beweisführung, daß uh zittere, wenn ich sie anhör«. Brauche ich die Auf- merksamkeit meines edlen, illustren Kollegen auf Para- araph 1, Punkt 1 de» Gesetzes de» Königsreichs Italien zu lenken, da» feststellt, daß aus Stempel- Papier ausgestellte Zeugnisse überall vor allen anderen Zeugnissen Beweiskraft vor den Gerichtshöfen de« Staate» haben? Brauche ich die Aufmerksamkeit meine» Kollegen darauf zu lenken, daß die Entscheidungen bei diesen Gerichtshöfen nach solchen Z-ugniffen gefallt werden und nicht nach irgendeiner sogenannten ac- sunden Vernunft? Brauche ich die Aufmerksamkeit meine» lieben, illustren Kollegen auf di« Konsequenzen
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