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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 09.11.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-11-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192311095
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19231109
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19231109
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-11
- Tag 1923-11-09
-
Monat
1923-11
-
Jahr
1923
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Markthatten-Idyll „Zwei Pfund Tomaten!" verlange ich UuU und deutlich. Die Fran hinter der Tafel drehr ein? Zeitung»-- papiertütc. füllt sie dlitzgeschwtnd mit den rot strahlenden Paradies und legt sie flüchtig aus di« Lage. Zch selber betrachte unterdessen mu melan cholischen Gefühlen die teuren Äepfel. Ich zahle die verlangten SV Milliarden und nehme die Türe in Empfang. Dabei bemerke ich, wie mich die Frau mit einem eigentümlichen Blick unsieht. In Weitergehen verfolgt mich dieser Pirn. Ich be ginne, über seine Bedeutung nachzudenien. Da fällt mir ein: es lag etwas Listiges darin. Und mit «inommal weiß ich: hier stimmt etwas nicht. Ich öffne die Tüt«: eine überlebensgroße Tomate glänzt mir entgegen, so groß wie fünf mittelgroße. Ich taste die Tomate an: sie ist faulig durch und durch. Sogleich kehre ich um, reiche der Marktfrau stumm das Päckchen, sie nimmt stumm die faulige Tomare heraus, legt ein paar andre an ihrer Statt. Ich ent ferne mich stumm. Durch diese Pantomime mißtrauisch gestimmt, erwäge ich: wenn dies, was ich in der linken Hand halte, ein halbes Pfund Sülze ist, so kann im Ver gleich dazu dies, was. ich in der rechten halte, kein Zweipftmdpaket Tomaten sein, dazu ist es viel zu leicht. Ich kehre ein zweiresmal um. Am Stand meiner Murknrau ist die ganze Familie versammelt. Sobald sie mich kommen sieht, ruft die Frau, die sofort die Situation ersaßt hat und sich vor den sie Umlagernden keine Vlöße geben will —: „Dä fläggche (fleckige) Domade bringdfe mr wiedr, awwr ihre fimfnzwanzj Milljardn läßdse llechnl Nu, ich hadde se schon off dä Seide qe- läächd. Ich dach de: Sä ward schon wiedrgomm!" „Hute Frau/ entgegnete ich nicht ohne Ironie, „ich hatte aber zwei Pfund Tomaten verlangt und auch zwei Pfund bezahlt." Darauf aber ließ sich die kluge Frau gar nicht erst ein. In mnntrer Rede fuhr sie fort: „Dä fläggche Dornahde bringdfe mr wiedr, awwr die iß schon längsd wiedr sorrdl!" Und strahlenden Angesichts schaufelt sie mit ihren roten Händen noch ein Pfund Tomaten in die schick salsvolle Tüte. — Gewiß, es gibt eine Polizei in der Murttirallc. Gewiß, ich hätte sie anzeigen können. Aber wozu?! Es ist vielleicht nürsticher, nmn teil: so etwas öffent lich mit — den Naiven als drastisches Ausrufezeichen, der Markttrau als freundliche Warnung. Dom Reichsgericht Dec Senaispräsidenl beim Reichsgericht, Dr. Heinrich Körnige, ist am 4. November irr den Ruhestand versetzt worden. Er wurde aw 26. De zember 1874 als Rechts;'ratnkam eidlich verpflichtet, 1879 zum Amtsrichter, 1891 zum Landgerichtsrat und im September 1899 zum Dbrrlandesgerichtsrut in Karlsruhe ernannt. 1904 wurde er als R-ichs- gerichtsrat uns Reichsgericht berufen. Seit dem Jahre 1919 ist er Senats Präsident beim Reichs gericht und hat den Vorsitz im 4. Zivilsenat geführt. Er ist Ehrendoktor der Universität Heidelberg. Dr. Koenige hat beim badischen Feldartillerie-Regt. Nr. 14 den Feldzug 1870/71 mitgemacht. Auch im Weltkrieg war er von Anfang dis zum Ende, zuletzt als Abschnittsführer tätig. Er ist jetzt noch körperlich und geistig sehr rüstig, hat seinen Wohnsitz in Leipzig aufgegeben und sich in seiner früheren Heimat, im badischen Schwarzwald, niedergelassen. Der Staatsanwalrschofrsrat Dr. Herrmann von der Staatsanwaltschaft des Landgerichts I, Berlin, ist der Reichsanwaltschaft als Hilfsarbeiter zugeteilt wordem Eine Einheit 4S Milliarden Der Preis einer Einheit zur Bezahlung dec. Gas-, Strom- und Äasserrechnungen beträgt um 10. November und gegebenenfalls folgend« Tage 4ü Milliarden Mart. Rußlands Leben und Wirtschaft Von Professor KIttOÜ ffrvunü, Leipzig. w. Zur richtigen Einslellrmg gegenüber den russischen Verhältnissen gehön auch die Beobachtung des inneren Lebens und Strebens der russischen Re gierung und de- Volkes. Der extreme Kommunismus unter völliger Abschaffung jeden Privateigentums ist einem zielbewußtrn Streben gewichen, dem Volke von alten Gewohnheiten und Hepslogenhetten das zu lasten, was nötig ist, um es zufrreden zu machen. Es ist also jedem ein gewisser ersparter Besitz, lervorqeuangen aus einem Arbeitseinkommen, er laubt. Es ist ober dafür gesorgt, daß der Staat in allen kapitalistischen Vorgängen dre Vorhand hat und daß nirgends die Bäume iu den Himmel wachsen. So darf man ein kleines Häuschen wohl besitzen, wenngleich der Boden nur vom Staat gepachtet ist. Auch große Miethäuser darf man vom Staat pachten, jedoch keinesfalls in Besitz nehmen, also auch nicht für sich bauen. Jeder Mensch in Rußland hat das Recht auf einen Wohnraum. Die Mietpreise, selbst auch für möblierte Räume, werden je nach dec Zahlungsfähigtest bzw. nach dem Einkommen der „Genossen" festgesetzt. So besuchte der Verfasser eine russische Lehrerin, Sie ihm mittetlte, daß ihr Nachbar, der ein ähnliches Zimmer bewohne wie sie, das Doppelt? zahlen müsse, du er als freischaffender Künstler mehr verdiene. Dieser Hinweis auf den .Künstler als „Mehrverdiener" war doch insofern interessant, als man erkennen konnte, daß der Künstler drüben nicht so vernachlässigt rvird wie bei uns. Man har drüben noch manches für Kulturauegaben übrig. Zweifellos sind die Künstler zurzeit in Ruß land gut beschäftigt, weil sehr viele Porträts der beliebten regierenden Persönlichkeiten gekauft werden und weil die Holzarchitektur, wie sie beispielsweise aus der Moskauer Ausstellung vorherrscht, eine farbige künstlerische Behandlung verträgt. Hervorragend und rührend ist die Fürsorge für die Kinder. Beispielsweise nehmen die in Fabriken beschäftigten Frauen ihre Kinder, sowohl die Säuglinge als auch di? zwei- und mehrjährigen Kinder, mir zur Fabrik, geben sie im zugehörigen Kinderheim ab, ivo sie ganz vorzüglich versorgt werden. Meistens sind die ehemangen Villen der Fabrikbesitzer als solche Kinder- nnö Säuglingsheime eingerichtet. Die Kinder werden in kleine Gruppen gekeilt. Sie je von einer Schwester geleitet werden. Eine Oberschwester überwacht das Ganze. Die Heime find mit den besten Kinderbette^ und Spiel einrichtungen höchst sauber ausgestattet, und von drei zu drei Stunden werden die Mütter aus den Fabriken herbeigerusen. sie stillen dann ihre Kinder, um nach einem herzlichen Abschied sich wieder an ihre Arbeit zu begeben. Die älteren Kinder werden ihren Neigungen entsprechend beschäftigt und abends wandern sie alle in ihr Heim zurück. Die Mütter werden während der Stillperiode vom Staat be sonder» beköstigt, dürfen auch für die Kinder, die bereits entwöhnt sind, eine gefüllte Milchflasche mit nach Halste nehmen. Dcr Unterricht in der allgemeinen Volksschule gründet sich, wie ein- Ausstellung von Klnderarberten irr Moskau erkennen ließ, auf den Prinzipien, wie sie auch in Deutschland für die Arbeitsschule gelten. Schon di- Kinder vom 3. bis zum 6. Lebensjahre fertigen kleine Arbeiten handwerklicher Art irr einem Kindergarten an. Vom 6. bis zum 12. Lebensjahre amchsen die Ansprüche an ein- tunstgewerblick>e Tat g- keit in der Schul« derart, daß oft des Guten zu viel getan wird. Auch Handelskorrespondenz wird ge trieben, und zwar vielfach in drei Sprüchen. Die deutschen Briefe, die der Verfasser kontrollieren konnte, waren fehlerlos. Zwölf» bis vierzehnjährige Knaben fertigen selbstentworfene Reklameplakate an und stellen Gegenstände auf allen möglichen Gebieten her, dir im täglichen Leben volle Perwenoung finden können. Irgendwelche Schreibhefte, aus denen ein Lehrgang zu erkennen gewesen wäre, waren nicht ausgestellt. Während der praktischen Lehrzeit besuchen di« jungen Leute die Werkschule. Jedem großen Betrieb ist eine solche Schule mir 4 Stunden täg lichem Unterricht «ngeglirdert. Diese Schulen sind sehr gut eingerichtet. Hierbei werden Mädchen und Knaben gemeinsam unterrichtet, doch wurde dem Verfasser von einer Seite miigeteilt, daß Stimmen kam geworden seien, dir g»gen die Weilerführung des gemeinscrmcn Unterrichts über Vas iS. Lebensjahr hinaus Bedenken tragen, da sich gewisse UnzuträgUch- lichkeiten herausgestellt haben sollen. Auch der Uebergang zu den Universitäten ist begabten Arbei tern durch Einschaltung von Arbeiterfakultäten er möglicht. Das Strebe« der russischen Regierung, Einrich tungen zu sckraften, die letzten End?» Qualität»- ar beit er erzeugen, hat eine Verwirklichung ge sunden im Institut der Arbeit. Dieses in Moskau zentralisierte Institut har die Aufgabe der Veredelung dec Arbeit im allgemeinen. Es gliedert sich in einen wissenschaftlichen Teil, in Kurse, in -in Museum und in eine Versuchestation. Der wissen schaftlich- Teil besteht darin, daß gewisse Arbeiten, die immer wiederkehren, wie beispielsweise die Be» tätigling des Handhammers, zunächst wissenschaftlich erforscht werden. Die Einrichtungen hierfür sind geradezu mustergültig und können sich mindesten« denen des pspchotechnischen Institutes der Tech nischen Hochschule in Charlottenburq zur Seite stellen. Beispielsweise wird hier die wissenschaft liche Ergründung der günstigsten Art de« Schlages, also des wirkungsvollsten Hämmerns mit geringstem Energieverbrauch des Arbeiters so weit durch geführt, daß alsdann in einer pädagogischen Sonder abteilung und in der Versuchsstation festgelegt wer den konnte, in welcher Weise diese Art des Häm merns der Allgemeinheit, also allen Arbeitern bei- gebracht werden kann. Es wrrden besonder? Appa rat- gebaut, ausprobiert rmd alsdann Kurs- -ingc- richtet, zu welchen aus jedem Betriebe je ein Ar beiter abgeordnet wird. Diese Arbeitergruppen ler nen das Hämmern so, wie es am wirtschaftlichsten Ist, und werden alsdann in ihre Fabriken entlassen, nm dorr nicht nur die Lehrlinge entsprechend an zulernen, sondern auch alle anderen Arbeiter, die mit dem Hammer zu tun haben. Daß solche wissenschaft lich- und wirtschaftliche Arbeiten durch da» Institut veröffentlicht werden, ist selbstverständlich Alle Ergebnisse werden im Museum vereinigt, und die Versuchsstation hat fortlaufend Untersuchungen zu mache», um weitere Vervollkommnungen an den Apparaten durchzuführen, die zur Nutzbarmachung der wissenschaftlichen Ergebnisse in den einzelnen Werken beitragen können. Uebrigens werden nicht nur technisch-wissenschaftliche Arbeitsleistungen auf diese Weise veredelt, sondern auch beispielsweise das Turnen. Im Institut befinden sich alle üblichen Turngeräte, und an ihnen werden auf genau dieselbe wirtschaftliche Art alle Hebungen turnerischer Art so gegliedert, daß auch hier mit geringster Anstrengung die höchste sportliche Leistung zu vollbringen möq- lich ist. Die Museen werde» niäik vernachlässigt. Dir Theater sind angefüllt mit Besuchern aller Stände. Man sieht zwar in den Theatern nicht die Vornehm- heit der Kleidung wie früher, aber eine aufmerksame Zuhörerschaft, und man sinder auch ei» gutes Pro gramm vor. An Stelle de» Hofschauspieler» ist der „Volkskünstler" getreten, der bei seinem Auftreten auf offener Szene bejubelt wird. Der Verfasser v.'hnte einem Ballettabend, einem Opernabend und -!. .!i Schauspielabend in Vioskau bei. Alle drei Vorstellungen waren hervorragend. Störend wirkt allerdings der in Rußland noch übliche Beifall bei offener Szene. Das Straßenbild in Petersburg ist etwas anders al» das in Moskau und als di- Straßenbilder in kleinen Städten. Das innere Leben ist jedoch überall ähnlich oder gleich und dieses innere Leben des rus sischen Volkes hat nicht gelitten durch die Schwere der Jahre, durch die Rußland hindurch mußte, um sich aufzurichten zu einem Volke, vor dem wir heute achtungsvoll stehen dürfen. Diese wenigen Erörterungen über die russischen Lebens- und Wirtschastsverhältnisse mögen mit dem Hinweis schließen, daß eine Nichtanerkennung der russischen Regierung in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse geradezu lächerlich wirken muß. Wir wollen nicht denselben Leidensweg gehen, den Ruß land ging, doch sollten wir danach streben, mit der selben Ernsthaftigkeit in Deutschland Aufbauarbeit zu leisten. Nicht „rechts oder links" ist die Losung, sondern „Arbeit und Nächstenliebe". Für -i« Republik Don ttainriett tzs»nn Die folgenden Abschnitte sind einem cfsenen Schreiben entnommen, das Heinrich Mann an den Reichskanzler gerichtet hat. Le ist in einem in Kürze erscheinenden Buch „Diktatur -er Vernunft" (Verlag „Die Schmiede", verlin) enthalten, da» die letzten politischen Aufsätze des radikalen Demokraten Heinrich Mann zuscmimenfaßr. Dir liegen inmitten und find besrimnä, Osten und Westen zu verbinden, gegen Natur sperrt man sich nicht. Wir waren früher die halb absolutistische Monarchie, die zwischen Zarentum und französischen Kon- ft tunonalismus hineinpaßte. Wir werden künftig die Republik sein, in der Stände vertretung mit Parlamentarismus sich ver- schränkt. Wir werden sozialisierte Großbetriebe und doch den wirtschaftlich freien Kleinbürger haben. Kapitalismus unter Stacrtskontrolle, Menschenrechte, begrenzt von Klussengarantien; es ist unwahrscheinlich, daß unsere neue Demokratie viel anders aussehen wird, io st sie schon vorbereitet. Aber wir müssen sie cha fsen. Sie, Herr Reichskanzler, müssen ie mitschaffen. Es handelt sich nicht mehr darum, die Lage zur Not aufrechtzuerhalten. Es ist unaufschiw- bar, vom Fleck zu kommen, selbst gegen den Willen einer Nation, die sich verfahren hat und lieber an Ort und Stelle ihre Wut entlädt. Man sagt Ihnen wohl: „Alles gehr vorbei. Unser Ausnahmezustand hält noch auf, was auf- zuhalten ist. Kommt endlich doch, was kommen muß, dann wollen wir hoffen, daß die Extremen einander aufreiben. Nachher ist gewonnen." Rein. Nachher ist verloren, Kraft und Zeit. Armand darf sich aufreiben, niemand das Ganz« gefährden. Die wechselnden Zustände der erkrankten nationalen Psyche wartet man nicht ab, man Hilst ihr. Sie werden einer wahren Erlösung bei wohnen. Die Widerstände, die heute kaum zu drecken scheinen — klarer Entschlossenheit weichen sie, sie zweifeln an sich, sie zergehen. Jede Tat, der ihre Nottvendigkeit an der Stirn I steht, klärt viele über sich selbst auf und entzieht sie dem Zugriff verbrecherischer Interessenten. Was find denn Nationalsozialisten? Leute, die ihre Geldgeber schonen müssen, sonst wären sie nicht nur gegen jüdische Ausbeutung. Wer sind Kommunisten? Leute, die das Ganze über Bord werfen, im Haß auf eine Gieriastenherrschaft so gierig, daß sie auch noch den Namen der Demokratie stiehlt. Ein Volt soll als Demokratie binnehnren einen Unfug von , Schacher und Rechtsbrüchen, Auswucherung, Entsittlichung, nacktem Verrat, offenem Zerfall. Welch furchtbare Verwirrung entsteht! Aber jede Epoche ist im Grunde eines Willens. Kämpfe geschehen an der Oberfläche. Fruchtbar handelt nicht, wer hinhält und endlich zerstörende Ausbrüche doch zulassen muß. Fruchtbar handelt, wer die zerforengten Kräfte saynnelt, um sie konzentrisch auf das Ziel hin zuführen, das sie meinen und nicht sehen. Das Ziel ist erfüllte Demokratie, lebendes Gebilde aus allen unseren wohl verwendeten Kräften, wie sie sind, wie sie wachsen. Das Ziel ist: tauglich werden als Nation für Aufgaben, die mehr als national sind. Sie sind ein bürgerlicher Kanzler. Ich glaube, daß bürgerlicher Art, deren Sache die Liede nicht ist, vor der Vernunft der Dinge doch oft das Gewissen schlägt. Zch habe gesehen, wie entwickelte Burger ihren Kreis durchbrachen und hinwegdachten über ihre Klasse. Ihre e'gene Veraangenheit, Herr Reichskanzler, ! hat Sie nicht darauf vorbereitet, Geschäfte- j machern in den Weg zu treten, den Besitz unter I Stoatsnotwendi'ikeiten zu beugen. Sie waren 1 nicht darauf gefaßt, eine Revolution der Vergiftung durch reiche Verräter entziehen au müssen, damit der Staat ihr Inbegriff sei. So ist es aber gekommen. Auch ich hätte nie gedacht, ich würde Diktatur fordern. Ich fordere Diktatur der Vernunft. Stützen Sie sich fest auf die Anhänger des Reiches, des Deutschen Reiches und seiner Rechte, die vor jedem Einzel- und Sonberanspruch gehen! Brechen Sie Bestechungen und Lügen, die Geld- zufuyr des Verrates an se ne Banden, die Presse, die er aushält! Ergreifen Hie Personen und Besitz, rächen Sie die bis in den Tod be- leidiqte Nation! Die soziale Demokratie soll endlich gewapp.et und als Richer dastehen. Sie ist unsere einzige Rüstung, wer sie angreift, muß zerbrechen. Herr Reichskanzler, wer glaubt, es gebe noch Uebergänge und Halbheiten, der irrt. Die deutsche Tragik vollzieht sich immer auf Grund versäumter Gelegenheiten. Aber ich fürchte, daß selbst das säumigste Dolksganze sich und Ihnen diesmal nicht verzeihen könnte. Herder» GStterehe. Eine lustige Szene aus den Zwistigkeiten, die zwischen Herder und seiner Frau bestanden, erzählte einmal Schiller in einem Brief«: „Herder und seine Fran leben in einer egoistischen Einsamkeit imd bilden zusammen eine Ar: heiliger Zweieinigkeit, von der sie jeden Erdensohn «»»schließen. Aber weil beide stolz, beide heftig find, so stößt diei« Gottheit zuweilen unter stch selbst an einander. Wenn sie also in Unfrieden geraten sind, so wohnen beide abgesondert in ihren Etagen, und Briefe laufen Treppe auf und Treppe nieder, bi« sich endlich die Frau entschließt, in eigener Person in ihre« Ehegemahl» Zimmer zu treten, wo sie ein« Stell- aus seinen Schriften rezitiert mit den Worten: „Wer da» gemacht hat, muß ein Gott fein, und dem kann niemand zürnen!" Darrn fällt ihr der besiegt« -erder um den Hal», und die Fehde HÄ eia Ende." Vie Goldpreise -es Einzelhandel Ja den Kaufläden find jetzt di« L»ld mark' preis« neben den Paptermarkpretsen ver- zeichnet, eine interessante Gegenüberstellung, die zu allerlei Betrachtungen anregt. Die Doldmark steht laut Berliner Dollarnotierung so und so hoch, also ergeben sich die Doldmarkpreise der Waren höchst einfach, indem die Papiermarkprcise durch den Den der Goldmark geteilt werden. So macht es jeder Kaufmann — und nicht» scheint gerechter. Es scheint aber nur so. Die kommen die Papiermarkpreise zu stande? Der Einzelhandel kämpft seit langem uw seine Existenz, und zwar ans Gründen der unglaub lichen Geldentwertung. Mußten die Warenbestände ergänzt werden, so zeigte sich, üaß di- Wieder beichaffung nur gegen höhere Preise als die Ver kaufspreise gewesen, möglich war. Dagegen mußte sich der Hantyi wehren, ec kalkulierte Reichsprämien, Enttvertungezuschläge in die Verkaufspreise ein, — es war ein Gebot wirtschaftlicher Lelbstrrhaltung, und die Ergebnisse waren immer noch gering genug. Jetzt beginnt da» erste wertbeständige Geld in den Verkehr zu tropfen, aber es sickert nur sehr langsam durch. Die wenigen im Verkehr be- findlichen Scheine werden mit Aufgeld bezahlt, ge- l-amstert, als wertvolle Seltenheit versteckt, und wer Papiermark und wertbeständiges Notgeld in der Tasche har, zweifelt k-inrn Augenblick, was er zuerst ansgeben soll. Wirklich« Abhilfe wird erst dir genügende Aus gabe wertbeständigen Notgeldes schaffen. Aber auf eines muß schon heute hingewiescn werden, denn auch das liegt im wohlverstandenen Interesse beider Teile: Die Goldmarkpreise stimmen nicht! Der Grund wurde schon gezeigt, die Papiermark preisesetzen sich zusammen aus eigent- lichem Preis- und Entwertungszu- schlaq! Bei Zahlung in wertbestän digem Geld ist dieser Entwertung»- Zuschlag sinnlos und muß wegfallen. Dos tst notwendig, und das ist möglich. Einzelne sind vorausgeganyen und gewähren bei Zahlung in Wertgeld einen „Rabatt", was nickt al« Unter bietung anzusehen ist. Aber mit den Einzeifällen ist nichts gedient, hier muß -ine einheitliche Regelung nach genauer Prüfung durch die in Frage kommenden Verbände Platz yreif-n — und zwar möglichst bald! Damit wird auch der Umlauf des werr- beständigen Geldes gefördert. Der Besitzer des Wert geldes verzichtet leichter auf den Vorteil, von d-r Geldentwertung unabhängig zu sein, wenn der Ver kiiufer seinerseits auch in seinen Preisen anerkennt, daß ihm da» wertbeständige Geld lieber ist. Und was es für den Händler bedeutet, in den Besitz von Wertgeld zu kommen, bedarf keiner Ausführung. So würde auch die Warenzufuhr entschieden be schleunigt werden können, die ja gerade durch di- Miingel der Papiermarkbezahlung ms Stocken ge raten ist. Der Anstoß kann von der Preisseite aus erfolgen', es wäre verderblich, hier zu zögern. Wenn der Verkehr in Popicrmark abgebaut werden soll, müssen auch all- unliebsamen Begleiterscheinungen fallen, und zu diesen gehört der Entwertungszuschlag in den Preisen. ? EinLiterMilch 21,2 Milliarden Wie un» Ver Hentralverbauv Ver Milch- HLnvler mitteilt, betrögt Ver Preis für ei« Liter Bollmilch vom No vember ab bis auf weiteres L7,Ls>v «illiarven Mark. Zusatzreuteuzahtuug an Kriegrdeschädigt« und Kriegerhiaterbliebcne. Kriegsbeschädigte und Krieger hinterbliebene erhalten für das 2. Novemberviertet eine Nachzahlung, die, soweit Selbstabholer in Frage kommen, im Ortsamt für Kriegerfürsorge wie folgt ausgezahlt wird: Sonnabend, den 10. No vember, Nr. I--75« von jedem Buchstaben und Mon tag, den 12. November, Nr. 76 bis Schluß von jedem Buchstaben. Den übrigen Empfangsberechtigten wird die Nachzahlung wie bisher durch die Post zu gesandt. Große» Ereignis Von pator Leüor (München) Endhaltestelle. Wagen noch ziemlich leer. Fahr gäste übel gelaunt, erregen sich über einen dicken Herrn, der im Wagen immer auf und ab geht. Immer auf und ab. Schaffner, ebenfalls übel ge launt, sieht durchs Türfenster von draußen noch eine Weile zu. Ist zum Zerspringen gewillt, einzuschrei ten . . . -um Zerspringen . . . wartet aber ab, weil Abfahrtszeit noch nicht erreicht. Aber dann . . .! Dicker Herr marschiert, abwesenden Gesicht», auf und ab — immer auf und ab. (Im Wagen . . . un erhört!) Alte Dame, grün vor Aerger, kann nicht mehr an sich halten, zischelt mit Blick auf prome nierenden dicken Herrn: „Was die Leute sich heraus nehmen!" Alter Herr gegenüber, ebenfalls gereizt, aber nicht zum Sprechen geneigt, spuckt au». Alte Dame, sowohl über Unzulänglichkeit als auch über Ausspucken geärgert, zeigt entrüstet auf Schild: Nickt ausspucken! Dicker Herr marschiert auf und ab. Leberkranker Mann mit grünem Gesicht kann es nicht mit ansehen', macht Kopfbewegung und deutet mit Zeigefinger an Stirn. Frau gegenüber beugt sich vor, keift: „Dafür zahlt man Steuern, daß man sich da» gefallen lassen muß!" Mann brummt Beifall. Junger Brüllaff wiehert los. Alter Herr spuckt au«. Alte Dame droht nach Plakat. Schwüle Situation. Dicker Herr marschiert auf und ab. Schaffner luchst durchs Fenster, prall von Energie: bebend vor lln- geduld-, sieht aus Uhr. Endlich! „Abfahren!' Wagen setzt sich in Bewegung. Dicker Herr — unerhört! — versucht, torkelnd, auf und ab zu gehen — auf und al>. Alle — alte Dome, leberkranker Mann, junger Brüllaff, alter Herr — sehen, Entspannung erlech- zend, auf Schaffner. Schaffner streicht Bart, glupsch: mit Augen, öffnet Gebiß, donnert: „Was soll da» heißen? Warum setzen Sie sich nicht hin?" Atem stockt. Aller Augen bohren stch in dicken Herrn. Dicker Herr sieht verwundert efft Schaffner, dann Publikum an. Scheint zu erwachen — arglos — wie ein neugeborenes Kind. Spricht (mit treue« Gesicht): „Nämlich ... der Arzt hat mir Bewegung verordnt ... uad ... «rd ich hab' doch niemals -eit!"
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