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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 11.12.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-12-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192312113
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19231211
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19231211
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-12
- Tag 1923-12-11
-
Monat
1923-12
-
Jahr
1923
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Vom Tage heraus mit -em tv.rt-estSn-igeapfemn-! Mit Genugtüunq ist zu bemerken, daß in letzter Zeit die Durchdringung des Verkehrs mit wert, beständigen Zalilungsmitteln starke Fortschritte ge macht bat. Wem. dabei der Gedanke maßgebend war, möglichst vie. Markeinbeiten auszugeden, so entsprach das wohl dem dringendsten Bedürfnis. Anderseits ist es ubrr wünschenswert, daß neben der Rentenmart, der Notgeldmark usw. auch eine ge. Lügende Menge wertbeständigen Klein- Weide» in den Verkehr gelangt. An diesem für Dechselzwecke bestimmten Zahlungsmittel besteht aber zurzeit ein sichtlicher Mangel. Denn, wie wir festgestellt haben, beispielsweise ein Kaffee- Hauskellner am späten Abend wohl 30 Goldmark ein. genommen hat. dagegen an wertbeständigem Klein, gelb nur ein Fünfzig-, ein Zwanzig, und ein Zehnpfennigstück in seinem Kassenbcstande ausweist, so ist dao ein krasses Mißverhältnis. Erfahrungen ähnlicher Art wird aber mehr oder weniger jeder Geschäftsmann nach Kaffenschluß machen können. Obgleich die im Verkehr befindlichen Papiergeld- mengen zum Wechseln bisher ausreichend gewesen sind und infolgedessen der Mangel an wertbeständi gem Kleingeld noch keine besonderen Störungen hervorgerusen hat, so muß doch im Hinblick auf die zur Einlösung gelangende Papiermark sofort dafür gesorgt werden, daß nunmehr Rentenpfennige, wertbeständiges Kleingeld der Handelskammern, des Meßamtes usw. herausgcbracht werden. Es soll da- mit nur allen Stockungen, die leicht eintretcn können, beizeiten vorgcbeugt werden. Auch angesichts des Preisabbaues ist es von Wichtigkeit, daß mit möglichster Beschleunigung wertbeständige Kleinzahlungsmittel in Menge in den Verkehr kommen. Die Preisnachlässe, die bisher in Mark voraenommen worden sind, werden sich schließlich in Pfennigen vollziehen. Bei Knappheit an Kleingeld aber ist der Verkäufer leicht geneigt, die Warenpreise nach oben obzurun- den. Damit wird der Abbau aber ein gutes Stück verzögert. Es kann daher die Forde, rung nach dem wertbeständigen Pfennig nicht dringend qenuq erhoben werden. X. Eisenbahnnotgeld ist gut! Ilm den in der Öffent lichkeit aufgetauchten Zweifeln entgegenzutreten, wird nochmals tmrauf aufmerksam gemacht, daß die Reichs- bank auf Papiermark lautendes Lisenbaynnot- geld in Zahlung nimmt und auch Zahlungen auf Girokonto von dritter Seite annimmt. Um den Zahlungsmittelumlauf flüssig zu halten, werden alle Empfänger dieses Eisenbahnnotgeldes dringend er- sucht, es wieder in Verkehr zu setzen, anstatt es zur Einlösung zu präsentieren. Die Einlösung rrrrd seinerzeit planmäßig erfolgen. Wie schon Lirdergt.lt bekanntgemacht, behandelt die Reicksbank wert, beständige» Notgeld, gleichgültig, wer ver Aussteller ist, nicht als Zahlungsmittel, sondern al« Anleihen»?«. Im Geschäftsverkehr ist dagegen dar wertbeständig« Gisenbahnuotgeld wie die Goldanleihe selbst voll wertige» gängige» Zahlungsmittel. E» ist in vollem Umfange durch Goldanleihe und Gold- schatzanwcisungen des Reiches gedeckt und wird später t» kleine Goldanleihestücke umgetauscht werden. Preise unverändert Markthallenwanderung Eine besondere Veränderung war am Montag in der Leipziger städtischen Markthalle nicht zu bc- merken. Die Fleischstände hielten, wie immer zum Wochenbeginn, geschloffen. Die F schhändler boten nur ganz geringe Mengen Seefische an. Portions- schellfsche sollten 25 bis 30 Pfennige, grüne Heringe 68 Pfennige kosten. Matjes stellten sich auf 40 Pfennige dar Stück, Salzheringe auf 30 b » 80 Pfennige da» Pfund. Gefrierfleisch wurde in reichlichen Mengen zum Sonnabendspreise ab- gegeben. Fettwaren hielten ebenfalls die letztnotierten Preise. Naturbutter war am Montag w eder für 2^ Goldmark da« Pfund zu haben. Einzelne Händler hielten noch an 3 Mark fest. Eier kosteten noch immer 30 Pfennige. Amerikanisches Schweine, fett war auf ILO Goldmark zurückgegangen. Auch Weder Strumpf noch Schuh Die Aot -er Zeit im Spiegel einer Schulklasse geräucherter Speck konnte etwa» billiger verkauft werden. Er hatte sich dem Salzspeck angepaßt. Beide Sorten wurden mit 1,6 Mark notiert. Kartoffeln stellten sich auf 6S Pfennige für lO Pfund. Salatkartoffeln sollten 70 Pfennig« kosten. Meerrettich war von 100 auf 80 Pfennige gesunken. Die übrigen Gemüsesorten hielten un verändert die Sonnabcndsprcise. Aufhebung der GchlLsselzahl i» Buchhandel. Der Vorstand des Vörsenverein« der Deutschen Buchhändler und des Deutschen Verleger- verein» in Leipzig qibt bekannt, daß für den Buch, handel die Fortführung einer besonderen Schlüssel- zahl-Nechnunq zum Ausgleich der Geldentwertung entbehrlich geworden ist, weil die gesamte Wirtschaft sich auf Doldrechnung umgestellt hat. Der für «in Buch zu entrichtende Betrag ist aus dem Goldmarkpreise «Grundzahl) wie im übrigen Handel ohne weiteres an Hand des letzten amtlichen Berliner Rittelkurses des Dollars zu ermitteln. Der Preis der Eiuhetleu. Wie der Rat in der heutigen Nummer bekannt macht, ist die Geltung», dauer der Einheiten zur Bezahlung der Gas-, Strom, und Wasserrechnungen vorläufig bis einschließlich Rechnung d. i. für die Verbrauche, die bis zum 31. M 'rz 1924 abqelesen werden, verlängert worden. Die Erhebung der LandeskuUurrentru wirld vor läufig eingestellt. Mit Rücksicht auf das Urteil de» Re chsgerichts über die Aufwertung der Hypotheken ist auch eine Aufwertung der Landeskulturrenten zu erwarten. Nach einer Bekanntmachung in der „Säch sischen Staatszeitung" hat die Landeskulturrenten bank die Gemeinden ersucht, bis auf weiteres von der Erhebung der Landeskulturrenten abzusthen. Be steht jemand auf Zahlung seiner Rente, so hat die Hebebchörde die Zahlung zwar anzunehmen, aber die weiteren Rechte der Landeskulturrentenbank ausdrücklich vorzubehalten und dies in der Quittung zu vermerken. Aufhebung de» besonderen Schalterschluffe» für Geldeinzahlungeu bei der Post. Nachdem durch di« Einführung der Rentenmark.Postanwei sung en eine Entspannung im Geldüber- Weisungsverkehr eingetreten ist und die Verhältnisse -»r, n-b«' ' b b<-v e 4e schränkung der Annahmezeit für gewöhnliche und telegraphische Geldeinzahlungen zum gewöhnlichen Gebührensatz — in Leipzig und den eingcmcindeten Vororten 4 Ukr nachmittags — vom 10. Dezember ab wieder aufgehoben. Die Postschalter im Post- gebäude am Augustusplatz sind indessen vom gleichen Tage ab für den gesamten Verkehr mit der Bevöl- kerung aus Betriebsrückstchten nur bis 6 Uhr nach- mittags geöffnet. Zum Einkauf von Postwertzeichen in kleineren Mengen bietet sich auch nach 6 Uhr Ge legenheit bei der Telegrammannahme (Grimmaischer Gteinweg). Leipziger Teuerungszahl 1V. 12.: 10VS24 Milliarde«. 7. 12.: 112 S77 Milliarde«. Der innere Wert der Mark ist am 10. Dezember, gemessen an der Teuerungszahl de» Statistischen Amt» Leipzig (109 624 000 000,—), gestiegen seit 7. Dezember um 3 Proz., seit S. Dez. um 11 Proz., seit 3. De», um 19 Proz., seit 30. November um 30 Proz., seit 28. Nov. um 20 Pro»., seit 26. Nov. um 20 Proz., seit 23. Nov. um 14 Proz. Der Wertde« Pfennig» für die Berechnung der städtischen Gebühren beträgt unser- ändert 10 Milliarden Mark. 3» der ,Leipziger Lehrerzeitung" schrieb «in Lehrer folgenden Bericht, dessen grausame Tatsachen von der Not der Kinder Bände sprechen: Nicht über statistische Ergebnisse, nicht über Messungen und Wägungen will ich berichten — ich glaube, man kann mit Statistiken so ziemlich alles beweisen, was man möchte —, sondern darüber, was ich in meiner Klaffe täglich erlebe und was mich täglich bewegt. Ich bin an einer Volksschule in der Großstadt und habe eine Eonderklaffe mit 19 Mädchen von ca. elf Iabren. In einer Zeit der Rot geboren, sind viel« von ihnen seit ihren ersten Tagen ver- urte.lt gewesen, Not und Entbehrungen in reichem Maße auszukostrn. Wenn ich mrt Farben ein Bild der Klaffe malen wollte, müßte iw viel Grau nehmen und könnte nur vier oder fünf bunte Flecke ousfehen. Es ist ohne weitere« auffällig, daß diese unheimliche, undefinierbare Farbe vorherrscht. Und doch mag es mit dem, was wir auf den ersten Blick sehen, noch gehen. Denn auf die Obcrkleiduna halten die Mädchen noch am ehesten. Trotzdem finde ich immer wieder Risse und Löcher in den verwachsenen, zerschlissenen Röcken, weil das Stopfgarn zu teuar ist oder weil bei jedem Stich die Löcher größer werden. Wie viele Knöpfe fehlen auch, weil sie unerschwinglich sind! Zwei Mädchen meiner Klaffe haben nur ein ganz notdürftiges Kleid. Aber, wenn ich nun gar in den Tiefen forsche! Es gibt Kinder, die überh«»,h>t kei«e eigene Wasche haben Ich hätte weinen mögen, als ich das erste Mal ein Kind sah in Hemd und Hose seiner Mutter. In meiner Klaffe sind fünf Kinder, d e ab und zu ohne Hemd in die Schule kommen, nämlich wenn das einzige gewaschen wird oder ganz zerrissen ist. Mit den Strümpfen ist es ähnlich. Acht Mädchen haben bloß ein einziges Paar. Dabei wird di«, die ein Paar Socken ihre» Vaters trägt, noch viel beneidet von einer anderen, die nur ein Paar weiße hat. Sechs Kinder halten die Strümpfe mit Stü cken hoch. Und Schuhe? Glücklich die sechs, die ihr einziges Paar Schuhe noch in Ordnung haben, drei haben überhaupt keine ordentlichen Schuhe. Auf einer Wanderung hatte «in Mädchen die Schuhe der Mutter an, in die die Füße bald zwe'mal gepaßt hätten. Eine andere trug die ehemaligen Turnschuhe des Bruder», die fast keine Sohlen mehr hatten. Und wir stehen vor dem Winter! Acht Kinder haben zu Hause keine warmen Schuhe. Sie gehen barfuß, wenn sie mit nassen Füßen nach Hause gekommen sind. E n Dkädchen hat keinen Mantel und elf keine Handschuhe. In sechs Familien existiert überhaupt kein Regen- schirm, in sechs anderen nur einer, so daß zwölf Kinder, wenn er regnet, in nassen Kleidern in der Schule sitzen müssen. Ost habe ich darüber nach, oedackt, wie unter diesen Umständen das gerecht- fertigt werden kann, daß in anderen öffentlichen Ge- Hauben immer eher und länger geheizt wird als in den Volksschulen. Daß die Gesundheit «nserer M«der stark g-fährd« ist. wird auch erhellt, wenn man hört, daß von 19 K ndern sieben überhaupt kein Taschentuch haben und fünf nur eins. Das eine ist geschenkt oder gefunden worden. Acht Mädchen haben keine Zahnbürsten. Mit der Sauberkeit ist» eine schwieriae Sache. Seit 1'4 Jahr versuche ich vergebens, oa» Ungeziefer von allen Kövse-- ganz wegzubringen. „Da» Petroleum oder der Essig sind so teuer", „Wir haben immer kein warme» Wasser", „Bei uns ist cs immer so dunkel", „Mein? Mutter sieht so schlecht nud hat keine Brille", da« sind fs die Erklärungen, die immer gegeben werden. Die Sauberkeit am Körper ist auch nicht die beste) Und da» hangt wieder mit der Wohnungsnot zusammen. 16 Kinder müssen sich im Wohnzimmer oder in der Küche waschen, wo meist Erwachsene dabei sind. Eine wäscht sich an der Wasserleitung aus der Treppe. Dabei ist mir schon sechsmal gesoGt worden, es sei keine Gelse im -a«se. IS Kinder haben im Hause kein Pad. Ist e» — wenn man das weiß — zn verstehen, daß die Bäder nicht mehr frei sind für Volksschulklassen? Von 19 Kindern haben 13 k e i n e i g e n e s Bet t. Sech» schlafen mit der Schwester, drei mit der Mutter, zwei mit dem Bruder (vier- und neunjährig), ein Mädchen mit dem neunjährigen Neffeir. Sie selbst ist syphilitisch und der Neffe blasenleidenb. Das Bett steht in einer bretterverschlaaenen Bodenkammer bei dürftigstem Licht. Und rin Mädchen schläft mit ihrer Pflegemutter und einem zweijährigen Jungen, also zu drrtt, m einem Bett. lieber Wanzen in den Betten klagen lech», zwei über Schwaben und Ruffen. In drei Fällen schlafen fünf Menschen in einem kleinen Zimmer, in einem anderen sechs. Ohne Luft und vielfach ohne Helles Licht sind die engen Räume. In zehn Familien von 19 wird noch m t Petroleum beleuchtet. Und wenn das zu teuer ist, auch mit Karbid und dürftige« Kerzen. Ein ganz trübes Kapitel ober ist die vr«Lhru«ss. Zwölf Kinder trinken überhaupt keine Milch mehr, zwei esien auch nie mehr Fleisch und Wurst, fünf meist trockenes Brot oder Kartoffeln. Sech» Kinder bekommen früh zu Hause nichts zu essen, fünf von ihnen und noch drei andere auch kein Schulfrühstiick. Drei Mädchen bekommen in den letzten Wochen oft den ganzen Tag n chts Warmes zu essen, denn sech» haben keine Kohlen im Keller und vier gar ke ne Kartoffeln. In der letzten Woche fehlten drei Kinder wegen Hungers. Ja, warum haben diese Familien denn nicht vorgesorgt? Weil fünf Väter seit langem arbeitslos sind, drei verkürzt arbe ten und vier au« anderen Gründen in Not leben. Soll ich mich wundern, daß die Kinder blaß werden? Daß sie im Turnen nichts Rechtes leisten? Daß bei Wett spielen immer dieselben siegen? Daß die Gesichter oft trüben und matten Ausdruck zeigen? Oder soll ich mich erbosen, weil die Aufmerksamkeit und die Schularbeiten nicht ganz so geleistet werden, wie in unserer K «derzeit? Wie leicht war uns alles ge- mackst! Die Kinder meiner Klasse haben »ehr Sargen, al» sie Areude habe». Sieben Mädchen haben im letzten Jahre überhaupt nicht» zum Geburtstag bekommen. Zwei haben außep den Klassenspaziergänqen noch nie emcn Ausflug ge- macht. Ja, zwei lind noch nie mit der Elektrischen gefahren. Vielleicht ist der Mangel an Freude noch nicht da» Quälendste für die Kinder. Was man n ckt kennt, vermißt man nicht so schwer. Aber dm Roheit, der sie oft preisgegeben werden, wenn überreizte Väter und Mütter sie schlagen, so daß blutige Striemen bleiben, wie ich s bei e nem Mädchen ost gesehen habe. Und wie müssen sie seelisch leiden, wenn die sieben Mädchen, die mir das nun schon an vertraut haben, Zeuge waren, daß der Vater die Mutter schlng. Was alles mögen sie erlebt haben, von dem ich gar n chts we'ß! Wenn ich da» alles bedenke, kann ich nicht sagen: Unsere Kinder sind schlecht. Nein. Unser« Kinder leben in größter Not. In leiblicher und darau» entspringender sittlicher Not. Oer Choral vom großen Baal Altes Theater Dem großen Vaal opferten die Juden, wenn sie » mit Jehova verdorben hatten. Der große Baal, der Heidengötze, ist sehr brutal, und Bertold Brecht» kleine, Baal — ein Dachkammerpo«, mit dem es nickt zum besten steht — ist auch brutal. Da- her ungefähr der Name. Als man im Februar diese» Jahres die „Trommeln in der Nacht" im Schau spielhaus« vorführte, schrieb ich, es sei in Brechts Stücken allen, auch in dem wüst-verknäuelten „Dickicht", ein bißchen vom Urschrei der Kreatur dramatisch artikuliert in den „Trommeln", lyrisch im „Baal". Das ist der Kernpunkt. Der Urschrei würde sich von der Bühne her leichter übertragen, wenn die dramot sck? Struktur fester wäre, wenn der Szenenfolge nicht, zumal in der zweiten H ilfte des — früher geschriebenen — „Baal" die festen Bänder und Gelenke fehlten. Der junge Brecht muß damals viel Hamsun ge- lesen haben. Manchmal klingt es, als ob der große Norweger zitiert würde. So meine ich, daß der wahnsinnige Bettler im Asyl „die letzte Freude" in seiner Bibliothek lmt: „Er stammte aus einem Wald und kam einmal wieder dorthin, denn er mußte sich etwa» überlegen . " Es ist keine Schande für «inen jungen Dichter von heute, wenn er von Knut Hamsun herkommt. Bi» zum Beweis de» Gegenteil« vermuten wir also, daß der Mysteriend'.chter ein sehr starke» Literaturerlebni« de» jungen Brecht gewesen kst. Und daß „Munken Dendt" zu Baal« Vor fahren gehört. Wie der Held in Hamsun« ungespieltem Riesen drama, ist Baal in seinen Beziehungen zum anderen Geschlecht nicht sehr zart und nicht sehr wählerisch. Oo ziemlich da» ganze weibliche Personal des Stadt- theaters wird von ihm in einer Weise in Anspruch genommen, die es erforderlich macht, daß der Vor bang fällt, sobald Baal länger al» eine Minute mit der betreffenden Dame allein geblieben ist. Durch solches Verfahren erregt er gleich in der ersten Szene den Unwillen des Fettburgers Mcch, der ursprünglich gesonnen war, seine Lyrik zu ver- legen. Er erregt« im weiteren Verlauf der Szenen folg« noch heftigeren Unwillen ln weiten Kreise» der verschiedenen Ränge, die seine Lyrik, di« aller- blaß» von Körner sehr schlecht vorgelesen wurde, Nicht ein mal »ehr an höre« „Ute« »ich dir ffhDaen Verse vom Mann, der lm ewigen Wald starb, unter Lachen und Trampeln begruben. 4» Es ist wohl doch am richtigsten, wenn jeder, der entschlossen ist, an einer ihm nicht zusagenden Kunst öffentliche« Aergerni» zu nehmen, das fragliche Lo'al, meinetwegen unter Mißfallenskundgebungen, aber womöglich in der Pause verläßt. Natürlich kann man wirtschaftliche Gründe, wie den einmal erlegten Eintrittspreis, dagegen anführen. Aber über da» Maß von grobem Unfug, zu dem man durch unnütze Ausgabe von 1—4 Goldmark berechtigt wird, bin ich doch mit jenem Mitbürger uneinig, der, als Baal, die übermütige Kreatur, die alles sehr schön fand, auf dem Sterbebett die letzte Not kriegt und „Mama!" ruft; weit entfernt, an da« eigene letzte Stündlein zu denken; durch den Zwischenruf „Papa!" von einer Geistigkeit Zeugnis ablegte, deren Beifall zu er ringen man ängstlich vermeiden sollte. Schließlich, wenn die Zuschauer nickt verstehen, was los ist, dann machen sie dumme Witze, und ein Thoaterflandal in den Pausen ist mir immer noch lieber, als wenn die guten Leute sich über Stöhr oder Montanwerte verständigen. Es hat natürlich wenig Zweck, den Unbefriedigten, mögen sie nun „Papa!" gerufen oder den Wunsch geäußert haben, den Dichter allein zu sprechen, etwa die Handlung zu erklären. Das, worüber immer der Vorhang fallen mußte, haben sie ja nur zu gut verstanden und irrtümlicher weise für die Hauptsache gehalten. Die wirkliche Hauptsache aber, die sie gar nicht verstanden, ist kein« Handlung, sondern eben der „Lhoral vom großen Baal", der in des kleinen Baal» Leben, das man ruhig ein Lasterleben nennen mag, immer wieder hineinklingt. Bedauerlich bleibt nur, daß normale, humanistisch oder ander« gebildet« Bürger auf die Worte etwa: „Wenn ihr Kot macht, ist'» von euch, gebt acht, netter noch, al» wenn ihr gar nicht» macht!" einfach deshalb unfreundlich reagieren, weil sie hinter der groben Form, hinter ihrer abgründigen, meinet wegen ein bißchen lausbubenhaften Lustigkeit den Sinn eines Weltgefühl« nicht verspüren, das der Prediger Salomo mit den Worten „Ein lebendiger Hund ist besser al» ein toter Löwe" vor längerer Zelt weniger anstößig ausgedrückt hat. Die Schwäche diese» Frühwerk» aber beruht keineswegs in seiner Unanständigkeit, sonder» in eine« Mangel an kompositorischer Kraft, di« da» > lhayche Gnmöthema daaa»ffsch nach ntcht an»- I reichend zu instrumentieren vermochte. Derart, daß Brechts Lyrik Brechts Drama zu Hilfe kommen muß, und die Regie, nachdem Baal zu den Sternen hlnausgekrochen ist, um zu sterben, und das Publi kum sich selbst überlassen hat, es vorziehen mußte, dem Parkett wenigsten» die Schlußstrophe des Choral- Prologs noch einmal zu geben: „Als im dunklen Erdenschoke faulte Baal, war der Himmel noch so groß und still und fahl, jung und nackt und ungeheuer wunderbar, wie ihn Baal einst liebte, al« Baal war." So daß man, yenau genommen, die Szenenfolge Baal nur als eine Art gemimter Einlage in den Choral zu betrachten hatte, als szenische Biographie einer im übrigen mehr lyrisch festgclegten Persönlich, keit, eben des p. p. Baal. So wird es denn wohl auch sein. Und man wartet mit einiger Spannung, ob Brecht, der nach „Baal" und „Im Dickicht" mit seinen „Trommeln" da» beste deutsche Krieg», und Nachlriegsstück ge macht hat, den Weg vom Verse-Gestalter und Worte- Former zum Dramen-Erbauer weitergehen wird. Ihn zu spielen, die uneinigen Häupter der Berliner Zeitungskritik, Kerr und Iherlng, nach Leipzig zu locken, und eben noch vor der sanften Weihnacht«, märchenzeit «inen ausgewachsenen Theaterskandal mit großem Schlußapplaus yereinzubrtngen, bleibt Kronacher» Ruhm. * Die Aufführung litt unter der hier nicht besetz- baren Hauptrolle. Körner ist zu reis, zu schwer und im Grund« zu brav. Er gab al» ehrl cher Mann alles, was er hatte, aber es war nicht da» richtige. (Vielleicht würde der nach Berlin über- gesiedelt« Frankfurter Heinrich Georg« die Roll« tragen können.) Der junge Fernau machte den Johanne», einen sanften Pedanten, dem Baal dl« kleine Johanna, «in lichtes Geschöpfchen der Thea Kasten weg nimmt, recht klar. Zeise-Gött zelchnrte den Eckart, Vaals ta der Anlage verschwommenen Lieb- lina, mit wenigen grotesken Linien in Dtask«, Ton uns Gebärde prächtig durch. Die An ton — virgo ckoiorosa — war Baal, stärkste Partnerin. Aber die Weiber find alle Nebenperson«». Darunter bi« Schippang al» Buden wtrttn et», tapfer, Lehmanniad«. Im aanzen lies di« Sach, «lt etwa» Anfänger- tu» in Nebenr»««, ganz «n»e«tch»^, FAx bk -ff- der hat man ja nun den Rundhorizont, und da Brecht sich einen ins Zimmer hincinwachsenden Him- mel, wie er in Berlin sogar bei Shaws „Candida" neuerding« sehr geschätzt wird, schon sür seine „Trom meln" wünschte, hat man sich hier ganz an den Cboral gehalten: „Und der Himmel blieb in Lust und Kummer da, auch wenn Baal schlief, selig war und ihn nicht sah.* In Prosa: auch wenn die Versatzstücke Zimmer be deuteten, waren Rundhorizont, Dolkenapparat und Sternscheinwerfer darüber tätig. Anstatt einer g m- merdecke wurde also sozusagen der Choral vom großen Baal über jeden Bühnenraum gezogen. Diese« Iugendstück mit seiner lyrischen Kraft, dramaturgischen Schwäch« und moralischen Wurschtig, keit paßt auck wirklich tn keinen Innenraum mit einem Deckel darüber. Stubenrein ist es nickt, aber stubendumpf noch weniger. Gsorr Di-et un- Strawinsky Leipziger Oper und Leipziger Schauspielhaus spielten ihre Kräfte gegeneinander aus. Hier „Carmen" — dort die „Geschichte vom Soldaten". Die Kraftprobe wurde zu einer Auseinander setzung der Ideen, der Generationen und ihrer Dogmen; urrussische« entfesseltes Theater gegen ei« Oper der reifen europäischen Zivilisation. Wie die eigenen und die erborgten Kräfte beider Theater unbewußt für die Ideen gegeneinander fochten — warum die Kräfte der Oper erlahmen mußten, warum Strawinsky da» aufrüttelnde Er- lebni» blieb —, das soll de« näheren morgen unter sucht werden. G S- Fvvkfprücke -an Amaadfen. Wie die „Press. Neuesten Riuyr." melden, fängt da» Observatorium Krtetern seit Donnerstag morgen Funksprüche von dem Expeditionsschiff Amundsens, „Maud", auf, do» auf dem Pokarmeer zwischen Alaska «end Spitzbergen treibt. Au» den Nachrichten geht hervor, daß dort Temperaturen zwischen — S0 Grab »ad — 40 Grad Celsius herrschen, »a» durchau» dar Jahreszeit entspricht. D« Himmel ist wolkenlos, s» daß die Bollonmessu», Ga M SM) »Mr -Sh» »-Gfth ist.
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