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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 11.08.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-08-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192308111
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230811
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230811
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-08
- Tag 1923-08-11
-
Monat
1923-08
-
Jahr
1923
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Neuerung der deutschen Monarchie. Wäre solche Möglichkeit etwa noch vorhanden gewesen, ,o hat Bismarck mit dem dritten Bande seiner Er» innerungen, haben Graf Waldersee und Fürst Philipp Eulenburg mit ihren Denkwürdigkeiten ihr einen unheilbaren Stoß gegeben. Auch das Puch des bayerischen Diplomaten G. v. Böhm über Ludwig II. von Bayern spricht, vor kurzem erschienen, eine beredte Sprache. Wir beiinnen uns angesichts dieser Selbstzeugnisss der Mon archie wieder darauf, daß an sich die republika nische Staatsform in jedem Falle die höhere, die e>nes reisen Staatsvolkes und aufrechter Persönlichkeiten würdigere ist. Gewiss kann auch die Republik ein unvollkommenes Gebilde sein, aber sie ist doch weit weniger abhängig von der Unvollkommenheit eines einzelnen, als es die Monarchie nun einmal unvermeidlich ist. An eine schlechte Republik kann täglich die bessernde Hand angelegt werden, bei einem schlechten Monarchen beißt cs geduldig warten,, bis er seinen Erdenlauf vollendet hat. Wer sich zu dem geschichtlich unanfechtbaren Satze bekennt, daß jede Staatsform gut oder schlecht sein kann, wird von dem Wahn geheilt sein, als ob die Monarchie, und nun gar diejenige des alten Deutschland, das Heil der Nation verbürge. Zwar liegt in einer überlieferten Staatsform eine starke Kraft, aber die Staatsform folgt dem Schicksal eines Volkes, und wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir in der Republik den notwendigen Ausfluß unserer jüngsten schmerzlichen Geschicke sehen. Wer in die Mon archie Wilhelms !l. durch jene Schriften einen wirtlichen Einblick bekommen hat, kann nicht mehr Monarchist im alten Sinne sein — er täusche sich denn absichtlich über eine Wirklichkeit, die ebenso brüchig wie beschämend war. Aber es sollte, wenn man zu solcher Einsicht gekommen ist (und die Ereignisse haben sie uns einigermaßen eingehämmcrt!), auch keine innere Halbheit mehr, kein Schwanken zwischen den Staatsformcn, kein Farbe-Bekenncnwollen aus strebsamen Hoffnungen heraus mehr geben — wer in der Deutschen Republik eine Not- wendigkeit erkannt und wer im Staate unseren letzten Halt zu sehen gelernt hat (sonst lasse er besser ab von jeder politischen Betätigung!) —, der muß dieser Republik nicht nur einen sauer- süßen Eid schwören, sondern der muß ihr dienen wollen mit seiner ganzen Kraft. Wir kümmern uns nicht um ein künf tiges Jahrhundert und seine Gestaltungen — mir wissen nur, daß dieser deutsche Staat der Gegenwart unserer ganzen Hingabe, unserer restlosen Treue, unserer heißen Liebe bedarf, wenn er im Sturme dieser Zeiten erhalten wer- den soll. Ein politisch gereiftes Volk weiß, was ihm seine Verfassung bedeutet. Sie ist der Hort alles Rechtes, der Ausgangspunkt alles echten Staatsbürgcrtums, und sie muß auch denen heilig sein, die sie verbessern oder verändern möchten. Wer sich über die Grundlagen des Staatslebens leichtfertig oder gewalttätig hinwcgsetzt, zerstört auch für sich selber das Recht, das den Staat auf- baut und erhält. Deshalb ist die Verfassung für das englische Volk ein Heiligtum, das man sich in schweren Kämpfen einst erobert hat und das seit mehr als zweihundert Jahren die Entwicklung des engliscl;en Lebens wohltätigst geschützt und ge fördert hat. Der Verfassungstag erziehe auch das deutsche Volk zu der Einsicht, daß der Rechts boden der Verfassung die erste Grundlage des staatlichen Lebens ist, und daß die Sammlung auf diesem Boden vaterländische Pflicht ist. Fn dem neuen Kriege, den wir jetzt zu führen haben, ist Unterdrückung jedes inneren Zwistes, jedes Streites um die Verfassung eine Vorbedingung des gewollten Erfolges; wer an ders handelt oder wer auch nur grollend oder krittelnd abseits steht, nützt dem Feinde, auch wenn er sich hundertmal national zu nennen wagt. Die Kämpfer im Ruhrgebiet und in den rheinischen Landen guälen sich nicht mit Ver- fafsungsfragen — sie kämpfen für den deutschen Staat, der uns geblieben ist und der uns weiter bleiben muß. Möge das unbesetzte Deutschland den Verfassungstag mit den gleichen Gedanken begehen und sich damit der kämpfenden Volks genossen würdig erweisen! Sayern gegen die Verfassungs feiern München, 10. August. (E i g. Te l.) Die Münch- ner Verfassungsfcier wird beute von den Veranstal tern, Sozialdemokratischer Verein München, Gewerk schaftsverein, Republikanischer Reichsbund und Zcn- tralrat der Betriebsräte, abgesagt. Nachdem schon die Abhaltung der Feier auf dem Königsplatz verboten «ar, hat die Münchner Polizei direktion in einer neuen Auflage die Abhaltung der Feier auf der Thcresicnwicse zwar gestattet, den ge- schlosscnen Anmarsch, sowie das Auftreten der sozial demokratischen Sicherhcitsabtcilung in unisormähn- lichcr Kleidung aber verboten. Die Einbcrufer bezeichnen diese Einschränkung als eine Verhöhnung des Gedankens einer imposanten Verfassungsfeier und protestieren namens aller verfassungstreuen Staats- bürger gegen diese neuerlichen schikanösen Maßnah. men der Münchner Behörden. Oie neuen Steuersätze Berlin, 10. Auaust. (Lig. Tel.) Der Steuer- ausschuß des Reichstages erhob gestern nachmittag die Anträge seines Unterausschusses Zum Beschluß. Danach werden die Vorauszahlungen für die Ein- kommen st euer auf das 400fache, für die Körperschaftssteuer auf das OOOfachc bzw. bei Körper- schäften, die vor dem 1. Juli 1923 ihr Geschäftsjahr abgeschlossen haben, auf das lOOOfache erhöht. Zur Abgabe aus Anlaß der Ruhrbesetzung wurde beschlossen, von denjenigen Einkommen, die sich aus festverzinslichen Papieren und aus Arbeit»- einkommen, insbesondere der freien Berufe, ergeben, wenn da» steuerbar« Einkommen 1 Million im Jahre 1922 überstiegen hat, am 25. August 1923 da» lOOfache der Vorauszahlung auf die Elnkommenstc'ier für das dritte Kalcndcrvicrtcljahr 1923 zu cryebrn und am 5. Oktober 1923 und am 5. Januar 1924 da« LOOfache. Der Ausschuß befaßte sich sodann mit dem Ent wurf über die Besteuerung der Betriebe. Die Arbeitgeber von Industrie, Handel und Gewerbe sollen eine besondere Abgabe in Höhe des 2fachen der Lohnsteuer, die sie im Monat September bis Februar entrichteten, zahlen. Verbot von Markverkaufen Berlin» 10. August. Eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom heutigen Tage verbietet den Äarkverkauf ins Ausland. Es dürfen von jetzt ab nur noch Beträge bis zu dem Gegenwert von 10 eng lischen Pfund ins Ausland gebracht werden. Der deutsche Kaufmann soll dadurch gezwungen werden, etwa benötigte Devisen in deutschen Geschäften zu erwerben, und er wird gehindert, durch rücksichts, lose Ausnützung ausländischer Märkte für sich Dor- teile zum Schaden der Gesamtheit zu erreichen. Die Verordnung enthält noch folgende Einzel bestimmungen: Innerhalb eines Monats darf den gleichen Empfängern nicht mehr als der Gegenwert von 25 englischen Pfund durch den gleichen Leisten- den zugewandt werden. Auf Zuwiderhandlungen werden die Vorschriften der Balutaspekulations- verordnung angewandt. Neben Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Oie Geld- und Nahrungsmittel-Not Berlin, 10. August. (Cig. Tel.) Infolge des Duchdruckerstreiks, der auch die Banknotendruckereien stillgelegt hat, hat die Zahlungsmittelnot emen katastrophalen Umfang angenommen. Wenn es nicht sehr bald gelingt, die Buchdrucker zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen, sind die Folgen gar nicht abzusehen. In der ge- samten Arbeiterschaft, die nicht die Mittel erhalten kann- um auch nur das Notwendigste anzuschaffen, schwillt die Erregung immer mehr am Wegen gänz lichen Mangels an Zahlungsmitteln hat heute in der 12. Mittagsstunde die Reichsbank ihre Schalter geschloßen. Es wurden rote Plakate zum Aushang gebracht, in denen darauf hingcwiesen wurde, daß diese Schließung infolge des Buchdruckerstreiks ge- schehen sei, daß insbesondere Lohnzahlungen an große Werke nicht mehr vollzogen werden können. Zur selben Zeit begaben sich der Reichsbank präsident Haven st ein und der Ehef des Noten- wesens zum Reichskanzler, um in letzter Stunde eine Wiederaufnahme der Arbeit zu ermöglichen. Die Verhandlungen sind jedoch gescheitert. Gleich darauf wurden neue Verhandlungen mit den Arbeitgebern in der Reichskanzlei eröffnet. Auch verschiedene Großbanken sahen sich bereits in den Vormittags stunden veranlaßt, nicht nur ihre Schalter, sondern ihre Einyangstore überhaupt völlig zu schließen. Dabei kam es zu sehr erregten Szenen der nach Tausenden zählenden Menge, die Geld abheben wollte. Andere Großbanken konnten ihre Schalter nur bis zur 12. Stunde offen halten. Sie behalfen sich ausschließlich mit der Auszahlung der verlangten Gelder in Reichsban'schecks, da sie über Bargeld nicht verfügten. Die Folge dieser katastrophalen Zustände ist. daß an der Börse die Nachfrage nach Bargeld einen geradezu grotesken Umfang annahm. Nichts ist bezeichnender für den Ernst der Situation, als die Tatsache, daß an der Börse für Bargeld eine Zahlung von Aufgeld bis 10 Prozent angeboten wurde. Mehrere große Betriebe, denen für die heutige Lohnzahlung die Barmittel fehlen, haben die Inter vention ihrer Betriebsräte bei der Reichsbank in Anspruch genommen, aber ohne Erfolg. Oer verhängnisvolle Vnchdruckerftreik Berlin, IN. August. Die gestrige Urabstimmung unter ven Berliner Buch druckern hat eine übergrosse Mehrheit für ven Streik ergeben. Da Verhandlungen mit Ven Unternehmern im Laufe des gestrigen Tages nicht zu einer Annahme ver Forderungen der Buchdrucker führten, hat die Streikleitung den Beginn der Ar beitsniederlegung für heute morgen 7 Uhr beschlossen. Nnr die Arbeiter- und Ge- werkschaftöprcsse soll weiter erscheinen. Oie Schuld an Ehrhardts Flucht Dresden, 10. August. (Eig. Te l.) Die sächsische Regierung veröffentlicht gegen die bekannten Aus führungen des Iustizministers Heinze eine neue Er klärung, die einleitend nochmals die Schuld des Senatspräsidenten Dr. Schmidt feststrllt und dann fortfährt: Diese Unverantwortlichkeit des zuständigen Rich ters wird noch übertroffen durch die unbegreif - liche Sorglosigkeit, mit welcher der durch den Untersuchungsrichter, Rcichsgerichtsrat Dr Metz, und durch den Präsidenten des Staatsgerichts. Hofes, Dr. Schmidt, allgemein mit der lieber» wachung des Verkehrs Ehrhardts mit der Außenwelt beauftragte Obersekretär des Staats gerichtshöfe», Krieger, die Anordnungen seiner Vorgesetzten ausführte: 14 Tage vor der Ent weichung Ehrhardts begleitete Krieger Frau Ehr hardt und den Korvettenkapitän a. D. von Hase zum Bciuch Ehrhardts in das Landgcrichtsgebäude in Lcr Harkortstraße, entfernte sich aber wieder, noch bevor Ehrhardt aus dem Gefängnis geholt worden war, so daß nicht nur Frau Ehrhardt, sondern zeitweiie auch von Hase ohne Zeugen mit Ehr hardt sprechen konnten und gesprochen haben- Dabei hatte von Hase an diesem Tage nichr einmal Besuchserlaubnis. Die Vorführung Ehr hardts aus dem Gefängnis besorgte der beim Eraats- gerichtshof angestellte Beamte Bretlchneider. Sächsische Beamte sind bei der Vorführung aus dem Gcfängni» und der Ucberwachung der Besuche über haupt nicht beteiligt gewesen. Die Beamten de» Staatsgerichtshofe«, Nctch»- gerichtsrat Dr. Metz, Präsident Dr. Schmid» (der sich in der schon erwähnten Unterredung mit dem Vertreter de» sächsischen Justizministerium» im allgemeinen mißbilligend über die seiner Auft fassung nach allzu große Milde in der Behandlung sächsischer Untersuchungsgefangener aussprach) und Obersekretär Krieger haben auch sonst Ehrhardt außergewöhnlich bevorzugt Abgesehen von anderen Vergünstigungen, durfte Ehrhardt nicht nur zahlreiche Tageszeitungen halten, sich im Gefängnis von selbstge. wählten Aerzten aller Art behandeln lassen, sehr häufig Turnapparate benutzen, seine Taschenuhr behalten — deren Besitz es ihm in erster Linie ermöglichte, zuverlässige Beobachtungen zu machen und Fluchtpläne auszuarbeiten —, Krieger gab Ehrhardt sogar in die Zelle Karten von Deutsch- land und Mitteleuropa und gestattete ihm, soviel wertvolle Lebens- und Genußmittel, darunter erheb- liche Mengen alkoholischer Getränke und Rauch- Materials zu beziehen und zu empfangen, daß Ehr hardt beständig beträchtliche Mengen Lebensmittel vom Gefängnis aus an seine Frau versenden konnte. Wenn einzelne sächsische Gefängnisbeamte, die durch diese starke Inanspruchnahme für die persön lichen Bedürfnisse Ehrhardts ihrem amtlichen Dienst teilweise entzogen wurden, infolge solch außcrge- wöhnlicher Behandlung durch die maßgebenden Reichsbeamten vielleicht irre gemacht worden sein sollten, so trifft die Schuld hieran in erster Linie die verantwortlichen Reichsstelleu. Uebrigens sind alle sächsischen Gefängnisbeamtcn auf Antrag des Staats- anwalts wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Wenn der Reichsjustizminister meint, die Gefängnisbeamtcn haben die Möglichkeit gehabt, den zuständigen Reichsbeamten gegenüber Anregungen auf Aenderung ihrer Maßnahmen vorzuschlagen, so dürfte demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß Dr. Schmidt dem Vertreter der sächsischen Re gierung gegenüber sogar nach dem Entweichen Ehr hardts es rundweg abgelehnt hat, sich über die Be handlung der Untersuchungsgefangenen „Vorschriften machen zu lassen", was der Reichsjustizminister nach Pressemeldungen sogar durchaus gebilligt haben soll. Tatsächlich hat auch der Staatsgerichtshof unter dem Vorsitz Dr. Schmidts nach der Entweichung Ehr hardts nach Unterredung Dr. Schmidts mit dem Ver treter der sächsischen Regierung einzelne vom Leiter der Leipziger Untersuchung erlassene Anordnungen über die sichere Verwahrung der Prinzessin Hohenlohe alsbald wieder aufgehoben, während der Unter suchungsrichter desselben Gerichtshofes, der sächsische Landgerichtsrat Dr. Richter, zu gleicher Zeit ent sprechende Anordnungen hinsichtlich Roßbach, der Frau von dem Bussche und ähnlichen Gefangenen des Staatsgerichtshofes erließ und heute noch aufrecht erhalt. Das läßt darauf schließen, daß der Präsident Dr. Schmidt sächsischen Anregungen gegenüber nicht besonders zugänglich gewesen sein würde. Ehrhardt ist während der Haft nicht orb- nungsmäßig gemessen und daktyloskopiert worden. Es wurden auch nicht die erforderlichen Lichtbilder in Zivilkleidung in der vorgeschriebenen Form ausgenommen. Nicht einmal nach der Ab- nähme des Bartes im Gefängnis wurde von Ehr hardt ein neues Lichtbild ausgenommen. All dies fällt den unmittelbar unter der Aufsicht des Reichs- justizministcrs stehenden und von ihm abhängigen Beamten der Reichsanwaltschaft ebenso zur Last, wie die weitere Tatsache, daß der erste Steckbrief gegen Ehrhardt Abbildungen enthielt, die mit Ehrhardt keine Aehnlichkeit hatten und deshalb ein Erkennen nicht ermöglichten und daß der Steckbrief eine Personalbeschreibung brachte, die in wesent- lichcn Punkten unrichtig war. Kennzeichnend ist auch, daß der Obcrreichsanwalt für die Wiederergrei fung Ehrhardts eine geringfügige Summe von 25 Millionen Papiermark aussetzte, wäh- rend zum Beispiel nach einer Bekanntmachung des Polizeipräsidiums Berlin zur gleichen Zeit für die Wiedcraufsindung einer im Dom zu Münster gestoh lenen goldenen Monstranz 50 Millionen Mark ge boten waren. Die sächsische Negierung war sehr schlecht beraten, als sie diese Erklärung in die Welt hinaussandte. Es ist schon traurig genug, daß Meinungsverschieden heiten zwischen den Regierungsstellen in Dresden und in Berlin über ernste politische Fragen in die Oeffent- lichkcit getragen worden sind. Bei diesen konnte man dem sächsischen Ministerpräsidenten wenigstens den outen Glauben zubilligcn, daß er sich für moralisch verpflichtet hielt, vor Gefahren zu warnen, die nach seiner Meinung dem Staat drohen. Aber hier lag wirklich kein so dringendes öffentliches Interesse vor, daß sich die Fortsetzung einer Prcssefehde rechtfertigen ließe, die nur das Ansehen der Reichs- und Landes behörden untergraben kenn, ohne irgend etwas zu bessern. Außerdem macht diese neue Er- klärung der Dresdner Regierung den Eindruck, als ob sie nicht einmal von einem Fachmann verfaßt wäre; sie gleicht vielmehr eher einem Zcitungskampfartikcl von zweifelhafter Güte, die mit der Unkenntnis des Publikums rechnet, denn sie berücksichtigt nicht, daß an die Behandlung eines Untersuchungsgefängenen während der Vorunter suchung andere Anforderungen zu stellen sind, als nach deren Beendigung. Solange die Vorunter suchung schwebte und „Berdunklungsgefahr" bestand, mußte Vorsorge getroffen werden, daß der Unter- suchungsgefangene nicht ohne Aussicht der zuständi gen Beamten Besuche empfängt. Briefe wechselt oder sonst mit der Außenwelt in Beziehungen ^ritt. Nach Abschluß der Voruntersuchung kam es nur noch darauf an, sein Entweichen zu verhindern. Danach sind die vom Untersuchungsrichter und die vom Senatspräsidenten Dr. Schmidt getroffenen Anordnungen verschieden zu beurteilen. Auch sonst läßt die Regierungserklärung die strenge Sachlich keit vermissen. Die sächsisch« Regierung sollte sich nicht länger der Erkenntnis verschließen, daß wir jetzt in Deutschland viel schwerere Sorgen haben, als die Frage nach der Schuld an Ehrhardt» Flucht, und auf Auseinandersetzungen nach Art der obigen verzichten. <D Vie Hetze gegen Sachsen Der deutschnationale Abgeordnete Hergt hat sich im Reichstag auch mit den sächsischen Zu- ständen befassen zu müssen geglaubt. Zwar handelte es sich in der Debatte um das Ruhrgebiet, doch wenn einer kein politisches Mittel empfehlen kann, mit dem Deutschland in der Ruhrfrage etwas erreichen könnte, so deckt er seine Blöße an politischen Gedanken am besten mit der Empörung über irgend etwas. Unmittelbar vorher hatte Herr Hergt sein Bedauern darüber ausgesprochen» daß der Reichs kanzler „vor sinnlosen Gewalttaten und verbreche- rischen Anschlägen gewarnt habe". Und nachdem er sich mit diesen Worten ein Postament für den Dor trag seiner weiteren politischen Weisheiten ge- schaffen hatte, fiel er über Sachsen her, wo „seit längerer Zeit ein einseitiger Bürgerkrieg bestehe und niemand mehr seines Lebens sicher sei". Man könnte es für überflüssig halten, sich mit einem „Politiker" auseinanderzusetzen, der von der Reichsregierung das Lod der sinnlosen Gewalt und verbrecherischer Anschläge erwartet; man könnte auch fragen, woraus denn eigentlich eine Geistesrichtung das Recht nehmen zu dürfen glaubt, eine Politik des Bürgerkrieges zu verurteilen, die doch gerade den Erfordernissen sinnloser Gewalt entspricht. Aber auf das alles kommt es hier ja gar nicht an. Herr Hergt und seine Freunds grämen sich schrecklich darüber, daß Deutschland heute eine republi kanische Verfassung hat. Sie wollen zurück zu den alten Zuständen, die ihren Interessen ent sprachen, wenn sie auch nicht mehr vereinbar sind mit den politischen und sozialen Bedingungen von beute. Zu diesem Zwecke aber müssen sie die neuen Verhältnisse herabsetzen und ihnen das Odium auf- drücken, daß sie unberechtigt, ja sogar verbrecherisch seien. Daher der Kampf gegen Sachsen, wo die republikanische Staatsform von einem wirk lichen republikanischen Machtwillen getragen ist. Freilich: die parteipolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung und zwischen Regierung und Parlament, wie sie in Sachsen spielen, inter- essieren die breite Masse wenig. Darum muß Drasti sches aufgetragen werden. Weinen, bangen, zagen, zittern muß der Deutsche um dieses Sachsen, wo im übrigen alle Leute genau so ihren Tag leben wie überall in Deutschland auch. Denn würde dargetan, daß unter einer republikanischen Verfassung der Rad fahrer genau so seine Laterne am Fahrrad haben muß wie im Kaiserreich, so schmölze dem Bürger seine Sorge und Unruhe dahin, bis er allmählich die Abneigung gegen die neuen Zustände ganz verlöre. Das aber darf auf keinen Fall sein! Bürgerkrieg muß in Sachsen toben, damit die Monarchie die Lei denden nach den Fleischtöpfen zurückwinken kann. Damit die Bürger drn Sehnsuchtsschrei nach den Monarchen ausstoßen, darf „niemand mehr seines Lebens sicher sein". Weil Herr Hergt genau emp findet, daß die Rückkehr zu den alten Zuständen in den heutigen längst keine Bedingung mehr hat, müssen Bedingungen fingiert werden. Es geht uns ja noch nicht übel genug: wir brauchen un bedingt auch eine Verfassung, die sich als Gegen wirkung fingierter Ucbclstände hinstellt, und also im Innersten unwahr ist. Das ist der Sinn der immer wiederholten provo katorischen Schilderungen der Zustände Sachsens. Die Wirkung solcher Hetzereien zeigt sich schon längst. Im Süden und Norden Deutschlands glauben die Leute ganz fest daran, daß Sachsen eine bolsche wistische Republik sei und ziehen ihre Konsequenzen: jeder weiteren Ausbreitung dieses Giftes muß ein Damm gesetzt werden, und das macht sich am besten dadurch, daß man auf Hitler schwört und das Ehr- Hardt-Lied singt. Herr Hergt kann zufrieden sein mit seiner Politik-, er kann zufrieden sein damit, daß „in Sachsen niemand mehr seines Lebens sicher ist", und vor allem damit, daß die Deutschen ihm das glauben. So sicher ist sein Erfolg, daß er sich nicht einmal zu scheuen braucht, im Reichstag diese un erhörten Lügen aufzutischen, im Reichstag, wo er doch gewärtigen müßte, daß sofort ein Vertreter Sachsens ihm in die Parade springt. Was würde das auch schließlich machen? Gegen eine Lüge, die hartnäckig wiederholt wird, ist jede Verteidigung machtlos,' die nicht auch ihrerseits fortgesetzt in ein und dieselbe Kerbe schlägt. Aber die Lüge von dem „Bürgerkrieg" und den „Lebensgefahren" in Sachsen bringt den harmlosen Bürger vor allem in die Gefahr, daß sein ganzes po litisches Denken an diesen vermeintlichen Uebeln haften bleibt, und keinen Antrieb erfährt, sich klar zu betätigen und den wahren politischen Ursachen nachzuforschcn. Weil er in Sachsen die Greuel des Bolschewismus sicht, erkennt er nicht die wirk lichen Mängel unserer Politik. Er atmet auf, daß er nicht in Sachsen leben muß, wo „niemand mehr seines Lebens sicher ist". Es versetzt ihm aber nicht den Atem, daß sein Geschick auch mit in den Händen eines Mannes wie des Herrn Hergt liegt, der ihm solche Gefahr wohl vorgaukeln muß, damit der Blick ,a nicht etwa auf Hcrgts eigene politische Unzuläng^ch- keit falle. Nohlenpreiserhöhung um 332 Prozent Berlin, 10. August. Die Organe ver Kohlcnwlrtfchaft beschlossen heute unter Vem Einfluss ver Lohn- unv Mate- rialpreissteigerungen eine Kohlen- preiserhöhung um etwa 382 Pro zent. Ter Bruttopreis für rheinisch-wefl fälifche Fettförverkohle wirv sich daher von bisher 5 158 000 Mark pro Tonne ans 23 267 660 Mark erhühen, und dem entsprechend steigern sich die Preise für die anderen Reviere. Die neuen Preise gelten ab 0. August bis Ende der nächste« Woche. AlSdann wird eine automatische Anpas sung der Kohlenreise an die Lebenshal tung-- und Grosshandelsindexe ein treten. Erregung in Emden Emden, 10. August. (Eig. Tel.) Die freien Gewerkschaften und der ADGB. haben in einem Auf- ruf die Arbeiter, Angestellten und Beamten der Stadt und de« Landkreises Emdcn zum Generalstreik aufgefordcrt. Natürlich wird strengste Disziplin und strengste Befolgung der Weisungen der Streikleitung verlangt. Die Erregung unter der Bevölkerung ist sehr groß. Demonstrationszüge durchziehen die Straßen mit ter Absicht, die Läden zu plünd-rn.
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