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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 02.12.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-12-02
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192312022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19231202
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19231202
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-12
- Tag 1923-12-02
-
Monat
1923-12
-
Jahr
1923
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^EltzE G äeu 2. Oeremder Weit vor Sonnenaufgang Do» fier» ^Iseftse An den Abenden nun im Advent sind die aiten Häuser wie eine feindliche Mnuer nach der übrigen Stadt, der profanen, neuen hinüber. Die eine tiefe j Abcndglockc läutet, und die kleine» Ladner, der Fleischer und der Schmied unter dem goldenen Huf- eisen im Torschlußstcin, schieben die grauen Läden § vor und legen die dicken Eisenstangen darüber. Ge legentlich, ganz selten, rumpelt noch ein Lastfuhr- ! werk schwerfällig im Torweg. Ein kurzgeschorener Ladenjunge läuft über di« Straße. Die dürftigen Laternenlichtcr erscheinen von fern als im Nebel er trunkene Sterne . . . Das ist das altmodische Milieu. Für uns Land- tagsabgrordnetc, Metallarbeiter, konzessionierte Buchmacher, Postsekrctäre, Schreibtischler: das ander« Milieu. Für die Nachdenklicheren unter uns:: das geliebte, zärtlich im alten Kinderherzen gehegte, bis an der Welt Ende geglaubte Weihnachtsmärchen milieu. Weit vor Sonnenaufgang liegt ein Land... Lieber Gott, wo find die Zeiten hin mit Lächeln, Raunen, Sonntagssachen und Erwartung! De« Helden Kampf, der Heldin Not, die Wege, die man mitging zu den Märkten des damaligen Lebens, zu den Wasserstürzen der unerhörtesten Begebenheiten, zu den Glockenspielen der schrankenlosesten Gefühle! Wie war man eines Gottes voll ... im Weihnacht«, märchen! Und heute? Wir armen, gering geschätzten Seifen- blasenfabrikantcn frag«» nach den Zeiten und Dingen, die es uns früher antaten, vergebens. Und am Ende legt mans uns falsch aus. Kann sein die Kinder Gebliebenen unter uns haben auch ein Einsehen: wie die vicläugigen Tadel- tiere der damaligen Zeit, der kleine Däumling, der kurzsichtige Riese, der lachende Optimist, der Dieb seiner Ehre . . ., wie sie alle lächerliche, klappernde Marionetten geworden sind, hohles Gelächter im hölzernen Herzen. Nun im Advent werden aber in den Theatern di« Weihnachtsmärchen (. . alle Jahre wieder . .) her» »orgesucht. Den Menschen im zwiespältig gesegneten Götzendienst der Arbeit wird es nicht leicht fallen, auch diesmal zu glauben bis an der Welt Ende. Ihnen gehen andere Abenteuer zu Herzen, als da auf der Bühne an den Abenden im Advent: Handel mit Trikotagen, Aufkäufen von Altmetall und Back- papier, Börsenkurse, die Nentenmark . . . Das sind so ihre unerhörten Begebenheiten. Gehörst du auch zu ihnen, die sich nicht lossagen können vom naaen- den Alltag, den sie fäfl^lich das Leben benennen? Dann laß dich von Herzen bitten. Leser: halt« es der Mühe wert, dich wie alle Jahre wieder rühren zu lassen. Die eine tiefe Abendglocke läutet.' Der Stern brennt über einem Haupt. Komm, lausche und sieh! Komm, um des heiligen Landes willen, weit vor Sonnenaufgang . . . Oie Repräsentation«-«««« Don Srlek Orsek Solange die Sonne platzte und der Himmel »wählte, standen wir den ganzen Tag über auf den Brettern und hatten zu tun. Aber abends lungerten vir le chtbckleidet um den Kachelofen, wußten nichts mit uns anzufangen, redeten vom Skifahren, vom Schnee, von Waewrißich. Bis es Heribert einmal richtig aussprach: Uns fehlt e ne Frau. Alles nickte: Uns fcblt eine Frau. Die würde unsere Bergeinsam keit beleben. Unsere sportliche Eitelkeit anspornen. Abends mit uns plaudern. Und tanzen. Ob w r Smoking anziehcn würden? Und Pumps? Sie wäre natürl'ch in grand toilctte. Wir würden ihr alle den Hof machen. Uns alle in sie verl eben. Aufeinander aufpassen. Im Iagdzimmer eine Bar einrichtcn. Wie sie wohl heißen müßte? Lu? Uns fehlte faktisch eine Frau. An Personen weiblichen Geschlechts hatte das alte Berghotel des Herrn Staffier (sprich: Schtaffchlrrrr) keinen Mangel Da war einmal die alte, feine Frau Staffier selbst, die lautlos durch die Zimmer huschte, ihr seidenweißcs Haupt neigend, ganz Dame, ganz die Tochter des verstorbenen Hofratcs Paimer im Eisenbahnministerium, die irgendwie einmal der Zu fall mit dem vierschrötigen, fluchenden, spuckenden, riesenhaften und sie nreichen Alpcnrosensohn Skaffler verkuppelt hatte. Da war die Louise, das Faktotum, schon Jenseits von Gut und Böse der Liebe, trocken, freundlich, mit lederner Haut, da war Mario, die Köchin, m.t Armen wie die Säulen der Peterskirche, da waren d e Gustl und die Nandl, beide in der Tracht der Ponqauerinnen, klein, häßlich wie die Ziegen, die auf den Wiesen meckerten das war unsere Frauenwelt. Also wir beschlossen, uns ein We b zu nehmen. Allesamt zusammen eine. Aber wie das dem alten Staffier beibringcn? „Wcrd's schon manegen", beruhigte uns Heribert. Wir hatten Glück: denn am selben Abend sah man ein Köfferchen im Porhaus hcrumstehen, darüber ein paar Decken liegen. Und es verbre tete sich die für dos bescheidene Geschehen dieses Hause» immer hin wichtige Kunde, daß der Bater der Louise im Sterben lag. .Weiß der Himmel, ob's mir zurück- lommt. Ob s nett jiatzt den Stachrrhof (er meinte den Stallerhof) übernimmt." Sorgenfaltcn krümmten sich wie Regenwürmer aus seiner Stirn. Am Abend tranken wir Terlaner, Staffier trank mit. Heribert schielt«, ob die .Frau Hofrat" nicht in der Nähe war, dann zog er wie beiläufig die .Presse" heraus und las: .Hochelegante, junge Dame, sport- und sprachenkundig, gewandt im Umgang mit Hotelgästen, firm in der Buchhaltung usw., sucht Stelle als Volontärin und Repräsentationsdame in Alpenhotel. Unter . . " Staffier bekam spitze Ohren. Und Heribert schnappte zu: .Na Herr Staffier,, so was möchten wir brauchen, eh? Schre ben's dem Mädel, da» brächte Leben, di« könnte Ihre Frau Gemahlin entlasten warum suchen Eie nicht nach so was?" .Hab'« eh schon getun", erwiderte Staffier, setzt seinen Zwicker aus und bittet um da» Blatt. Noch am selben Abend sitzt er hinter dem Tintenfaß ge duckt, wie ein Plänkler, der sich vor dem Kugelregen decke,» will, und schreibt. „Fotografie beileg n, Han i »'schrieb'»", triumphiert er und lacht uns mit ver schlagenen Fuchsaugcn an. Seither bemerkte man: Daß sich Fritz den Voll- Lart abgcnommcn hatte, den er seit drei Woche,, trug. Daß Heribert nur mehr in se ncm funkelnagelneuen „Norweger" stolzierte. Daß Teddy nicht mehr spuckte Und Fred ein reines Sacktuch hatte. Nach acht Tagen der höchsten Aufregung idis Partien hatten wir alle abgesagt, man könnte leicht Sonnenbrand bekommen und furchtbar ausschen) bimmelte endlich ein Schlitten heran, uird in die vralle Mittagssonne des Joches sprang ein kleines Häuflein Opossumpclz, aus dem oben ein blonder, kecker Kopf sah: Unsere neue Hotelelcvin. Wir standen alle ungewohnt rasiert in den neuesten Sport» ärmelwesten am Tische, auch der Herr Staffier hatte sich eine neue Krawatte zugelegt und trug e nen mit dem Lineal gezogenen Mittelscheitel, der coch aus seiner Hotelpraxis in Pencdig stammte, als endlich „unsere Frau* erschien: Klein, zierlich, blonoe Locken, große graue Augen, die uns ungeme.» muster ten, keck« Nase, ein wenig spöttischen Mund, schm^.e, kräftig zugvelfende Hände. Es ging bei Tisch ganz stimmungsvoll zu, es fehlte nur der Geburtstags kuchen oder der Herr Pfarrer. Sie erzählte drauf los und hatte für jeden von uns etwas übrig. Sie hceß übrigen« nicht Lu, sondern Zenzi Steinberger und war die Alte-Post-Tochtcr aus Taxembach. Item: Wir waren im siebenten Himmel. Wir hatten eure Frau im Hause. Und Zenzi Steenbcraer hielt, was sie versprach. Sie begleitete Heribert auf dem Klavier, wenn er Balladen sang, mit mir fuhr sie die Teufels spitze herab, mit Fritz träumte sie von Wien, vom Dcktor ließ sie sich geduldig von Quer- und Zangen- gebürten erzählen und Teddy begrüßte sie mit „mor- nmg* und verabschiedete ihn mit „good bye!" Und man mußte das der Zenzi zugestehen: Auch der alte Staffier war ein anderer geworden. Immer nett und sauber, gab er sich mit seinen Fünfzig einen Ruck ins Zunge und Galante, er verstand mit einem Male lustig zu bramarbasieren, und war wirklich ein netter aller Herr. Und selbst Frau Staffier fand sich durch Icnzis Art erfrischt. „Wie gefällt Ihnen die Zenzi?" fragte Heribert strahlend den Staffier. .Sie wird schon Milch geben", antwortete etwas rätselhaft der Alte und grinste. Der Winter in der Alpenrose verriefelte rasch und angenehm. Freilich ohne größere Sensationen. Zenzi -al dasselbe, was sie am erste Tage tat: Mit Hcri- bert Klävierspielen, mit mir Skifahren, mit Fritz träumen, mit dem Doktor entbinden und mit Teddy english spoken. Nur mit dem alten Staffier ging sie jetzt etwas selbstverständlicher um, schulmeisterte an lhm und war geschäftlich kurz angebunden. Der brummte und grinste. Wenn wir Jungen allein waren, sprachen wir nie mehr über Zenzi. Es war uns unangenehm, eingestchen zu müssen, daß wohl jeder von uns rm geheimen gehofft hatte, ber Zenzi mehr zu erreichtn als Klavierfpiel und Skifahren, und daß keiner von uns wirklich um einen Schritt weiter gekommen war. Aber ihre grauen Augen blickten weiter gleich freundlich auf alle, der Mund zuckte gleich spöttisch Hatte das so warme lunge Ding am Ende wirklich kein Herz im Leibe? Da trommelte eines Morgens um sieben Uhr früh Teddy ganz blöde an meiner Tür, ich springe zu Tode erschrocken heraus und glaube es brennt, und es brennt wirklich: Teddy ist außer sich, und ich ver stehe aus seinen Worten nur immer wieder „Zenzi — — Zenzi! wer hätte das gedacht !* In abgerissenen Fetzen liegt das ganze Drama vor mir: Frau Hofrat hat heute früh zu etwa« unerwarteter Zeit Zenzis Zimmer betreten und dort kurz, der alte Staffier und die Zenzi offenbar schon seit Monaten Wir waren sprachlos. Eine feine Blamage: Wir kraft-, saft-, fügend- und telemarkstrotzcnden Jüng linge und der alte Saufaus, Bauernwirt und Alpen- rosensohn Schtaffchlrrrr! „Ja und', stammelte ich, „was hat die Frau Hof- rat gesagt?" „Geweint hat sie und ihm zugerufcn: „Anton, in meinem ganzen Leben habe ich dich nie betrogen!" „Nacha bischt dumm gnug g'wcsen", hat der alte Staffier geantwortet und ist zufrieden schmunzelnd seinen täglichen Wirtssorgen nachgegangen. Nie Strafe Don Kur« kitlvnrsr*) Mein Freund, der Psychiater, brachte mir die Aufzeichnungen eines neu cingelieferten Patienten. Ls war ein Mann im Anfang der Dreißig, ein dilettierendcr Musiker, Komponist nur für nci>, aus einem alten, abgelebten Geschlecht. Er behauptete, ein Pferd zu sein, verlangte nach Stall und Hafer, hatte aber auf Wunsch des Arztes sein großes Er lebnis, wie er es nannte, ausgeschrieben und war der Logik nicht zugänglich, daß er als Pferd doch nickt wohl schreiben könnte. Lr hatte überlegen, mit leidig über den unzureichenden Verstand des Men schen gelächelt und folgendes geschrieben: „Es war in Sevilla und am 2. Mai, dem spani schen Freiheitstage, da fuhr ich mit meinem Freund-' zum Stiergefecht hinaus. Es gab fünf Stiere und die besten Kämpfer. Ich fiebert- vor Entzücken. Wir saßen im Schatten auf weichen Kissen, und ich konnte es kaum erwarten, das erste Blut. Ein Pferd war das erste Opfer. Ein elendes, altes, mageres Pferdewcsen war es, dem der Stier den Bauch quer aufschlitzte. Der Pi- kador rettete sich durch einen Sprung über die Barriere. Das Pferd fiel schwer und jäh hin. Stöcke zwangen es, sich zu erheben. Ts sah mir gerade in die Augen. — O, aber damals schlug mein Herz in Lust. Das Tier stand auf. seine Eingeweide hingen ihm wi« «in bunter Wollknäuel aus dem Leib, rollten sich aus: es trat in sein eigenes Innere, Blut schäumt« herab. Kaum stand es, so brach es wieder zusammen und sckri» . . . Nie werde ich diesen Schrei vergessen. In ihm war olle Stummheit der Kreatur laut geworden: sein ewige» Schweigen fand eine Stimme. . . . Sein» Deine »«strickten sich in seinen Gedärmen: es jam mert« nach dem Messer. Und ein bunter Stallknecht erbarmt sich und stößt e« ihm in« Genick. Noch ") Aus dem soeben im Mosaik-Verlag in Berlin erschienenen Buch „Sturm und Sterne", Erzäh lungen von Kurt Münzer. zuckend, wird es hinousgeschleifi in einer Spur breiigen Blutes. Ich sah meinen Freund an: er hatte das Gesicht in den Händen verborgener stöhnte laut. Und ich — ich lachte. . . „ Er taumelte auf, ging fort; man schimpfte unwillig und höhnisch, weil er die leiden schaftlich Vertieften störte. Ich war mit ganzer Seele — oder besser: mit ganzem Blut beim Schauspiel. Als würden Urinstinkte in mir befriedigt, als hätte ich endlich Erfüllung für unbewußte Wünsche ge- funden. Im Hotel fand ich abends meinen Freund bleich und weinend. Lr sah mich hilflos, verständnislos an und sagte: „Hast du ein Herz? Kein Tier ist so grau sam wie der Mensch I Denke, wenn du, du solch Pferd wärest!" Ich lachte wie toll. Plein Blut kreiste, als hätte ich mich an Sekt berauscht. An diesem Abend trennte ich mich für immer von meinem Freunde. Ich weiß, er ist damals mein Feind geworden. Und vielleicht kommt mein Unglück von ihm? Ob er diese Der. Wandlung meiner Person bewirkt hat? . . . Ls vergingen viele Jahre. Da saß ich vor drei Wochen in einer stillen Mittagsstunde am Kai auf einer schattigen Bank. Eine Dqme kommt vorbei, sie trägt ein rotes Seidenkleid. Und wie dieses leuchtende Rot an meinen Augen vorüberweht, er innere ich mich: Spanien. Sevilla. Stierkamps — denn Tücher vom selben Rot hatten die Capeadores vor dem Stier geschwungen, ihn zu reizen —, und ich sehe wieder jenes erste Pferd, das in seine eigene Gedärme trat, und höre es schreien. Es schreit direkt neben mir: es schneidet mir alle Nerven entzwei; ich will aufspringen, fliehen — da geschieht es ... . Plötzlich fühle ich. wie sich etwas meiner bemächtigt. Eine unüberwindliche Gewalt hält mich fest. Es durchblitzt m'ck eine el-ktrUche Entladung, glühende, eisige Ströme durchschießen meine Glieder. Als wäre eine ungeheure Induktions maschine aufgestellt, die drahtlos ihre maßlosen Kräfte auf mich überträgt. Und unter dieser un widerstehlichen Gewalt verwandle ich mich Ich merke, wie mein Aörperhaar wächst, der Flaum meines Leibes, und Fell wird, braunes, stumpfes, mattes Fell. Ich muß — ob ick wD oder nickt — auf meine Hände fallen, die Füße wenden. In wenigen Sekunden bin ich ein Vierfüßler geworden, gewachten, gestreckt. Mein Kreuz tut weh meine Beine sind lahm, mein Hals ist steif. Ich will rufen — und ich wiehere. . . . Bin ich ein Pferd? Nock weiß ich es nicht, aber man sagt es mir. Es ruft etwas: „Du bist ein Pferd!" Und es ist die Stimme meines Feindes, der einmal mein Freund war. den ich in Sevilla eines Pferdes wegen verloren hatte. hatte mich damals verflucht, und jetzt erfüllte cs sich ... . Ich war ein Pferd. Ich galoppierte aus allen Pieren nach Hause und schrie nach Stall und Heu. Mein Pater verstand mich nicht, die Diener ver standen mich nickt. . Und das ist das größt» Unglück, das einzige Unglück; daß kein Mensch mich versteht. Aber so geht es wohl immer dem Tier: kein Mensch versteht es ... . Alle sehen mich an und sehen nicht, daß ich ein Pferd bin. Wenn doch ein einziger kommen und mich erkennen würde! Ich glaube, ich würde erlöst sein, und wenn es nur ein Kind wäre, das auf mich zeigt und ruft: „Das arme, müde Pferd!" Unerkannt sein ist das bitterste Los. Niemand ermißt meine Einsamkeit. . . . Auf der Straße wollte ich zu den Droschken pferden: aber man hielt mich fest. Ick wielerte laut, aber keins kam mir zu Hilfe. Ah. sie sind ja auch eingesckirrt. dem Menschen untertan, der Frei heit, des Willens beraubt! Wie ich! Man sperrt mich ein, in eine Stube, der ich einen Stall brauche: ich verhungere nach dem Hafer und bekomme Fleisch. O. erbarmt euch! Hat keiner Mitleid mit einer Pferdeseele? Nein, habe ich es denn gehabt? Das ist die Strafe! Ich bin verwunschen, zu leiden, woran ich einmal Lust empfand. Ich armes, altes Pferd, zu schlecht für den Stier. Keiner striegelt mich, schiebt mir Zucker ins Maul, klopft mir den Hals. O, erbarmt euck eines Tieres! Oft nachts, wenn ich stehend halb schlafe, spüre ich die geheimen Ströme, die meine Verwandlung unterhalten. Mein Feind len't nner'-eickbar ^-»ft elektrischen Kräfte auf mich. Ich verliere alle Er innerung. War ich je Mensch? Ich glaube, ich träumte es nur einmal. . . . Immer war ich Pferd: ich entsinne mich: Ich trug eine schöne Frau durch den B»ckenwald. Eine weiße Stute trabt» neben mir. Wir grasten auf einer Licktung, tranken aus einem Quell. Ich h-tte einen Stall, und das Heu quoll aus silbernen Raufen. . . . Menschen, grausame Menschen, c.barmt euch! Nichts weiter null ick. als in euren Augen lelen. daß ihr mich versteht. Sagt mir. daß ich es bin: ein Pferd! Erlösung aus der Einsamkeit, von keinem erkannt zu werden! — Menschen! Habt ihr kein Herz?!' — Ich gab die Papiere erschüttert meinem Freunde zurück. Diese Strafe des Schicksals erschien mir un gereckt. Aber er schüttelte den Kopf: es war ja keine Strafe, sondern Krankheit, von Ahnen her anqel-gt. Und nur die Logik des Wahnsinns h"tte da Zu sammenhänge und Ursachen erfunden. Und er gab mir für alles die Erklärung: die Diagnose. „Paranoia". Oer Sohn Don ^ullu» Kr»l» Vor Liebhaberphotographen wird gewarnt! Sie geben keinen Pardon. Alles nehmen sie aufs Korn: den Säugling in der Wiege wie den Greis am Stab«. Soaqr ihr eigen Fleisch und Blut wird vor di« Linse geschleppt. Also: Im Jahre 1918 war meinem Freund Michl ein sogenannter Krieg»junge geboren worden. Kaum zur Welt gebracht, wurde da» Knäblein schon vor die väterliche Kamera geschleppt. Die Hebamme stand allein auf weiter Flur und hatte da« Nachsehen und in der rechten Hand ein Trockentuch Da» Kind schrie fürchterlich, aber Michl drückte ohne Gnade ab. Nu» erst war seinem Werke sozusagen di« Krone aufgesetzt. Dann kam da» Bild in die Brieftasche. Wer kies Weg« kam, erhielt es versetzt. Ich war der erste. — Michl reicht« e» mir voll wortlosen Stolze». Ich bin bei Michls Lichtbildern vorsichtig. Seit ich ein mal ein Picknick unter einer Tanne für einen Lampen schirm gehalten habe, ziehe ich es vor, in liebens, würdigkonzilianter Art mehr allgemeine Urteile zu sllen. „Ah," sagte ich, „entzückend! Ganz reizend! Famos! Za, das Isartal!" — „Du hältst cs ver kehrt", belehrte mich Michl. „Ach so, natürlich!" — Ich drehe das Bild herum. „Das muß man dir lassen: Stimmungen liegen dir vortrefflich. Also dieser Mond über dem See! Wo ist denn das Plätzchen?" Michl sagte nichts weiter als: „Du Idiot!" Da merkte ich, daß ich wieder daneben gehauen. „Du hättest mehr belichten sollen," versuchte ich mein Glück nochmal, „diese Gletscherbilder verlangen das. Eine Karwcndelgruppe, nicht wahr?" „Nein," sagte Michl, „es ist mein Sohn!" Ich fing das Bildchen gerade noch im Fallen auf. „Aber natürlich," rief ich begeistert und erlöst, „dein Sohn! Gratuliere, gratuliere!" Und ich vertiefte mich glückstrahlend in das Bild und zeigte mit dem klemcn Fingernagel vorsichtig zärtlich auf den Sohn. „Ein Mordskerl! Dieses feste Köpferl, und wie er klug in die Welt schaut." „Entschuldige," sagte Michl, „dn zeigst ja auf den Bettzipfel." Nun wurde ich aber ordentlich rat vor Verlegen heit. Ich ging mit dem Mut der Verzweiflung noch einmal an die Betrachtung, und um alles gutzu- machen, rief ich im Brust-, Magen- und Kopfton tiefster Ueberzeugung: „Ganz der Papa!" „Nicht wayr?" sagte Michl stolz, nahm mir das Bild aus den Fingern und betrachtete es selbst liebe voll noch einmal. Da wurde sein Gesicht plötzlich lang und länger, und ehrlich, wie Michl ist, sagte er endlich mit einem tiefen Seufzer: „Du, es ist wirk lich nur der Bettzipfel drauf." „Na also," frohlockte ich, „sagte ich's nicht: ganz der Papa." Oie Gamaschen Don p«tsr Leftse Ledermann hatte sich mit dcm Direktor über- warfen. Noch immer vor Erregung bebend und von Bitterkeit erfüllt, war er auf die gerade vorüber sausende Trambahn gesprungen. In der Verwirrung wäre er um ein Haar unter die Räder gekommen, wenn ihn der Schaffner nicht geistesgegenwärtig hinaufgerissen hätte, und nun saß er heftig atmend auf der Bank und begegnete den neugierigen Blicken der andern mit einer herausfordernden Haltung bös artiger Geringschätzung. Er hatte in der letzten Zeit kein Glück gehabt. Seiner Natur war es nicht gegeben, sich durch Mitteilung zu entlasten. Ein Fehlicklag machte ihn halsstarrig und ungerecht gegen sich wie gegen andere. Sein Stolz gewann es nickt über sich, feine Febler gegen seine Vorzüge abzuwägen, um ans nÄren Er kenntnissen neu« Kräfte zu ziehen. Er war auf dem Punkt angelangt, die Welt für sein persönliches Mißgeschick verantwortlich zu macken. Aber da er kein gewöhnlicher Mensch war, fühlte er immerhin, daß er sich damit selbst im Wege stand, und dieser Konflikt steigerte seine Empfindsamkeit, die wiederum einzuqestehen er zu stolz war, was allrs im Verein mit dem neuen Unglück zusammenwirkte, nm seine Situation unertr^alick zu machen. Er saß mm also auf der Bank, fingerte mit nervös zitternd-n Händen an seinem Hut, strich sick den Scheitel glatt, brummt» vor sick bin und maß die um ihn Sitzenden mit feindseligen Blicken. Da trat ein neuer Fahrgast herein und setzte sich auf den freien Platz. g»nau Ledermann gegenüber. Er war nicht eige"tl''ck jung, aber sein Gesickt hatte ein»n angenehm offenen, fast sorglosen Ausdruck. Als Ledermann in seiner Verbissenheit jenen kritisck ins A"ge faßte, fühlte er sick von dem ruhigen, klaren Blick, der dem seinen b»geqnete. sogleick 'M Innersten gereizt und auf Gegnersckaft e'ngest llt. Da »r das seiner schroffen N--tur gem"ß jedoch vor sich selbst nicht eingesteben wollte, suchte er gierig nach einem Anlaß, sich üb»'' den andern begründet zu er hitzen, und weil er nullens war. um jeden Preis ein- zub"ken, fand er auch aus der Stell», was er suchte. Der andere trug an den nachlässig übereinander geschlagenen Beinen merkwürdig hellgraue Ga maschen. Ledermann sah die Gamaschen an. schob darauf seine Fsik«. die in vorgesckuhten alten Kommißschnhen stacken, »stentativ vor, betrachtete sie eingehend und brach, indem er wieder die Füße des andern anstierte, in ein hämisches Lachen aus. Da aber der Mensch mit den merkwürdig hell grauen Gamascken nickt reagierte und mit gleichaüft'g heiterem Ausdruck an Lcdermann vorbei durchs Fen ster sah, geriet dieser in unbändigen Zorn, der durch die Scham über die eig»ne Deranntb-it noch verstärkt wurde. Er murrte und ainq endlich zu Beschimp fungen über: seine Finger flogen um den Rand seines Hutes, den er auf den Knien hielt, und da gerade der Schaffn-r in der Tür erschien, machte er mit ein-m beifall-lüsternen Blick auf diesen und einer ver"cktlichcn Mundbcwegunq gegen jenen die hohn voll« Bemerkung: „Gamaschen! Im Feld ist uns das Wasser zu den Sti-feln hineingelaufen. Wieder verzog der andere keine Mien«: nur ein leise huschendes gutmütiges Lächeln war um seinen Mund z« sehen — nur einen Augenblick, aber lange genug, nm von Ledermann, der in gesteigerter Ge reiztheit aus einen Ausdruck lauerte, triumphiere»- als Herausforderung aufgefaßt zu werden. „Ein feiner Kavalier!" sagte er giftig: aber da er sich zugleich wieder schämte, bearbeitete er mit seine» zitternden Fingern den Hut noch befttger al» zuvor. Da reagierte der andere endlich doch. Er bückt« sich, nachdem er sich mit einem raschen Blick überzeugt hatte, daß die andern nicht hiusaben, wie zufsallig, und hob vor Ledermanns spießende« Blick di« eine Gamasche vorn etwa« hoch. Und da sah Ledermann, daß ein ganz und gar defekter Stiefel darunter verborgen war. Die Geste aber, mit der jener diese Enthüllung vorbracht«, und sein gutmütige» Lächeln und Achsel zucken dabei bewirkten, daß Leüermannr Gesicht über und über erglüht«.
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