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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 01.08.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-08-01
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192308019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230801
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230801
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-08
- Tag 1923-08-01
-
Monat
1923-08
-
Jahr
1923
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8e!1e 2 Ur. 179 Lelprlger avü Usockelsrettuag LUttvock, ck«r 1. Lugas* ist noch immer so groß, daß weder die Welt noch grosse Teile des englischen Volkes sich die beschL- mcnde Tatsache einzugestehen vermögen, daß England ebenso ohnmächtig gegenüber Frankreichs Uebermacht ist wie Deutschland. Es ist leider so: England hat keine Möglichkeit, seine friedlichen Absichten durchzusetzen, es nehme denn einen Bruch mit Frankreich in Kauf. Diesen Bruch kann England aber zurzeit nicht wagen, ohne sein ganzes Dasein aufs Spiel zu setzen, und so versucht es bis zu günstigeren Zeiten sich durchzuschlagen, wobei die gezwungene Freund- scl)aft mit Frankreich der Schutz gegen Frank- reichs Feindschaft ist. Wie kann man unter solchen Umständen auf England hof fen! Es wird so lange zu lavieren versuchen, bis es eine Frankreich ebenbürtige Luftflotte be sitzt — die Wissenden in England werden in zwischen mit den Zähnen knirschen wie wir. Und Amerika? Konnte es nicht auf Frankreich einwirken, im Notfall durch Kündi- gung der gestundeten Kriegsschulden? Wirsehen die Dinge gern, wie wir sie haben möchten, und vergessen, daß die Sympathien der Vereinigten Staaten für Frankreich seit 150 Jahren tief be gründet sind, und daß der gemeinsame Krieg sie noch verstärkt hat. — Viele in Deutschland müssen sich noch daran gewöhnen, in der Demokratie eine völkerverbindende Macht zu erkennen, die man mit Deklamationen Uber Recht und Unrecht nicht aus der Welt schafft. Wenn die Stimmung in den Vereinigten Staaten gewiß auch anders geworden ist, und heute die Kritik an Frankreich breiteren Raum einnimmt, so bedeutet das noch längst nicht, daß man sich für uns aktiv einsetzen und den alten Freund Frankreich hinunterstoßen werde. Viel eher kann man prophezeien, daß die wachsende Bedrohung Englands durch Frankreich in den Vereinigten Staaten antrei bend wirken wird, denn erst in diesem Punkte verbinden sich dort gefühlsmäßige Sympathien Mit politischen Imponderabilien. Tretet dem Völkerbund bei, sagen an- dere, die auf die Wirkung des guten Willens in der Welt hoffen. Unzweifelhaft ist die Völker- bundfrage von ernstester Bedeutung; sie wird nicht wieder verschwinden, bis sie befriedigend gelöst ist. Aber die Befürworter eines soforttgen Eintritts in den Völkerbund scheinen ganz zu vergessen, daß wir dort unweigerlich derselben französischen Politik gegenüberstehen würden, die uns an Rhein und Ruhr bedroht. In dem Augenblick, wo wir den Völkerbund zur Stühe unserer Sache machen wollen, wird Frankreich alles in Bewegung setzen (und leider erfolgreich in Bewegung setzen können), was diese Stütze in ihr Gegenteil verkehrt. So gewiß Deutschland Völkerbundpolitik treiben muß, so gewiß ist doch der Zeitpunkt unseres Eintritts in den Völker- bund von gewichtigen Ueberlegungen abhängig und nicht mit dem Sturm des Temperaments zu lösen. Auch setze man in der Not doch nicht seine Hoffnung auf Dinge, die man noch nicht erprobt hat und die auch nicht sofort zur Wir kung kommen können. Im Augenblick hat es doch nur Zweck, auf Mittel zu denken, die der Not des Tages Einhalt tun und uns weiter leben lassen. Solange die Vereinigten Staaten und Rußland dem Völkerbund nicht angehoren, tun wir sicherlich gut, uns nicht an den Völkerbund französischer Observanz zu verschenken. Gibt es also keine Hilfe von außen? Aller Wahrscheinlichkeit nach sind wir auf uns allein angewiesen — denn was bedeutet Italien gegen- über Frankreich, wenn selbst England seinen be scheidenen Willen nicht zur Geltung bringen kann! Die Hilfe kann nur von uns selber kommen. Die Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes ist nach menschlichem Er messen die stärkste Waffe, die wir noch besitzen. Aber dieser Widerstand muß freilich ganz anders durch Regierung und Reichstag gestützt werden, als es bisher der Fall war. Wir brauchen eine Tätigkeit der Regierung, des Kanzlers und des Außenministers, die der Nation das Gefühl gibt, daß im Abwchrkampf auch Deutschlands Staatsmänner alle nur irgend erdenklichen Mit tel sachlich und persönlich einsetzen; und wir brauchen eine Haltung des Reichstags, die der Welt sowohl die Geschlossenheit der Nation in dieser Abwehr, als auch den Willen zu wahren Opfern zeigt. Es ist richtig, daß Deutschlands Finanzen vor der endgültigen Lösung der Repa- rationsfrage nicht geordnet werden können, aber das bedeutet noch längst nicht, daß wir in ein System des beinahe völligen Geschehenlassens ver fallen müssen. Von hier aus ist auch unsere auswärtige Lage erheblich zu bessern. Vie Nuhr-Vanditen Bochum, 81. Juli. Der Eisenbahn ingenieur Franke von der Dahnhofskafle im Nangicrbahnhof Hattingen wurde am 25. Juli zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Franke war seit sieben Wochen in Haft. Bei seiner Vernehmung wollte man von ihm wissen, wo der Geldschrank- fchlüssel und wo die Kasse sei. Am 27. Juli wurden in Bochum weitere vierzehn Eisenbahner ausgewiesen. Der Bahnhof Steele- Nord ist wieder freigcgeben und durch Hilfspolizeibeamte übernommen worden. Auch die Schlüssel des Bahn hofs Steele-West wurden von der Besatzungsbkhörde ousgehändigt. Die in Osterfeld am 21. Juli beim Abholen von Kasscngeldern verhafteten Lisenbabnbeamten sind in da» Zuchthaus Werden gebracht worden. Am 25. Juli wurden wieder zwei Eisen- bahnbedienstete wegen Lohngeldaustragen» ver haftet und in Richtung Oberhausen abtran»portt,rt. Pom Bahnhof Dahlhausen wurde der Rest der französischen Besatzung am 28. Juli zurückgezogen. Die Uebergabe de» Bahnhof» hat aber noch nicht stattgefunden. Zn Richtung Steele-Nord und Altrndorf find dir Gleis« auf- gerissen. . Regierung und Reichstag Aeußerungen führender Parlamentarier In zwölfter Stund« hat das Ministerium Euno sich dazu aufgerafft, Maßnahmen zur Ab- Wendung des drohenden vollständigen Zusam- menbruchs unserer Staatswirtschaft in Aussicht zu stellen. In dem Augenblick, wo die Einbe rufung des Reichstags auf den 8. August ange- kündigt wird, schien es uns wünschenswert, die Stellungnahme der nach der Lage der Dinge zu- nächst in Betracht kommenden Parteien zu erforschen. Wir haben zu diesem Zweck führende Mitglieder dieser Parteien um eine Aeußerung im „Leipziger Tageblatt" ersucht. Wir geben sie im Folgenden wieder. C« braucht kaum hinzugefügt zu werden, daß wir bei der Wieder- gäbe der Musterungen lediglich als Uebermittler dienen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren. Das Vorstandsmitglied der Deutschen De mokratischen Partei, 5lbg. Fischer (USln) faßt seine Ansicht folgendermaßen zusammen: „Einheit des Volkes nach außen und innen ist und bleibt das vornehmste Gebot staatsbürgerlicher Pflichterfüllung. Trotz aller Not auszüharren bis zur Klärung der Reparat onsfrnge, erfordert die natio nale Sclbsterhaltung Wirksame Steuern müssen ge- schaffen werden auf wertbeständiger Grundlage; kein Stück« und Flickwerk mehr in einem verfehlten Steuersystem. Durch Goldrechnung zurGold- Währung ist der Weg aus der Wirtschaftsnot zur langsamen Mirtschoftsgesundung. Goldanleibcn, Goldkredite müssen als erster Schritt auf diesem Wege helfen." Der Vorsitzende der Zentra mopartei, Präsident Dr. Marx äußerte sich in folgender Weise: „Zurzeit ist es notwendig, daß niemand die Nerven verliert. Don einer Krise darf jetzt unter keinen Umständen die Rede sein, denn das wäre das Allcrbümmste, was wir tun könnten. Ruhe und Ziel bewußtsein sind notwendig. Zweifellos herrschen Mißtrauen und Unzufriedenheit unter der Bevölke rung, die sich namentlich in Klagen gegen die Re- gicrung dahin äußern, daß nichts Ausreichendes ge schehe, um den vorhandenen Mißständen abzuhelsen. Ein erfreulicher Schritt vorwärts bedeutet zweifel- los der Kabinettsbeschluß vom vergangenen Freitag. Es wäre jetzt nur eine Frage, ob das nicht schon einige Wochen früher hätte geschehen können. Große Opfer müssen jetzt von allen Bür gern, in erster Linie von den Besitzenden gebracht werden. Die vorgeschlagenen Steuern müssen in möglichst kurzer Zeit bewilligt werden. Es muß in Erwägung gezogen werden, ob ihre Eintreibung nicht noch zu einem früheren Zeitpunkt ermöglicht werden könne. Möglichst im August schon müssen reichliche Mittel der Staatskasse zuflicßen. Auch schon, um dem Auslande zu beweisen, daß wir zu Opfern bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit bereit sind. Der Negierung muß man zugute halten, daß cs sich um die Lösung von Fragen handelt, wie sie schwieriger einer Regierung noch niemals zugemutet worden sind, und deren Lösung fast zur Unmöglich keit gemacht wird durch die Brutalität und den Wahnsinn des französischen Imperialismus. Die Politik der Regierung in der Rhein- und Ruhrfragc wird von der weitaus größten Mehr heit des Reichstages gebilligt. Die Finanzie rung des passiven Wider st andes, an dessen Einstellung nicht gedacht werden darf, soll nicht nur durch die Papicrgcldvermehrung. sondern auch durch Aufbringung von Stenern und Opfern der Besitzenden erfolgen. Diese Finanzierung muß die erste Aufgabe sein, die der Reichstag in her kommenden Session zu erfüllen hat. Außerdem sind noch andere schwierige Aufgaben zu lösen: die Aus gabe einer wertbeständigen Reichs anleihe, Schaffung wertbeständiger Steuern und Umwandlung der bestehenden Steuern in diesem Sinne. Ich bin überzeugt, daß die Regierung in der von mir angedeuteten Richtung nicht untätig gewesen ist. Es wäre gewiß sehr wünschenswert, wenn angesichts der in weitesten Kreisen bestehenden Ansicht, die Re- gierunq sei in den letzten Monaten zu wenig tätig gewesen, die Regierung sich bemüßigt sehen würde, der Oeffcntlichkeit ausgiebige Aufklärung zu gcbcir." Geheimrat Professor Dr. Kahl eine führende Persönlichkeit der Deutschen Dolkspartei, saßt seine Ansicht in folgendem zusammen: „Die Staatsautorität muß sich rücksichtslos durch setzen gegen Fricdensbrecher von Links oder Rechts. Dem Ziel der Reickieerhaltung ist die gesamte innere und äußere Politik unterzuordnen. Dringendste Pflicht der Regierung ist, der Ernährungsschwierig keiten Herr zu werden und kein Mittel großzügiger Wirtschaft»- und Finanzpolitik unversucht zu lassen, dem wahnsinnigen Fortschreiten der Geldentwertung und Preissteigerungen entgegenzutreten. Pflicht der Parteien ist, unter jenem höchsten Ziele den inner politischen Zank zurückzustellcn, Klassenverhrtzung in jeder Art und Form zu Unterlassen. Pflicht de» Reichstage» ist, jede nur irgend entbehrliche Gesetzes- macheret prciszugeben und die Hauptkraft daran zu wenden, unter Abkehr von den falschen und kompli- zierten Grundlagen des gegenwärtigen Steuersystems eine in großem Geist gestaltete und unmittelbar wirksam« Neuordnung der Staatsfinan- zen im Verhältnis von Reich, Ländern und Ge meinden in die Wege zu leiten. Pflicht jedes Ein- zelnen ist unbedingte Opfcrwilligkcit, und :e schwerer die Not, um so vollere Hingabe der Persönlichkeit ans Vaterland. Ohne das einheitliche Zusammenstehen aller staats- erhaltenden Kräfte im Innern ist erfolgreiche äußere Politik unmöglich. In dem Abwehrkampf gegen den Vernichtung»willen Frankreich» muß die Reichsreqie- rung da» deutsche Volk geschlossen hinter sich wissen und volle» Vertrauen beanspruchen können. Ueoer alle gewundenen Wege und Formen der Diplomatie hinaus muß dem Auslande der stahlharte Wille von Volk und Regierung entgegentreten, um keine Linie breit in Verteidigung der Ehre und Hoheit de» Reiches zurückzuweichen. Schwäche und Mutlosigkeit dürfen nicht aufkommen. Deutschland kann und wird die schwere Zeit bestehen, wenn es die Kraft des Willens dazu anfbringt. Auf die Energie des Wol - lens kommt alles an." Dao Vorstandsmitglied der Sozialdemo kratischen Parte:, der ehemalige Reichskanzler Gustav Dauer äußert sich folgendermaßen: „Das deutsche Volk befindet sich in einer Zwangs- läge und hat leider nicht die Freiheit seiner Ent- schließung. Da wir dieses Unglück, das durch den andauernden Rechtsbruch der Franzosen über uns hercingcbrocken ist, nicht abwenden können, bleibt uns nichts anderes übrig als durch innere Maßnahmen die Kraft zum Widerstand zu befestigen und zu erhalten. Die Grundsätze, die die Vereinigte Sozialdemokratische Partei hierfür auf gestellt hat, sind heute bekanntgegeben worden. Im Lande befinden sich nach vorsichtiger Schätzung finanzieller Sachverständiger etwa 1 Milliarde Dollar in ausländischen Devisen. Die Negierung muß Mittel und Wege finden, um an diese Devisen bestände heranzukommen. Es muß ein Gesetz mit schärfsten Strafandrohungen geschaffen werden, das allen Devisrnbefitzern die Ablieferung von 10 Prozent ihres Devisenbesitzes an da» Reich vorschreibt. Die Landwirtschaft muß mit einer wertbeständigen Stcncr (nach dem Roggenwert) belegt werden. Da durch könnten wir unsere Währungslage wesentlich bessern. Ich glaube meine Meinung am besten dahin zusammenfassen zu können, daß jetzt alle Devölke- rnngsklassen die Pflicht haben, gemeinsam mit der Neichsregierunz alles zu versuchen, um zu verhindern, daß das deutsche Volk stirbt." Der Reichswehrminister gegen den „vorwärts" Berlin, 31. Juli. Eine Anfrage des „Vorwärts" in seinem Artikel: „Reichswehr und Republik" vom 27. Juli gibt dem Reichswehrminister zu einer Erklärung Anlaß, in der cs heißt: „Die vom „Vorwärts" in seinen Ausführungen vorausgcschickte Anzweiflung der vorbehaltlosen Ver fassungstreue der Reichswehr kann und muß ich zu rückweisen. Ich verbürge mich in der Tat für den unbedingten Gehorsam der Wehrmacht gegenüber jeder verfassungsmäßigen Reichoregierung. Die Hamburger Angelegenheit ist für die Reichswehr ge klärt. Lin abschließendes Urteil kann abgegeben werden. Zu den einzelnen Punkten ist zu bemerken: 1. Line militärische Nachrichtenstelle in Hamburg hat nie bestanden. — 2. Mit der Berschwörerbesprechung im Hotel Atlantik, die 1919 stattfand, hat Oberst leutnant von Brcderlow nichts zu tun. denn er kam erst 1921 nach Hamburg. — 3. Eine Fühlungnahme von Offizieren der Reichswehr mit gewissen damals noch nicht aufgelösten Organisationen hat seit dem Eintritt Berdcrlows einzig und allein mit dem Ziele bestanden, in diesen Kreisen mehr und mehr dem Verständnis für die Notwendigkeit völliger Unter ordnung unter die Staatsautorität Geltung zu ver schaffen. — 4. Die veröffentlichten Bruchstücke eine« angeblichen Planes zum Vormarsch von Truppen auf Hamburg mit dem Ziele „eines Regierungsum- sturzrs" sind willkürlich au« einer Denkschrift heraus- gerissen, die den Zweck Kat, einem militärischen Be fehlshaber, der in dem :n der Denkschrift selbst al- unwahrscheinlich bezeichneten Bedarfsfalls mit der Niederwerfung von Unruhen beauftragt wird. Unter- lagen für eine möglichst glatte Durchführung seiner Aufgaben zu geben. Alle diejenigen Sätze, die diese Vorbereitungen mit einem Regierungsumsturz zu- sammcnbringen, sind frei erfunden. Demnach erkläre ich, daß alle die namentlich vom „Vorwärts" angeführten Offiziere pflichtgemäß ge handelt haben. Ich habe keinen Anlaß, gegen sie einzuschreiten. Eie werden von mir rückhaltlos gc- deckt." pariser Stimmen zu Deutschlands Krise Pari«, 31. Juli. (Eig. Tel.) Die Berliner Korrespondenten der Pariser Presse beschäftigen sich eingehend mit der inneren Lage Deutsch land« und sagen alle eine Kris« de» Ka binett» Euno voraus. Der Korrespondent de» „Echo de Paris" meint, Deutschland befind« sich augenblicklich in einer jener tragischen Situationen, in denen die Charakterstärke eine» Volkes sich er weise. E« sei die Stunde, wo, um ihre Lage zu retten, energische Männer plötzlich auftreten und mit fester Hand da« Steuer des Schiffes ergreifen, das dem Abgrund zufährt. Für Deutschland seien Männer von Wert notwendig; aber diese Nation von 60 Millionen Einwohnern — so schreibt der Aorre- spoudent — gibt der Welt das Schauspiel politischer Ohnmacht und Mittelmäßigkeit. Kein Mann er» scheint am Horizont, um die Lage zu retten. Die Deutschen haben sich al» Großindustrielle, al» Er- sinder und Gelehrte erwiesen, aber der politische Sinn fehlt ihnen vollkommen. Sie haben noch nicht da» Joch abgeschüttelt, unter da» die Herrschaft de» Kaisertums sie gezwungen hatte. „Der einzige Mensch," heißt es in der Meldung weiter, „der vielleicht alle« ändern könnte, scheint Dr. Etresemann zu sein. Aber hierzu müßte er die notwendige Macht haben, um die nationa listische Meute im Zaum zu halten. Lr müßt« ent- schlossen sein, sich der Klammer zu entledigen, die Stinnc» ihm um die Glieder wickeln möchte. Strese- mann hat ost die Notwendigung einer Einigung mit den Sozialisten betont. Er ist der einzige Mann, der augenblicklich di« große Koalition auf die Füße stellen könnte. Aber um die Lage zu retten und den Bankerott aufzuhalten, also Deutschland zu retten, müßte er einen wahren Geist persönlichen Opfer mute» besitzen und mit der Lnergt« eine» Diktators ausgestattet sein. Lr müßte bereit sein, dem deut- schen Volke die Wahrheit zu sagen, er müßte ihm Mitteilen, baß Deutschland nur durch ehrliche Arbeit zur Zahlung der Reparationen imstande sei und sich nur durch einen friedlichen Geist retten könne. Wird Etresemann die Energie und den notwendigen Mut haben? Bor zwei Monaten habe« die nattonalistt- schen Drohungen ihn am Handeln gehindert, und da» ist ein schlechte« Zeichen. Lin Versuch mit halben Mitteln würde im Augenblick zu einem noch fürchter licheren Chaos führen als dem, in welches die Politik Cuno Deutschland bereits gebracht hat." Schädlicher Uebereifer Während des Krieges hat sich im Auslande eine solche Menge von Mißtrauen und Mißgunst gegen Deutschland angcsammelt, daß es langer Zeit und vieler redlicher Mühe bedarf, um in der Welt einen Geisteszustand herzustellen, der uns Gerechtigkeit widerfahren läßt, die erste Voraussetzung für dis Wiederherstellung eines währen Friedens in Europa. Wertvolle Hilfe kann dabei der deutsche Kaufmann leisten, wenn er seine Geschäftsverbindungen mit dem Auslande dazu benutzt, Aufklärung darüber zu ver breiten, wie das arbeitsame und friedliche deutsche Volk lebt, wie es unter den gegenwärtigen Zuständen leidet und wie ernst lein Wille ist, unter schwersten Opfern an dem Wiederaufbau mitzuarbeiten. Aber der Kaufmann ist häufig weder Politiker noch Psi), chologe, er weiß nicht immer, welche Mittel er an wenden muß, um in dieser Richtung wirklich zn helfen. Er tut deshalb recht daran, sich beraten zu lassen. Leider aber drängen sich an ihn zuweilen Ratgeber heran, die eins sehr unglückliche Hand haben. Ein Beispiel dafür liefert die keineswegs deutschfreundliche, sondern ehrlich neutral gesinnte „Basler Nationalzeitung". Sie berichtet von einem Flugblatt des „Deutschen Fichtebundes" Nr. 34 mit dem Titel „Deutsche Reitpeitsche n- Kultur", das mit entsprechendem Text das Bild eines jungen Mannes zeigt, auf dessen Rücken „72 durchschnittlich 74 Zentimeter lange Striemen" deut- lich erkennbar sind. Da» Bild soll zeigen, wie Deutsche an der Ruhr von Franzosen mißhandelt werden. Dieses Flugblatt, das deutsche Kaufleute ihren Korrespondenzen beizulcgen pflegen, ist von den Franzosen als plumper Schwindel entlarvt worden. Das Basler Blatt schreibt darüber: „Die französischen Behörden haben die drei Urheber verhaftet. Alle drei sind geständig. D^r Arbeiter Theodor Gatuefoer hat seinen unversehr ten Rücken zum Photographieren hingehaltcn, de" Photograph Arnold hat das Bild retouchiert, und sein Freund, Hugo Vovermann hat ibm dabei ge holfen, damit man auch ja den 72 Striemen an- fieht, daß sie 74 Zentimeter lang sind." Es ist leicht einzusehen, daß man durch eine solch« unehrliche Propaganda gerade das Gegenteil dessen erreicht, was man wünscht. Wer einmal durch ein solches Manöver getäuscht worden ist, bei dem wird sich da« Mißtrauen gegen uns Deutsche so festsetzen, daß es äußerst schwer zu überwinden sein wird. Darum ist der deutsche Kaufmann dringend davor zu warnen, sich zum Verbreiter unredlicher Propa ganda herzugeben. Er schadet dadurch nicht nur dem Vaterland«, sondern auch sich selbst. Denn aller Er folg hängt davon ab, daß wir die Welt von der Ehrlichkeit unsere« Wollens und von der Zuverlässig- keit und Aufrichtigkeit unserer friedlichen Arbeit überzeugen. Wenn deshalb ein Kaufmann sein« Korrespondenz mit dem Ausland« dazu benutzen will, durch Beilegung von Flugblättern die Meinung de-: Welt zu bceinfussen, so ist ihm dringend zu emp fehlen, sich vorher bei unterrichteten Stellen über den Wert solcher Briefbeilagen zu erkundigen, um Miß- griffe zu vermeiden. D Vas Sisenbahn-Unglsicsi (Fortsetzung von S. 1) Das Trümmerfeld Göttiugeu, 31. Juli. An der Stelle des Eisen bahnunglückes in Kreiensen bietet sich ein grauen- Hafter Anblick. Der erste und zweite Bahnsteig bildet einen einzigen Trümmerhaufen. Bi» über das Dach der Bahnhofshalle hinaus liegen die Wagen aufein ander geschichtet. Trotz vierstündiger Auftäumungs- arbeit ist der Bahnhof noch mit Holz-, Glas- und Liscnsplittern dicht übersät. Die letzten drei Wagen de» Vorzuges bilden ein Chaos von verbogenem Eisengestänge und zersplitterten Holzbänken. Die Maschine des Hauptzugs, deren vorderer Aufbau wie wegrastert daliegt, ist bis zur Hälfte unter den Trüm mern vergraben. Der gewaltige Anprall hat die beiden ersten Wagen des Hauptzuge« vollkommen zusammen geschoben, während der letzte Wagen de« stehenden Zuge« vollständig zusammengedrückt ist. Unter den Trümmern sieht e» grauenhaft aus. 29 Tote und 43 Verwundete sind bereits festgestellt und noch immer werden neue, entschlich verstümmelte Leichen ge- borgen. Eine furchtbare Arbeit ist es, beim Auf räumen die schweren Liscnteile auseinander zu zerren und unter den Trümmern zu retten, was noch zu retten ist. Lin Wartesaal ist zur Totenhalle umgewandclt. 29 Tote liegen in Reihen nebeneinander, darunter 15 Männer, schwer verstümmelt. S Sanitätszügs mit Leicht- und Schwerverletzten find unterwegs nach Göttingen. Unter den Schwerverletzten befinden sich viele Schweden und Dänen. Sofort nach dem Bekanntwerden de» Unglücks haben sich in Döttingen die Sanität»kolonne und die Reichswehr zur Verfügung gestellt, um di« Ver letzten in die überfüllten Göttinger Kliniken über zuführen. Privatauto« und Wagen stellen sich in den Dienst der BerwundetenfÜrsorge. Die Ver letzten, die nicht sofort abtransportiert werden konnten, wurden zunächst in einem Wartesaal unter gebracht und bestmöglichst versorgt. Line riesige Menschenmenge hatte sich in Göttingen am Bahnhofe eingefunden, da sich in den Derunglückten-Zügen auch Göttinger befanden. Di« meisten der Verunglückten haben schwere Kopfverletzungen erlitten. Die Echuldfrag« ist noch nicht endgültig geklärt. Die Behörden find zur Zeit noch mit der Unter suchung beschäftigt.
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