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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 29.07.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-07-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192307299
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230729
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230729
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-07
- Tag 1923-07-29
-
Monat
1923-07
-
Jahr
1923
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Zonntatzrdeilatze cles I^eipritzer Tageblattes vlr. 178 Soantag, üea 29. /ult Leite 7 Gesang an Gott Don Srazor von »o»Ian» SSV) Jenseits — aller — erscheinungl Wie anders kann ich dich nennen: Wie soll dich preisen em wort da du jedem warte unsagbar? Wie soll dich schauen «in sinn da du jedem sinne unfaßbar? Unbenannt du allein; denn du schufest alle benennung, verkannt da allein: denn du schufest alle gedanken. Alles sinnbc-gabte und sinnverlorene ehrt dich: Denn die Wallungen aller, die wehen aller ver sammeln. Sich um dich, dich betet das all an, denkend dein sinnbild Stammelt das ganze all dir stumm eine schweigende Hymne. Alles bleibt in dir, und von dir wird alle» vergött. licht, Du bist aller Ziel und eins und alles und keiner. Du weder ein weder all: allnamiger wie dich berufen Einzig^mbenannter, und welcher himmlische öffnet Welcher sinn über wölken di« ratsel? Sei du mir gnädig, Ienseit — aller — erscheinungl Wie ander» kann ich dich nennen. Diese schönen Verse, die eigentlich ganz pantheistisch klingen, stammen von dem berühmten Kirchenvater Gregor von Nazianz, der von 330—3V0 lebte, und als Verfechter der wahren Gottheit Ehristi den Ehrennamen der „Theo log" bekommen hat. Friedrich Wolters hat sie im Verlage von Georg Bondi, Berlin, in einem Bande „Lob gesänge und Psalmen" erscheinen lassen, der Uebertragunqen der griechisch-katholischen Dichter des 1. bis 5. Jahrhunderts enthält. Sei den SchwSlmern Don krno Volz« Nördlich von Marburg schlängelt sich, etwas brei ter als eine Nudel, die Schwalm durch» Gelände, das nach seiner politischen Zugehörigkeit als land- grafschastlich heffen-kasielisch anzusprechen ist, eine Zeitlang auch westfälisch war und, weil der hessische Kurfürst von Bismarck für regierung-unfähig er- achtet worden war, sich endlich zu Preußen heimfand. Aber, ob hessisch, westfälisch, preußisch — die Schwalm bleibt die Schwalm, und wenn sie auch nur so breit ist wie eine Nudel — über die verschiedenen Zeiten, deren jede sich in ihrer Macht als letzie Epoche und Schlußstein des historisch-'n Geschehen» dünkte, geht die Schwalm drüber. Sie sind ausgelöscht, tue Schwalm aber ist geblieben, und mit der Schrralm die Schwälmer. Dabei sind die Schwälmer nicht etwa mit den Münchenern zu vergleichen, die nie au» ihrer Ort schaft herausgehcn. In Kastel, in Marburg und selbst in dem weit entlegenen Göttingen kann man ab und zu die blauen Leinewandkittel herumstolzieren sehen. „Schwälmer Butterhengst, schwälmer Butter hengst!", rufen die Kinder ihnen nach, wenn die hohen Gestalten in gemessenem Tempo durch die Straßen schreiten. Sie sitzen seit Jahrhunderten auf ihrer Scholle, tragen seit aller Ewigkeit ihre Tracht und besitzen, verwalten, gewähren heutigentags noch das, was die Städter seit einer Ewigkeit nur von Hören sagen kennen: die Butter. * Die Schwälmer wohnen in Oberhessen. In weitem Bogen zieht sich um tue grüne Aue ein tiefes Wald gebirge, der Knüll, ernsthaft, abschließend, und wenn inan den Reisehandbüchern glauben darf: sagenum woben. Wie em gutmütiger Riese legt er seinen knorrigen Arm um die kleinen Dörfer, die mit ihrem Fachwerk etwas Stäbchenhaftes haben und gar lustig dreinschauen. Kommst du näher, so ziehen sich in den einzelnen Feldern des Fachwerkes heitere blaue Streifen an den Dalkenlinicn hin, ja, vielfach sind die Kalkflächen sogar mit Reliefs geschmückt, die alles mögliche — ungefährliche — Getier darstellen und auch Blumen: Aurikeln, Schilf oder gar eine präch- tige Tulpe — und wo die Lust am Schauen kein Ende haben soll, dort strampelt zwischen den zielbewußten Balken sogar ein nackte« Bübchen oder Mägdlein (was sich nicht so genau erkennen läßt). Hoch am First tragen alle Häuser einen frommen Spruch, der überdies noch klug ist: er spendet dem lieben Gott das gebührende Lob, spricht aber dafür zugleich die bestimmte Erwartung aus, daß sich der liebe Gott nun auch seinerseits erkenntlich erweisen möge gegen- über den Menschen. Diese brauchst du noch gar nicht gesehen zu haben und schon haben dir ihre Embleme — Fachwerk. Lineament, Aurikeln, Tulpe, Bübchen und Mägdlein — gesagt, daß es sich hier um Persönlichkeiten Han- dclt, die sich in ein besondere» Verhältnis zu stellen wissen zur Welt, zu ihrer Freude und ihren Farben. Ja, wirf nur deine Augen überall herum, damit dir ja nichts für deine Forschung entgehe — du schaust auf und merkst, daß schon längst von hoher Gestalt her ein freier, schmunzelnder Blick dich aufgefangen hat: in eine« langen schieferfarbenen Leinewand kittel steht einer vor dir, welcher Herr diese» Boden» ist. Der Kittel geht vom Hals bi» an die Knie und umschließt gewiß ein solides Bäuchlein, das aber gegenüber der gestrafften Gestalt nicht übermäßig viel zu sagen hat. und gleich gar nicht» gegenüber dem klaren Auge, das über das eigene Land schaut und dessen Spiel unterstützt wird von hunderterlei Fältchen und Linie» de» vartlosen Gesicht», daran jede einen Schalk darzustellen scheint, einen Plan oder ein gewonnene» Spiel. Denn der Schwälmer ist ein Mann, der seine Sach in heiterer Ordnung hat und in Ausgeglichenheit. fla» den Hals ist der Kittel mit zwei zierlichen Meffingkettchen geschloffen, die ihrerseits mtt winzigen Löwenköpfchen befestigt sind. Diese machen aber beileibe leinen furchtbaren Eindruck, sondern greinen eher. Gar so ernsthaft sind auch di« Achselstücke nicht gemeint, die der Schwälmer auf seinem Kittel triHt; i» Gegenteil, je ;üngrr einer ist, um so mehr Pracht darf er hier entfalten. Während die Väter sich mit Graublau begnügen, tragen die jungen Leute de» Dasein» Freude in Rot und Grün auf ihren Schultern. Die Wahl der Farbe hängt aanz von de» Geschmack «ch, den eine, hat (»der «ine, di« «maßgebend ist für einen). Die schwälmer Männerkleiduaa zeigt auch hott« noch die höchst vornehme Sitte der Kniehose, die mit dem Strumpfansatz durch ein artige» Spiel von Bändchen und Schleifen verbunden ist. Schreitet der Schwälmer dahin, so nestelt der Wind an diesen Bändern, daß sie lustig um seine Beine flattern, was er sich ruhig gefallen läßt, denn er hat Würde genug. Auf den Hut kommt es dem Schwälmer scheinbar weniger an als darauf, was sich unter diesem befindet, und so begnügt er sich mit einem sehr flachen braunem Eiersieder, der aber natürlich nicht ohne irgend ein Bändchen sein darf. * Die Krone der Schwalm aber ist die Schwül- merin. Wird eine Schwälmerin geboren, so be- kommt sie sofort ein Paar leuchtend weiße Strümpfe angczogen, und wenn sic begraben wird, so geschieht das mit frommem Gesang und wiederum mit weißen Strümpfen. Weiße Strümpfe, überall in tätigster Bewegung, geben der Schwälmer Landschaft das heitere Gesicht, und über den Schuhen glänzen sogar noch goldene Schnallen. Während sie aber unten auf diesem farbenfrohen Fuß ruht, sticht die Schwälmerin nach oben mit dem artigsten Toupet in den Welt' raum. Ihr Haar hat sie nämlich in die Höhe ge- kämmt, mitten auf dem Scheitelpunkt zu einem Knoten geflochten, und diesen verkapselt sie in ein /nobelbecherartige» Behälterchen, das im knalligsten Rot in dre Landschaft hineinlacht. Wo du gehst und stehst, überall heitert sich solch ein rotes Türmchen an, stets in eifrig wackelnder Bewegung; denn was darunter ist, ist ein Mädchen. Die Frauen tragen grüne Haarbecher, und wenn sie älter werden, schwarze. Nehmen so die Schwälmerinnen die Freude der Welt in der Farbe entgegen, so gilt es anderseits auch, die Würde zu wahren und eigene Bedeutung nicht unter den Scheffel zu stellen. Der gewöhnliche Mensch hat für diesen Zweck sein Bankkonto. Die Schwälmerin aber macht das mit dem Rock. Bei Shakespeare rühmt sich ein braver Bürger: „Ich, ich, ich habe zwei Röcke!" Anfänger! Hier an der Schwalm haben die Weiber 10, 12, 1k Röcke und — tragen sie aber auch alle zugleich! Macht das schon an sich eine bedeutende Erscheinung, so wird diese noch durch eine besondere Einrichtung erhöht: Kenner behaupten, daß die Schwälmerin um die Mitte ihres Schwälmerinnen-Körpcrs herum eine Art Schwimm gürtel trage, über den erst die Röcke herabhängen, so daß bereits bei einem einzigen Rock etwas Statt liches dasteht. Die Pracht steigert sich natürlich bei besonderen Gelegenheiten, und da die allerbesonderste Gelegenheit für das Weiblein die Hochzeit sein soll, so stellt sich eine Schwälmer Braut bei ihrem Gang zur Kirche als ein geradezu triumphwagenartiges Gebilde dar, da» eben durch die Airchtür hindurch geht. Wie viel Röcke die Braut tragen werde, das ist vor jeder Hochzeit wochenlanges Schwalmgespräch; denn die Zahl der Röcke ist das Zeichen der Wohl habenheit und somit der Sicherheit des jungen Hausstandes. Bei der letzten Trauung erheiratete der beneidenswerte Bräutigam 21 Röcke! So ist es zu verstehen, daß bei der kirchlichen Zeremonie und dem Hochzeitsmahl ein besonderer Stuhl fungieren muß, der diese Fülle des Wohlstandes aufnimmt, der Schwälmer Brautstuhl. Der Bräutigam, obgleich selbst prachtvoll angetan mit Silbertaler-Weste, breiter, husarenartiger Pelzmütze und herrlichen Bändern, verschwindet bereit« jetzt neben der Er- korenen; aber wenn sie die breite Flucht des Stühle bis zu den Armauflehnen so recht ausfüllt, dann kann er lachen. Der Alltag zeigt die Schwälmerin natürlich nicht in solcher Fülle; da trägt sie meist nur acht bi« zehn Röcke. Da diese aber möglichst verschiedene Farben haben, am Knie bereits von den weißen Strümpfen abgelöst werden und überdies über den Leibgürtel herunterbaumeln, so ergibt sich, wenn die Echwälme- rin dahinschreitrt, ein lustiges Wippwapp der Kleider, bei dem die herrlichsten Farben bunt durch einander schaukeln. Die Röcke sind der ganze Stolz der Schwälmerin; es heißt, sie habe sich bis heute noch nicht dazu entschließen können, ihre Deine vor diesem stolzen Gut durch jene Röhrengebilde ab zuschließen, die man anderwärts Hosen nennt. Und in der Tat — wenn du an der Schwalm längs gehst, wo die lustigen Mädchen der Feldarbeit obliegen, so vermagst du trotz sorgfältigster Beobachtung von jenem verschmähten Kleidungsstück nicht eine Spur wahrzunehmen. * Di« Schwälmer haben auch heute noch ihren eigentümlichen Hausrat, wenngleich die wertvollen Ochsen und Schweine brav für die Möglichkeit ge sorgt haben, allerlei Möbel anzuschaffen, so daß jetzt mehrere Stuben dem Wohnen dienen. Bis vor kurzem vollzog sich das ganze Familienleben in einem einzigen Raum. An den Wänden standen Bänke, ab und zu Platz lassend für einen Schrank oder Vie alte Standuhr. In ganz alten Häuslichkeiten hatte der Tisch um den Rand herum schüsselartige Vertiefungen, und in diese wurde das Mittagsmahl geschüttet. Da» einzige Zimmer diente auch der Ruhe. Während die Bettladen frei dastanden, war da« Ehebett durch einen Vorhang abgeschlossen; denn die Schwälmer sind solche Originale, daß man leicht ermißt, wie ihre Herstellung al» Geheimnis gewahrt wird. Die Schwälmer sind vergnügt« Leute, sie lieben Frohsinn und Farbe. Auch schlechte» Wetter kann ihnen da» nicht verbieten. Sie bleiben bei Regen nicht zu Hause, oho! Dann gehen sic gerade spazieren, weil der Schwälmer Regenschirm ein Fest ist. Drei» mal so groß wie da» übliche Format, wird er vom Familienvater getragen, an den sich die Schwälmerin anhakt. An diese wieder klammern sich die kleinen Schwälmer, ein jede« in der Lande»tracht: Haartürm- chen oder Eiersieder. Was aber dieser Menschen- Pyramide die größte Freud« macht, da« ist eben der vom Vater getragene Regenschirm. Dentt*di«ser weist auf der Innenseite die artigsten Bildchen auf: Blumen, und Putten, di«, samt und sonder» in di« schützende Leinewand htneingewebt, von oben auf die Spazieren- sehenden herunterlachen. Während andere Menschen hinter den Fenstern dem schlechten Detter mit einem Flunsch antworten, ist den Schwälmern gerade bei dieser Gelegenheit da« Spazierengehen «in Vergäll- gen; denn ihr Regenschirm zaubert ihnen ein Para- die» vor. Ma» ficht, die Schwälmer sind Philosophen. Sie können e» auch lein; denn e» gebt ihnen nicht schlecht. Zwar liegt auch in ihre» Feldern mancher «stein; aber — da e» halt an der Schwalm ist — haben die Feldsteine dir Freundlichkeit, Quarzit zu enthalten. Und um Quarzit reißen sich die Ehamottefabriken, di« den Schwälmern daher ihre Feldsteine fürstlich bezahlen. Aus Steinen wächst den Schwälmern Brot. Großstädter, der du bist, vergleichst du dein kümmer- liches Dasein mit dieser düngen Sicherheit, aber nichts erinnert dich an die Großstadt und an ihr Leben, an dieses Leben. Bis du in einem Winkel eine Hühnerleiter siehst. Du betrachtest sie mit Aufmerk samkeit auf ihre Beschaffenheit und erkennst: der Der- gleich stimmt! Kdolf Hengelers Phantasien Don Soors Rlltkomolei Um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts schuf in Hevzogenbusch der niederländische Maler Hieronymus Bosch, gestorben 1516. Gleich seinen Zeitgenossen wollte er realistische Bilder der irischen und überirdischen Welt geben: von dem Treiben seiner Landsleute, von den Legenden der Heiligen, und den großen entscheidenden Vorgängen der christlichen Heilsgeschichte. Aber wenn er so die heiligen drei Könige auf die Leinwand bannte, dann wurden die Gesichter der frommen Anbeter des göttlichen Kindes zu Zerrbildern und statt der kraftvollen Gestalten sah man müde, schleichende Greise, als ob ein teuflischer Schalk ihm den Pinsel geführt hätte. Ganz und gar war der „Teufels- Bosch" in seinem Element, wie ihn schon die Zeit genossen nannten, wenn in der Versuchung des heili gen Antonius die Spukgeister schwirrten, oder wenn er hinabstieg in die Hölle, und dort das Treiben der Verdammten schilderte. Ein wilder Humor spielte mit dem Grausen wüster Traumgesichte, fügte Glied mußen verschiedenartigster Tiere mit menschlichen zusammen, winzige Gestalten mit riesengroßen Köpfen, schuf eine ganze Welt von Fabelwesen. Bei den nordischen Menschen, mehr noch bei den Spaniern, fanden diese Träume des Bosch Be' wunderer und Nachahmer. Sein größter Schüler wurde Pieter Bruegel, der Höllen-Bruegel. Aber doch schon bürgerlicher, diesseitiger, mehr das Spiel heiterer Tageslaune als Erzeugnisse alp bedrückter Nächte. Kein Teufel steht hier unsichtbar hinter dem Künstler. Er lacht der Spukwelt. Er leugnet sie zwar nicht, aber sie ist ihm kein furcht- bares Gegenüber. Er weiß, daß sein Hirn die Ge burtsstätte solcher seltsamen, plötzlich aus dem Baumstamm hervorschauender Schweinsköpfe, solcher eidechsenhaften Reptile mit menschlichem Antlitz und groteskem Filzhut ist. So webt die mittelalterliche Phantasie in die des modernen Menschen hinüber und lebt fort durch die folgenden Jahrhunderte, bis sie im Zeitalter dec Aufklärung und vollends in der Nüchternheit des jüngsten mechanisierten Weltalters zu erlöschen scheint. Aber immer wieder erwacht diese groteske Freude am Schaffen innerlich geschauten Spuks in einem Malerherzen, bricht alle Wirklichkcitskncchtschaft und schafft sich ihr eigenes Reich, bald au dem Boden alter Fabulierkunst, mehr mit literarischen Mitteln aufgebaut, bald aus dem rein maler scheu Gefühl geboren. Unter den lebenden Nachfahren der Bosch und Bruegel steht an erster Stelle der Münchener, jetzt 60jährige, Adolf Hengeler. Lange Zeit hin durch hat er den Fliegenden Blättern seine Haupt kraft gewidmet, mit der bescheidenen Bürgerlichkeit der harmlosen Späße, der Dackel- und Kleinstadt witze, der komischen Ritterballaden und der Buben- streiche. Freier konnte sich sein Talent regen, wenn er für den engeren Kreis' der Kunstgenosscn in Kneipzeitungen, in Stammbüchern der „Allotria" die wunderlichen Blasen einfing, die sein Hirn trieb. Das meiste und beste bergen seine Mappen in kleinen Erzeugnissen einer malerischen Graphik, nicht mehr illustrativ, sondern auf stärkste Farbcnwirkung ge- stellt, für die ihm zumeist die Skala vom tiefen Schwarz zum hell leuchtenden Weiß genügte. Eine Auswahl von 110 solcher Zeichnungen spendet jetzt der Musarion-Derlag in München, meisterhaft in Lichtdruck wiedergegeben und eingelcitet durch den guten Kenner und Historiker der Münchener Kunst Georg Jakob Wolf. Da ist nun freilich von dem Geist der Fliegenden Blätter kaum etwas zu spüren. Zu diesen Bildern gehören weder geschriebene noch ungeschriebene Scherze; bei vielen würde es kaum möglich sein, das Stoffliche in kurze Worte zu fassen. Und doch ist keines dabei, das nicht mit einheitlicher Stimmung, mit malerischer Kraft den Beschauer packte und ihm durchs Auge unmittelbar zur Seele eine starke Stimmung leitete, deren Träger beinahe noch mehr die Farbwerte als die Gegenstände dieser meist ganz kleinen Skizzen sind. Versuchen wir wenigstens, ein paar Beispiele des Gegenständlichen zu zeigen. Am Tische sitzt mit der Tabakspfeife im Munde der ausgedörrtc Philister, lässig mit beiden Ellen bogen aufgestlltzt. Da naht sich ihm die üppige Schönheit, im Arm einen vollen Blumenstrauß und wirst «in paar Rosen daraus auf das weiße Leinen- tuch. Skeptisch, nachdenklich blickt der Raucher dem Tun der Schönen zu. Auf mächtigem Brummbaß spielt ein Heiliger, und Englein tanzen mit Lichtern um ihn herum. Vorn aber geht ein wüstes Erdweibchen mit Birnen- nase, einen mächtigen Bienenkorb tragend, und Birnen wachsen in Unzahl an den geweihartigea Aesten, die ihr au» der Stirn sprießen. Eine» der Bübchen hat sich wohl so eine Birne schenken lassen und schlüpft eben wieder durch die Mauerpforte, um sich dem Tanz zu gesellen. In phantastischer Rachtlandschaft steht eine ein same Hütte, daneben ein kahler Baum, daran eine Glocke. Au» einem Hügel glotzt ein wüster Kopf. An ihm vorüber saust auf einem dicken Wagenrad «in griesgrämiger Alter, in einem mächtigen Buche lesend, di« Zipfelmütze auf dem Kopfe, und hinter ihm flattern die langen, spitzen Rockschösse, di, in Quasten enden. Vorn aber schreite» zwei andere Gestalten, di« eine bi» zu den Hüften in einem Ei steckend, au» dem Rauch dringt, und da» ein Saturn ring umschwebt, und ein seltsame« Doppelwese», über die Kövfe einen gemeinsamen ungeheuren, zer quetschten Zylinderhut gestülpt. Zn einer breiten Landschaft ragt ein Milbau», auf ihm sitzt elu fröhlicher Kerl la Pantoffeln, den vollen Krug im Arm, die Pfeife im Mmrde, neben ihm eine große, geflügelte Biene, und eine Glocke, deren Strang um den Baum gebunden ist, hängt herab. Davor sitzt eine Epukgestalt mit ungeheurem Kopf und zwei Beinen ohne Rumpf. Auf dem Kopf steht eine Wiirdmühle mit rauchendem Müller und daneben als Rauchabzug ein Schornstein. Der Kopf ist bewohnbar, der Mund dient als Tor und aus dem Ohr neigt sich ein Angler. Auf dem Knie dieses spukhaften Riesen sitzt ein bunter Vogel und zielt mit dem langen Schnabel nach einem der Glotz augen. Daneben liegt ein mächtiges Ei. Eben krcecht ein Mann hinein und ein Bübchen zieht ihn an seinem hinten weit herausragenden Känguruh, schweif, während ein anderes an dem großen Holz- tor des Eies lehnt. Im Vordergrund kriecht ein beinloser Kerl mit einer Ehinesenmütze auf Krücken vorwärts. Hinten sieht man Wanderer auf einem Hügel und ganz in der Ferne eine andere Gruppe und einen vorübereilenden Reiter. Solche tolle Phantastik wird doch immer ge- bändigt durch sicher zusammenfaflende Komposition und staunenswerte Klarheit in der Zeichnung. Noch mehr kommt dies zur Geltung, wo die Erfindung einfacher ist. Zwei Mehlsäcke mit Köpfen darauf, daneben ein winziges Männchen, schwatzhafte Greise, in eifriger Unterhaltung, der eine bösartig, der andere fchlemmerhaft, dahinter die große Glocke und der Galgen mit zwei Raben, ein mächtiges, speicher- artiges Gebäude und ein Barockgiebei, Ausblick aufs Meer mit einem großen, segelnden Schift, be wegte Menschengruppen links und rechts, ganz vorn ein aufgeschlagenes Buch. Ein fettes Meerweib sitzt am Strande vor der Klippe, ihr gegenüber auf dem Dünensande eine alte, verhutzelte Bauernfrau. Auf einem Fluß fahren in einem kleinen Kahn ein Heiliger und ein schwarzer Geselle ihm gegen über. Don oben über eine Mauer am Bergabhang blickt ein scheußlicher Kerl starr hinunter, während gerade ein Bübchen, im Inneren eines Baum- stammes verborgen, an einem Strick, der über eine Nolle geht, die Hirnschale des Alten hochzicht, so daß man in den Kopf mit seinen dunklen, seltsamen Gebilden hineinschauen kann. Eine nackte Hexe geht mit einem schwarzen, sie boglcitendn Teufclskavalier, den Krug in der Hand, heim. Hinter ihnen hüpft der gespenstige Rabe, vor sichtig rückwärtsspähend. Zwei nackte Weiber reiten gegeneinander an. Ihre Reittiere gleichen Kamelen ohne Beine und ihre Köpfe gehören einem bebrillten und einem offen bar sehr kurzsichtign Manne, aus dessen Haupt ein paar Antilopenhörner sprießen. Staunend sieht ein Bauernpaar zu. Ein Teller mit Kirschen und ein nacktes Knäbchen füllen den Vordergrund. Neben diesen grotesken Erfindungen fehlt es auch nicht an einfachen, lieblichen Einfallen. Eine ent zückende mütterliche Gestalt mit zwei Kindern an einem dicken Baumstamm. Das eine liest in einem aufyeschlagonen großen Musikbuch und di« Mutter scheint ihm die Notenzeichen zu erklärn. Auf einem Delphin steht ein- schöne nackte Frau, das kühn ge- schwungene Segel in der Hand, und treibt von der Burg am Strande in das weite Meer hinaus. Der Faun bläst sich ein Lied, während die Gefährtin neben ihm in Schlummer versunken ist. Szenen mütterlicher Liebe, frommer Andacht kommen dazu, vieles auf den Tod bezügliche. Gemütlich kneipende, ganz der Wirklichkeit entnommen« Bauern- und Philistergestalten, Heilige und Madonnen, Bettler und Krüppel, so manches, was an die große Der- gangenheit anknüpft. So der vom Rücken gesehen niederländische Dauer, der im Grase mit seinem Dierkrug sitzt, auf dem Tische der Schmaus und darunter der prächtige, gclbweiße Hahn, ein Blatt von besonderem farbigem Reiz. Ls fällt schwer, mit dem Aukzählen der Motive abzubrechcn, und doch muß man sich sagen, daß mit alledem von dem eigentlick)«n Reiz solcher Maler phantasien gar kein Begriff gegeben wird. Die Suggestivkraft vieler Zeichnungen Hengeler» ist so stark, daß die eigene Phantasie des Beschauers un- willkürlich sie weiter spinnt, nicht etwa Geschichten dazu erfindet, sondern selbst ähnlich« Gestalten vor dem inneren Auge auftauchen sieht. Das Beschauen des prächtigen großen Bandes wird zu einer im wahrsten Sinne des Wortes anregenden Lust und man gibt sich ihr um so lieber hin, je seltener ein Künstler dieser Art ist, je mehr uns nach allen den ungestalteten Visionen der absoluten Malerei solche mit strengem, aber doch heiterem Künstlertum ge formte Innenschau erquickt. Der Nagel im Schuh Don Seftsr Treßlers sind die nettesten Menschen, die man sich denken kann: aber aktive Menschen kann man sie nicht gerade nennen. Sie bewegen sich in einer Welt, die sie sich unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Bedürfnisse genau so geschaffen haben, wie sie sie brauchen. Wenn es sich aber doch einmal herausstellt, daß e» außer dieser komfortablen auch noch eine unbe queme Welt gibt, der es gelegentlich beliebt, mit ihrer Privatwelt zu kollidieren, so wissen sic auch daraus die für sie angenehmste Nutzanwendung zu ziehen, indem sie den Fall theoretisch so ausgiebig nach allen Richtungen erörtern, daß schließlich nicht d«r Anlaß als das Wesentliche dasteht, sondern die Erörterung, die sich bei ihrer beiderseitigen Nettigkeit in der erfreulichsten Form vollzieht. So hat längere Zeit Herrn Treßler ein Nagel in seinem linken Schuh erwünschten Anlaß zu lebhaften und anregenden Schilderungen der Leiden, die er davon auszustehen und der männlichen Widerstände, die er diesen Leiden bei den merkwürdigsten An lässen entaegcnzusetzen in der Lage war, gegeben. Frau Treßer pflegte in der ihr eigenen lebhaften Art auf Herrn Treßler« Darstellungen einzugehen, und da sie viel Phantasie besaßen, konnten sie sich ost und lange über alle Möglichkeiten, di« sich infolge d<» Nagels in Herrn Treßler» linkem Schuh eröft- neten, unterhalten. Rur auf eine Möglichkeit verfielen sie niemals, so oft Herr Treßler auch über die Gewalttätigkeit des Bieste» klagte und Frau Treßler mit liebenswürdig ansgesponnenen Reden ihn tröstet ... aus di« Mög- ltchkeit, daß man den Nagel tn fünf Minuten ent fernen lassen könnte.
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