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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 28.10.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-10-28
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192310284
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19231028
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19231028
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-10
- Tag 1923-10-28
-
Monat
1923-10
-
Jahr
1923
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Lurri TOririts.Nrrior'Asrr. «fr 2S« 8om»1«g, Äe» 28. Ottoder Seite 7 storben! Entzückende Menschen findet nur der, der jeden Augenblick erwartet, sie zu treffen. — Um Wunder zu erleben, muß man an sie glauben. Wer nicht an die Unsterblichkeit glaubt, gleicht jemand, der den Sonnenaufgang leugnet, weil er erblindet ist. Betrachte den Sternhimmel oder das Meer ....... di« ewigen Berge: welch' eine Rolle kann schon in diesem gigantischen Betriebe ein brechendes Men- schenherz spielen! Und doch: was wären Berge, Meere, Sterne, wenn wir sie nicht als etwas unserer, zuckenden Herzen Verwandtes empfinden könnten! Bor der Natur ist alles gleichwertig! Die Flammen des Kamines sind erloschen, Ich merkt* es nicht, vergaß sogar die Zeit; — Auf meinem seidnen Lager hingegossen Ruht meiner schönen Freundin weißer Leib. retten! An den armen Fu! Horry überhaupt nicht gedaä Wenn Tiere lachen könnten, besäßen sie viel leicht eine vollendete Kritik unserer Z i v i l i s a ti o n. Aber sie hätten sich vielleicht bis zum Aussterben schon totgelacht. Ich möchte wohl einmal z. B. die Glossen eines Affen über den Zylinderhut oder die eines Hahnes über unsere Hochzeitspräliminarien hören! Freund hatte eine drollige Art, den wandernden Der- käufer i ternheit WWW stangen!* ausrief. Aber da» Hübschest, der rote Kinderballon, den Lisbeth , und an seiner Strippe flattern ließ. Sie kann die Ungeduld nicht länger zähmen, Voll Aerger sieht hr liebliches Gesicht. Sie beugt sich vor, die Lampe mir zu nehmen Und fragt mich leis: »Weißt du, wie spät es ist?* Aus dem Chinesischen des YUan Met (17. Jahrhundert). In tiefer Nacht DonVI»I Ich la» am Abend spät ein gutes Buch — Ganz fühlte sich die Seele hingezogen; Don meiner Decke goldbesticktem Tuch Sind die Parfüms in leere Luft verflogen. -ufammennehmen, will lustig miteinander sein in diesen ohnehin traurigen Zeiten. Lange hielten Rolf ll und Lisbeth-Nephertct« sich an der Hand, und sie sah ägyptischer aus als je zu vor. Der Zug ruckte ein paar Mal, ohne abzufahren. »Ja, nun muß ich fort*, sagte er resümierend. Und sie, indem sie lächelnd seine Stimme von da mals nachmachte: »Muß das sein?* Und er, wie damals sie: „Es ist doch schon . . .* Da glitt der Zug weich unter ihren Händen weg. Lisberhs Dallcn flatterte, ihr Tuchlcin wehte, und sie lächelte tapfer und ergeben Rolf dem Zweiten nach. Sanfi nahm der Dicke sie dann am Arm und ge- ieitete sie sorgsam die Bahnhofstreppe hinunter. Um sie zu zerstreuen, machte er wieder .Schokolade, Keks, Nußstangen!* nach. Lisbeth-Nephettete lachte. „Nun sollten wir eigentlich noch hier in den Ausstellungspark gehen*, sagte der Dicke, „um unsere Sorgen zu vergessen, und weil wir gerade dicht dabei sind.* Im ersten Augenblick erschrak sie. Aber dann er- innerte sie sich, daß sie eine selbständig«, kleine Groß- städterin war, verständig und auf niemanden an- gew esen ihr eigener Herr und gar nicht sentimental, und daß es keinen Sinn hat. in diesen so schon traurigen Zeit»n sein Kopfkissen naßzuweinen, weil ein Liebster fortreist, und daß man sein Leben ge nießen muß und seine Arbeit tun. .Schokolade, Keks, Nußstangen!* wiederholte der Dicke, und man g ng in den Ausstellungspark. Meine Bosheiten und große Freundlichkeiten Don e»rl AuS dem in Nür^ im Ernst Rowohlt-«erlag. Berlin, ersweinendrn Na «Platz de4 verstorbenen bcrühmien Chirurgen, Philosophen und LMriWellcre Larl Ludwig Slbteia, geben wir di« sorgenden Reflexionen wieder.) Die bürgerliche Gesellschaft stellt sich zu den unsterblichen Werten ihrer Poeten und Geistes heroen wie zu deren Monumenten. Haben muß man sie, um sie so leicht nicht wieder mrzusehen. Höch stens —, wenn Fremde kommen! Man muß doch -eigen, was man hat. Der Ursprung der Religionen kann ebenso leicht aus der Dankbarkeit, dem Glück, etwas Töd lichem entronnen zu sein, hergeleitet werden, als aus der Feigheit, sich einem allmächtigen Beschützer gegen Bedrohungen zu befreunden. Di« Brücken in neues Land bauen die Genies, aber den Brückenzoll erheben nicht sie, sondern die Nachbeter, Halbversteher, Kommentaristen, Ballhor- nisierer. Die Neuerer haben alle etwas von Risses: sie bleiben auf ihrem selbsterbauten Berg sitzen und sehen die, welchen sie fremd geworden sind, den Ein zug in Kanaan halten. Man möchte alle seine Ge setzestafeln, die Gott diktierte, hinter der ganzxu Bande hinterdrein schmeißen. ver Geiger Don vsrdor Wir harten vom Tods gesprochen. Besonders lei denschaftlich behandelten wir die Frag«, ob der Augenblick des physiologischen Ende», also de« Auf hörens der Herztätigkeit, der Atmung und de» Bre chens der Augen, auch wirklich mit der absoluten Vernichtung jeglicher Gefühls- oder Bewußtsein»- tätigtest zusammenfallen muß. Wir konnten uns über diesen Punkt nicht einigen. Schon wollten wir auf ein anderes Thema übergehen, als Dr. M. sich eine» Erlebnisses erinnerte, das ihm während unserer Unterhaltung sonderbarerweise nichr in den Sinn gekommen war. Er erzählte: Es war in Moskau. Ich hatte eines Abends ein Billett zu einem Konzert im philharmonischen In stitut erhalten. Ich kam verspätet. - Der Saal war gesteckt voll. Auf dem Podium stand ein junger Gei ger, Rochansky mit Namen, wenn ich mich recht er innere, ein hochaufgeschossener Mensch von höchstens fünfundzwanzig Jahren mit bleichem, edel geschnit tenem Gesicht, aus dem die großen, glänzende» Augen mit fast unheimlicher Schwermut ins Publi kum starrten. Er spielte, wie ich wußte, zum erstenmal sein eigenes Konzert, eine Phantasie in zwei Teilen, deren Aufführung von der Fachwelt seit langem mit Span nung erwartet worden war. Der erste Satz, ein Allegro con brio von kühnester Eigenart, ging eben zu Ende. Das Adagio begann. Nie hatte ich noch eine so schmerzensreiche, hoffnungs lose Weise, ein so unsagbar verzweifelte» Schluchzen und Klagen der Geige gehört. Was mußte die Seele dieses Menschen bewegen und erschüttern, daß er imstande war, Töne zu finden, die mit ergreif.nd- ster Leidenschaftlichkeit nicht» andere» zu verkünden schienen als die Sehnsucht nach dem erlösenden Ende. Ich wurde sofort von einer lähmenden Bangig keit gepackt, die mich zwang, meine Blick« wie hyp notisiert auf dem Antlitz des Künstlers ruhen »u lassen, der jetzt seinerseits auf mich, direkt auf mich schaute, was meine Erregung nur noch erhöhte. Da- Spiel mochte etwa eine halbe Stunde ge dauert haben, da, nach einer kurzen, zu einem M,z»o- forte anschwcllenden Kadenz in Dur. die durch ihre hellere Färbung die gigantische Melancholie de» Vor- ausgegonaenen nur noch erhöhte, geschah etwa», do» mir das Blut in den Adern stocken mochte. Ich ge wahrte nämlich, wie plötzlich ein Beben, ein Zucken durch die Gestalt de» Geiger« ging. Al« hätte sein Haupt irgend ein unsichtbarer Schlag getroffen, neigte e» sich nach vorn, da» Gesicht schien durchsichtig zu werden wie Gla», die Auaeu veränderten sich, sie wurden größer, sie verloren Glanz und Ausdruck, sie begannen zu stieren und — brachen. Sanken die Arme jetzt nicht krastlo« nieder, löste sich der Bogen nicht von den Saiten, mußte in der nächsten Sekunde da« Instrument nicht polternd zu Boden fallen — und dann — ' Nein. Da» Unglaubliche, Gespenstige geschah: der Geiger xrtzarrtt unverändert t» seiner oufeecht« ..Lrjtir «iecuk Oau«, rcieute^ bouuiu c -nuu-w!' Bei der oft versuchten Deutung dieses Rätselwprtc. wird immer vergessen, daß es der Teufel ist, der es Eva fn» Ohr flüstert. Es ist ein geheimer, nieder trächtiger, echt teuflicher Sinn dahinter. Ihr werdet ein wie der Gott, wissend um Gut und Böse. Aber >a» eben ist die Tragödie. Ihr werdet so unglücklich ein, wie ein Gott. Solange ihr nicht scheiden könnt »wischen Gut und Böse, seid ihr auch schuldlos wi: da» Tier. Da» Wissen um Gut und Böse, da? Dählenmüssen -wischen beiden ist eure und des Gotte» Tragödie. E» ist «in Fluch de» Teufel«, Gott sein heißt furchtbar leiden. Denn auch Er vermag da» Böse nicht zu hindern. Der Teufel weiß, dag Gott nicht allmächtig ist. Und er weiß, daß er dos Schlachten und Morden nicht zu verhindern vermag uns daß er um jede» überfahrene Kindlein viellei-bt »ehr leid» «l» di« entsetzt« MM». Haltung, di« Geige entglitt nicht seinen Händen, »r spielte weiter, ja. das Adagio nahm seinen Fortgang, doch welch ein Fortgang!! Meine Herren, ich vermag mit Worten kaum auszudrücken, welche Wandlung jetzt das Spiel an Vortragsart, Tempo und Klang farbe erfuhr. Das da ertönte, war keine Musik dieser Erde mehr, wurde nicht mehr durch die Kunst eines Menschen hervorgezaubert, nicht durch einen von menschlichen Händen geleiteten Bogen auf ma teriellen Saiten erzeugt. Und trotzdem waren es zweifellos die folgerichtigen Takte des Satzes, ihr Inhalt stimmte zu dem Vorausgegangenen, da« sagte mir mein musikalisches Verständnis — doch wie gesagt, unvergleichlich andere war das Wesen dieser Vibrationen, die meine Seele schairdernd erbeben ließen. Mein Gott, dachte ich nach einer Weile, hat denn sonst niemand bemerkt, was da oben vor sich ging? Ich blickte für Sekunden um mich — nein, niemand schien etwas Außergewöhnliches wahrgenommen zu haben. Die Leute saßen da wie zuvor, andächtig lauschend, versunken, oder mit ehrfürchtigem Staunen auf den Geiger blickend, der doch gar nicht mehr wirk lich geigte, sondern dessen Rechte nur wie in fort wirkender Erinnerung an Bewegung auf und nieder fuhr, während die Linke mit krampfhaft starren, fast plumpen Griffen die Saiten umspannt hielt. Immer leiser wurde allmählich das Spiel — das mußten die letzten Takte des Satzes sein, das sich auf lösende Finale... zweifellos... Und jetzt — aber ich hatte es ja gewußt, hatte es nur schon vor Minuten erwartet — der Mensch fiel plötzlich, das Instrument unter sich begrabend, kra chend der Länge nach auf den Boden und blieb re- gungslos liegen. Ein furchtbarer Tumult entstand. Alles drängte nach vorn. Ich war einer der ersten, die die wenigen Stufen zum Podium emporstürmten. Ein Arzt mit mir. Er neigte sich über den starr Dalicgenden: „Tot. Ein Herzschlag." „Mit den letzten Takten seines Adagios selbst ge storben!* murmelte jemand hinter uns. Ich wollte etwas sagen, wollte widersprechen — aber ich ver mochte kein Wort hervorzubringen. Nach einer Weile raffte ich mich zusammen und verließ, kaum meiner Sinne mächtig- den Saal. Dies, meine Herren, ist die kurze Geschichte meines Erlebnisses, schloß Dr. M. Und ich überlasse es nun vollkommen Ihnen, mit mir darin übercinzustimme oder nicht daß das Herz des unglücklichen jungen Künstlers schon in dem Augenblick brach, da ich jcn' schreckliche Veränderung an ihm gewahrt hatte uu daß er, nur im Impuls seines göttlichen Genies, über die Grenze von Sein und Nichtsein hinweg, sein Adagio zu Ende gespielt hat als — Toter. Die Geigen im Orchester sangen und flehten. „Liebe! Liebe!!* jauchzten sie. Anette begann weich zu werden. Wie hätte Harry sich ihr sonst nähern sollen? Der Brief war das einfachste gewesen. Sie wollte ihn aufheben, aber Tante Klementine paßte zu sehr auf. Vielleicht hatten andere Leute bemerkt, daß er den Zettel unter ihren Sitz gelegt hatte... Immer wilder, sehnsuchtsvoller schluchzten die Geigen. „Ich werde doch zum Rendezvous gehen, vielleicht hgt er mir etwas Wichtiges zu sagen, und Fritz bekommt bereits eine Glatze. Harrn hatte mich auch nie mit einer Tante Klementine ins Theater geschickt. Er war überhaupt viel rücksichtsvoller!* Das Liebespaar auf der Bühne begann sich, wie es im Finale des zweiten Aktes immer zu geschehen pflegt, zu verprügeln. Nun wies die entzückende Diva gar dem befrackten Tenor die Türe. Nein, ich werde nicht zum Rendezvous gehen!* dachte Anet e, „soviel Stolz wie die Gans auf der Bühne habe ich auch noch. Aber sehen will ich, was er schreibt!* Während Tante Klementine in Rührung zerfloß, bückte sie sich nach dem Zettel. Aber Tante Klemen- tine war nicht so bewegt, wie sie ausgesehen hatte. „Was hast du denn da?" fragte sie. „Mein Taschen tuch ist auf die Erde gefallen! antwortete Anette rasch und steckte den dicken Zettel in aller Eile in den Aus schnitt. Er verdarb zwar ihre schöne Figur, aber wohin sonst damit? Ich finde es nicht ästhetisch, das Taschentuch im Ausschnitt zu tragen!* bemerkte die Tante, während die Leute Beifall klatschten, „ich habe schon früher be- merkt, daß du schief aussiehst, aber ich wollte dir nichts sagen, da ich glaubte, daß du eben von Natur aus so bist. Ich habe in allen Aleidern Taschen. Erzähle das deiner Schneiderin, sie arbeitet nicht solid! Weil du keine Taschen hast, verlierst du auch so Vieles. Immer suchst du irgendeinen Schlüssel!* Nach dem Theater erwartete sie Fritz im Restau rant. Harry ging in der Garderobe an ihnen vor über und grüßte flüchtig. Anette sah absichtlich zur Seite. Er sollte nicht wissen» daß sie den Zettel wirk lich aufgehoben hatte. Mochte er weiter zittern und bangen! Fritz war wieder einmal unausstehlich; er war eben Tante Klementine» Neffe. „Das Theater war herrlich!* erzählte sie und fühlte, wie das Papier an ihrem Herzen knisterte. Sie würde doch zum Nendez- vous gehen. Die Minuten schienen ihr die Länge von Stunden anzunehmen. Auf dem Herzen drückte sie das Papier und im Herzen die Frage, was darauf stand. Endlich war sie allein in ihrem Schlafzimmer. Der erste Griff galt dem Zettel. In fliegender Eile ent- faltete sie ihn. Nichts keine Zeile aber da war etwas hinausgefallen — —. Sie bückte sich. Auf dem Teppich lagen Wurstpellen. Der dicke Herr hinter ihr hatte die Ueberreste seine» Nachtessens sorglich in Papier verpackt und unter ihren Sitz geworfen. Sie aber hatte die Häute auf. gehoben, unk an ährem Herzen heimgstrogen An allem Schuld trug Harry. Dieser Schurke! „Fritz!" rief sie den Gatten, „wenn ich es mir richtig überlege, so war da« Stück entsetzlich blöd!* „Du hast doch erzählt, daß es so nett war!* meinte er sanftmütig. „Ach nein, ich sagte das nur wegen Tante Kle mentine. Wenn du nicht mit mir bist, gefällt mir überhaupt nichts. Nächstes Mal mußt bestimmt du mit mir gehen!" Mutz das sein? Don ssrsnr «»«»»> Ohne sich umzusehen, fühlte sie deutlich, daß ihr die be.den Herren nachgingen, die im Kino zwei Reihen hinter ihr gesessen hatten. Der Jüngere, der Große, hatte sie in Len Lichtpausen angesehen mit hungrig offenem Munde wie ein Kind, das nach einer Frucht giert. .Sie ging so langsam, wie es ihr Ge fühl für die guten Sitten irgend erlaubte. Nun bog sie in die Querstraße ein und hatte nur noch hundert Schritte bis nach Hause. Wie ärgerlich, daß gerade in diesem Augenblick irgend so ein frecher Kerl, Ladenschwengel oder Friseur, herüberwechseln und sie ansprechen mußte! Sie wich stolz aus und ging eilig auf ihre Tür zu. Etwas umständlich im Dunkeln tastend, steckte sie den Schlüssel ins Schloß und drehte. Aufblickend sah sie die beiden aus dem Kino rOrüberkommen. Wieder sah der Junge, der Schlanke, sie an. Die Tür ging auf. Lisbeth trat ins Haus. Aber gerade, als sie von innen zuschl eßen wollte, fiel sein langer Schatten über sie. Hoch stand er vor Ihr und sagte: „Muß das sein?* „Es ist doch schon . . .*, flüsterte sie schräg hinauf. Wie sehr er in diesem Augenblick ihrem Ersten, dem Rolf, ähnlich sah! Ihr wurde schwach zumute. Und dann ging sie mit den beiden in eine Likör- stube, die der andere, der freundliche Dicke, kannte, und wo sie einen der witzig ausgesparten Separat winkel zwischen spanischen Wänden besetzten, nicht zu nah an der Musik. Die beiden Freunde hatten Worte und Manieren, die ihr neu und merkwürdig waren. Man mußte sich mit ihnen zusammennehmen. Für da« Welt- ^Msinnffche-hatte sie shr Rolf erzogen, bei dem'ste immer in Sorge war, ob sie es ihm auch recht machte. Wer diese beiden sprachen mit ihr und miteinander von ihr, wie mit und von einer alten Bekanntschaft, fragten gar nicht nach Nam' und Art und taten be- klemmend selbstverständlich. „Sie sicht doch aus wie die Amenophistochter*, meinte der Dicke, und dann nannten sie sie nur noch Nephertcte. War das nun schmeichelhaft oder ver- drießlich, als neumärkisches Beamtenkind einer ägyptischen Königstochter zu gleichen? Der Junge nahm ihre Hand in seine langen, mageren Finger und wußte ihr Angenehmes über ihre Linien zu sagen. Indessen sah der Dicke ihr schwarzstrohernes, spitziges Hütchen an, das sie schon etwas lange trug. Und als ihre Augen ihm begegneten, sagte er: „Die beiden Blumen rechts und links auf Ihrem Dreispitz (oh Gott, er sah die aufgeklebten Stoffblumen an!!) — die erinnern an die niedlichen Vorlagen in dem Stick- Musterkästchen meiner kleinen Schwestern." Und schmunzelnd trank er ihr zu. Aus dieser Begegnung wurde eine rechtschaffene Liebesgeschichte zwischen Lisbeth-Ncphertete und dem jungen Schlanken, der dem Rolf so ähnlich sah. Aber ,n Weinstuben gingen die beiden nicht mehr. Denn Rolf ll war nicht reich. Er hatte das Studium auf geben müssen und schrieb Zählen in einer Bankfiliale. Sie, die selbständige, verantwortliche Sekretärin des Ehefs der Betongesellschaft m. b. H. war reicher als er, und manchmal brachte sie ihm Zigaretten mit. Und ihre Stelldicheine waren nicht Lafts oder Tanz tees, sondern die alte Normaluhr am Platz, die schon so viele Liebende einander finden oder eins das andere vermissen gesehen hat. Am Ufer gingen sie spazieren und am Neuen See, zur Schleuse, zum Rosengarten. Von ihren Spaziergängen kamen sie dann mit Tütenabendbrot in sein Studentenzimmer, wo viele schöne Bücher herum lagen und standen, und darin waren Bilder von der Nephertcte und anderen fernen Frauen, mit denen dann die neu märkische Lisbeth verglichen und bewundert wurde. Ja, es war eine rechtschaffene Liebe ohne Be dingungen und Versprechungen. Und als Rolf kl mitteilte, er müsse demnächst fort von Berlin, weil der Freund mit den vielen Beziehungen einen besseren Dankpssten in Hamburg für ihn gefunden habe, da nahm man das eben hin und beschloß, die letzte Woche noch recht glücklich zu sein. Man war doch verständig und nüf niemanden angewiesen und wenn man auch bei den Eltern wohnte, sein eigener Herr und gar nicht sentimental, auch jung noch, und später würde man sich schon einmal wiedersehen; aber nur kein« Treue schwören! Immer nur das bißchen Leben genießen und seine Arbeit tun, wie sich'» für eine vernünftige klein« Großstädterin gehört. An Rolf» des Zweiten letztem Abend wollte sein Freund, der freundliche Dicke, teilhaben. Schade, daß man nicht zu zweit bleiben konnte. Immerhin wurde man von de« Freund zu einem „schönen* Essen eingeladen und in den Lunapark geführt, den Lisbeth doch noch gar nicht kannte. Kletterbahn und Eisernes Meer waren lustig und so, daß man sich rühren und aufpaffen mußte, nicht seinen Gedanken nachhängen konnte. Und der dicke nachzumachen, dü mit großstädtischer Rüch- ! immer wieder „Schokolade, Kek», Ruß- !* ausrief. Aber da» Hübschest« war vielleicht _ ' aeschenkt bekam . ' al« sie dann auf dct' Hinteren Plattform der Straßenbahn standen und zum Bahnhof fuhren. Und vrelleicht war es wieder gut, daß der Freund al» dritter mitka« und man nicht zuletzt miteinander allein war. Man will doch nicht weinen bei» Abschied. Man will sich ver Liebesbrief Don NoNmsnn „So wenig Herren sind im Theater!* konstatierte Anette, als sie sich neben Tante Klementine auf ihrem Orchestersitz niederließ. Sie sagte es ein wenig be- dauernd, denn sie trug ein neues Abendkleid. Neue Toiletten pflegen Damen zwar eher zu bemerken als Herren, aber das Kleid zeigte ihre schönen Schultern urst> die pflegen wieder Herren eher zu sehen als Damen. Und Anette hatte es gern, wenn man beides bewunderte: die Toilette und di« Schultern. „Wozu brauchst du Herren?* fragte Tante Kle mentine tadelnd, „man geht doch ins Theater, um sich die Schauspieler und nicht um sich die jungen Lassen anzusehen. Außerdem hast du ja deinen Fritz, der so lieb war, mir heute seine Karte zu über lassen!" „Du verstehst mich nicht!* antwortet« Anette schnell, „ich will keinem andern Mann ge fallen als Fritz. Aber jeder, der ins Theater kommt, muß denken, d»ß nur wir Frauen so vergnügungs- süchttg sind! Das kränkt mich!" „Dann soll der Jemand bloß in« Kaffeehaus schauen!* meinte Tante Klementine, „dort sitzen die Herren und spielen Karten. Das ist ihr Vergnügen!* Sie war auf die Männer nicht gut -u fluächen, fett-sie oor_dreißig.. Jahren einer sitzen gelassen hatte. Don den modernen Frauen hielt sie übrigen» auch nicht viel. Be sondere mißtraute sie Anette, der jungen Gattin ihre« Neffen Fritz. Tante Klementine las das Programm; sie machte das sehr ordentlich. Erst studierte sie da« Personen- Verzeichnis, dann die Annoncen; die gehörten dazu. Anette schaute gelangweilt um sich. Ihre Schultern schimmerten elfenbeinfabrig au» der Seide. Hinter ihnen saß ein älteres Ehepaar, das sofort zu essen be gonnen hatte. Den dicken Herrn interessiert« der Duft seiner mitgebrachten Wurst mehr als der ihrer samt weichen Haut. Plötzlich zuckte sie zusammen: Der Herr, der zwei Reihen vor ihr laß, war doch Harry! Harry, dem sie um ihre» jetzigen Gatten willen einst einen Korb gegeben hatte. Oder hatte er sich zuerst zu' rückgezogen? In der Erinnerung weiß man da« nicht so sicher. Alle Frauen haben in ihrer Erinne- rnng unzählig« Körbe ausgeteilt. Je älter sie werden, desto mehr häufen sich die Erinnerungen und die einst verteilten Körbe. Harry schien sie nicht bemerkt zu haben. Er sah nicht gut aus, wahrscheinlich krankte er sich noch immer ihretwegen. Wenn er sie jetzt in der neuen Toilette erblickte, würde er sich noch mehr kränken. Warum schaute er nicht? Der erste Akt rauschte vorüber. Als e» wieder licht geworden war, konstatierte Tante Klementine, daß der Tenor verlebt und die Diva uralt aussehe, daß die Musik gestohlen und das Libretto urblöd sei. Aber sonst wäre es sehr schön. Anette hörte ihr nicht zu. Während des ganzen Aktes hatte Harry nur auf die Bühne geschaut. Freilich wäre es unpassend ge wesen, sich nach ihr umzudrehen. Vielleicht war er auch zu erschüttert. Jetzt wollte sie in« Foyer gehen. Er würde hoffentlich nicht die Frechheit besitzen, ihr nachzugehen und sie zu grüßen. Aber er beging eine noch größere Frechheit: er grüßte sie überhaupt nicht. Tante Klementine wollte das Büfett aufsnchen. Anette war einverstanden. Im Büfett würde Harry sicher versuchen, an sie heranzukommen. Wenn die Tante nur nichts merkte! Tante Klementine aß bereits die vierte Schinken- semmel, Harry zeigte sich noch immer nicht. Anette war vor Zorn dem Weinen nahe. „Das Stück ist wahnsinnig blöd!* sagte sie, „ich möchte fortgehcn!" „Ich bleibe bis zum Schluß!" erklärte die Tante, „lieber langnssnle ich mich zu Tode, ehe ich dem Theater etwas schenke!" Sie begaben sich wieder an ihre Plätze. Harry saß bereits und wandte ihnen seine wohlgepflegte Frisur zu. Fritz hatte im Gegen- satz zu rhm bereits eine kleine Glatze. Aber ei» Lümmel war Harry dafür, ein ganz gemeiner Mensch! Plötzlich bemerkte sie etwa». Unter ihrem Sitz lag ein zusammengefaltetes Papier. Ein Brief von Harry! Solch eine Frechheit! Dieser Mensch wollte sich einer anständigen, verheirateten Frau nähern! Aber leichter war ihr jetzt doch ums Herz. Seine Interesselosigkeit hatte sie mehr gekränkt, al» sein Be gehren. Natürlich würde sie den Zettel nicht lesen, aber Tante Klementine sollte ihn auch nicht sehen. Schnell stellte sie den Fuß auf da» Papier. Der zweite Akt begann. Was wohl auf dem Zettel stand? Sie konnte e» sich ja denken. Natürlich verlangte er «in Rendezvous, um ihr alles zu erklären. So machen e» die Männer immer. Sie würde den Brief * überhaupt nicht lesen, mochte er unter dem Sitz lie gen bleiben. Ihr Fuß, der darauf stand, begann be reit» steif zu werden. Sie wogte aus Angst vor der Tante nicht, ihn wegzustellen. Die hatte ihre Augen - überall. ^Sieoiel Schmerzen einem die Männer be- der egoistische
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