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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 24.06.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-06-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192306247
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230624
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230624
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-06
- Tag 1923-06-24
-
Monat
1923-06
-
Jahr
1923
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SoarrlLv, «1«» 24. ^«1 K, - - - - - - - " - - - - I^elpriger 1'sgedlstt «»6 We. L« 8e!te 3 ^sKerberickt Natur und Mensch Der Ausbruch des Aetna, der mehrere Ort schaften verschüttet, wenn auch glücklicherweise keine großen Verluste an Menschenleben verursacht hat, erweckt die Erinnerung an eine Katastrophe ähn licher Art, die einer gewissen schauerlichen Komik nicht entbehrte. Es «ar im Frühjahr 1S02. In Frankreich und seinen überseeischen Besitzungen stand man mitten im Wahlkampf für das Abgeordnetenhaus. Dem Brauch gemäß ging es dabei besonders lebhaft in den Kolo nien zu, wo sich die Anwärter förmliche Schlachten um die Stimmen der mehr oder weniger naturnahen .Bürger" zu liefern pflegten. Namentlich von der Antilleninsel Martinique und ihrer Hauptstadt St. Pierre wußten die Berichterstatter in spannen den Schilderungen zu melden, wie die um die Valme ringenden Parteien, Radikale, Gemäßigte und So zialisten, einander wild berannten und schon zahl reiche Verwundete und sogar etliche Tote zählten. Nur dem Lokalkolorit zuliebe und als Gelegenheit zu witzigen Bemerkungen wurde nebenher erwähnt, daß der längst erloschen geglaubte Mont Pels, zu dessen Füßen die Stadt gelagert war, neuerdings wieder ein bißchen Feuer speie und so seine Teil- nähme an den hitzigen Wahlen bekunde. Auf einmal aber stockte die Unterhaltung mit der interessanten Insel, und als dann der Draht wieder sprach, lautete die Nachricht, daß der Wahlkampf voll- ständig zu Ende und ein ewiger Friede zwischen den Parieren geschloffen sei. Plötzlich hatte nämlich der Mont Pel6 einen ungewöhnlich starken Puster getan, und in weniger als einer halben Minute war die gesamte Einwohnerschaft von St. Pierre, Radikale, Gemäßigte und Sozialisten samt den bezüglichen Kandidaten, Wahlmachern, gettelklebern usw., rn der giftigen Glutwelle erstickt. Die Zeitungen der ganzen Welt ergingen sich da mals in ausgezeichneten Betrachtungen über die Tor- heit der Menschen, sich in Bruderkämpfen zu zer fleischen, anstatt Hand in Hand gegen die feindliche Natur mit ihren feuerspeienden Bergen, Ucber- schwcmmungen, Mikroben und anderen Tücken Front zu machen. Und wirklich sind wir seitdem so be deutend fortgeschritten, daß wir heute in der Lage sind, im Vergleich mit unseren eigenen Glanzleistun gen den Mont Pel4 mit seinen knapp dreißigtausend Opfern für einen bescheidenen Anfänger und gar den Aetna mit seinen paar verwüsteten Dörfern für einen armseligen Stümper in der Kunst der Menschenver nichtung zu erklären. Blur Erhöhung der Erwerbslosensötze. Der Reichgrat nahm am Sonnabend eine Verordnung an, nach der die Höchstsätze der Erwerbslosenfürsorge vom 25. Juni an auf 60 Prozent erhöht werden. Tagung der Bankbeamten in Leipzig. Am 24. und 25. Juni hält der Deutsche Bank beamten-Verein seine diesjährige Haupt versammlung in Leipzig ab. Nach einem Begrü ßungsabend im Zentralthcater am Sonntag beginnt gtn Rkontag früh im Zoo die Hauptversammlung. '^Der Verein wurde 1894 in Magdeburg gegründet. Im Jahre 1609, bei einer Mitgliedcrzahl von 4000, -isbernahm der jetzige geschäftsführende Vorsitzende M. Fürsrcnberg ehrenamtlich den Vorsitz, den er seit 1907 ununterbrochen beruflich innehat. Bei Be endigung des Krieges zählte der Verein rund 40 000 Mitglieder, zurzeit beträgt der Mitgliederbestand etwa 95 000. Damit ist der Deutsche Bankbeamten- Vcrein die bei weitem größte Bankangestellten organisation. Der Verein gehört dem Gcsamtvrr- band Deutscher Angestellten-Gewerkschaften und dem Deutschen Gewcrkschaftsbunde an. Er ist an allen ^ankpl'ähen Deutschlands vertreten. Zu der Tagung werden rund 150 Delegierte aus allen Teilen des Reiches anwesend sein. Langsame Erwärmung im Schwarzwald. Im Schwarzwald ist kein durchgreifender Witterungs- wechsel zu beobachten. Es ist nur eine langsame Er wärmung zu verzeichnen. Die Temperatur mittags beträgt durchschnittlich 16 Grad bei tagsüber viel fach strichweisem Regen und Gewitterneigung. Dieb« auf dem Kirchendache. Auf dem Dache der Petrikirche in Chemnitz wurden nachts von Polizeibeamten zwei Diebe entdeckt, die, mit Rohr schneider und Zange ausgerüstet, herumklettcrten, um Blitzableiterdrähte zu stehlen. Die Verbrecher waren in Strümpfen am Blitzableiter empor geklettert, während ein Dritter unten den Aufpasser spielte. Als die Diebe sich entdeckt sahen, flüchteten sie, konnten aber später festgenommen werden. Sie hatten bereits zwei Spitzen des Blitzableiter» ent- wendet und die Platinspitzen hcrausgebrochen. Die verhängnisvolle Freikarte. Ein mysteriöses Verbrechen beschäftigt die Licgnitzer Kriminalpolizei. Die verwitwete Fabrikbesitzersfrau Gaebler in Lieg- nitz hatte, angeblich von der Direktion des Apollo- thcaters, eine Freikarte mit der Post erhalten.' Als sic vom Theater nach Haus« kam, fand sie ihren sech- zehnjährigen Sohn blutüberströmt und das Dienst- mädchen mit Knebel bewußtlos am Boden liegen. Einbrecher hatten die Wohnung ausgeraubt und Silbergcgenstände, Teppiche usw. im Werte von vielen Millionen Mark mitgenommen. Die Telephonlcitung war zerschnitten. Die Kriminalpolizei neigt zu der Ansicht, daß die Tat von Freunden des Dienst mädchens ausacführt worden war. ttartoffelkrawall in kralle In Halle standen am Sonnabend seit 4 Uhr früh die Hausfrauen, die Kartoffeln kaufen wollten, auf dem Markte Spalier. Es wurden nur etwa 50 Zentner angefahren, die zu je fünf Pfund an die Frauen abgegeben wurden. Als etwa die Hälfte verkauft war, stürmten plötzlich die Frauen den Kartoffelstand und nahmen ohne weiteres die Kar- toffeln an sich. Das Ueberfallkommando der Schutz polizei, das schleunigst im Auto kam, mußte ein- greifen. Darauf zogen Tausende von Frauen zum Rathaus. Es gelang jedoch, sie zu zerstreuen, nach dem ihnen erklärt war, in den nächsten Tagen wür den in den Geschäften der Stadt Kartoffeln zu haben sein. Einbruch in eine Loge. Die Loge in der Alten Iakobstraße in Berlin ist nachts von Einbrechern heimgcsucht worden. Diese stahlen aus Schubladen Logcnabzeichcn, Insignien usw. Paganini» Nachlaß. Johannes Kahn erzählt in Westcrmanns Monatsheften von einer gegen zwei- hundert Nummern umfassenden Sammlung von Briefen und sonstigen Schriftstücken Paganinis, des genialen Geigers, die vor einiger Zeit auf dem Autographenmarkt erschien. Bemerkenswert war das berühmte „Rote Buch, in das der sehr spar same Meister seine sämtlichen Ausgaben bis auf den letzten Pfennig eintrug, das aber seltsamerweise auf der ersten Seite die Aufschrift „Sonetti" trägt und tatsächlich ein paar Gedichtabschriften enthält. Aus dem Testamentsentümrf des Meisters erfahren wir, daß er seine Geige seiner Vaterstadt Genua zur ewigen Aufbewahrung vermachte. Im Tode schien Paganini sich lossagen zu wollen von allem Glanze, der um ihn gewesen, und Frieden zu suchen vom Dämon der Musik, der in ihm gerast; er ordnet »m Testament an, daß bei seinem Begräbnis keine Trauermusik stattfinden solle- Der abgehärtete D'Annunzio. In Garda, an dem gleichnamigen See, hat sich D'Annunzio kürzlich in der Rolle des Polykrates gefallen, indem er die Geste des Tyrannen von Samos in zeitentsprechcnd veränderter Form wiederholte. Der italienische Dichter war gekommen, um vor versammeltem Volk eine seiner wortreichen Reden zu halten- Mit Rück- sicht auf das Alter des Redners hatte es die Stadt- Verwaltung für angezeigt gehalten, dem berühmten Mann einen weichen, bequemen Sessel zur Derfü- gungj zu stellen. Beim Anblick dieses eleganten Möbels packte D'Annunzio indessen die Wut über die Verweichlichung, die ihm hier zugemutet wurde. Mit der grimmen Bemerkung, daß er kräftig genug sei, um stehend seine Rede zu halten, ergreift er mit kräftiger Hand den Sessel und schleudert ihn in den See. Da der Gardasee nicht von Walfischen bevölkert ist, so besteht keine Gefahr, daß der Sessel etwa im Magen eines Fisches gefunden wird. Die heroische Großtat wird aber die Urenkel darüber belehren, daß in unserer als veweichlicht verschrienen Zeit ein Dichter gelebt hat, der den weichen Sitz verschmähte, und sie wird ferner die Verwaltung italienischer Städte daran mahnen, daß es gefähr lich ist. kostbares städtisches Mobiliar in die Reich- weite der kraftvollen Fäuste des göttlichen Gabriele zu bringen. l Ein Blick in die Leihbibliothek Individuelle Bediemmg - Nie Lieblinge — Kriminelles und Erotisches - Das unrentable VerlriheGefchäst Zn diesen Tagen, da ein neues Geschlecht radikal seine Rechte zur Geltung bringt und Ueberlieferte« kurz entschlossen zum alten Eisen wirst, müßten auch die Bücher, die am stärksten begehrt sind, diese Wand- lung verraten. Je unerschwinglicher das gekaufte Buch für immer weitere Kreise wird, desto mehr wird das entliehene in den Vordergrund treten. Stadt». Universität?- und Dolksbibliothek versorgen lese- und bildungehungrige Schichten in größtem Maßstabe. Daneben wird namentlich neuere Unter haltungslektüre viel in Leihbüchereien begehrt. Hier stellt die Weiblichkeit das- überwiegende Kontin gent der Kundschaft. Die verheiratete Frau und das junge Mädchen, die Erwerbstätige und die Haus- tochter, sie alle sind häufige Gäste in der Leih bibliothek. Kleine Beamte und Pensionäre freilich, die früher emsige Leser waren, müssen heute vielfach auch auf diese bescheidene Freude verzichten, der Preis eine» Merteljahrs-Abonnements ist zwar nur dem eines neuen Romanes gleich, aber für manche doch zu hoch. Der Geschmack der Besucher von Leihbibliotheken ist nicht einheitlich. Viele erwarten erst vom Biblio thekar Vorschläge und Enrpsehlungen, ein verständ- nisvolles Eingehen auf ihre individuellen Wünsche. Der erfahrene Verleiher wird beim ersten Besuch Proben verschiedenster Richtung und Qualität vor- legen und aus der getroffenen Wahl leicht seine Folgerungen für die künftige Bedien»»ng dieser Kund- schäft ziehen, vielleicht auch versuchen, geschmacksver- bessernd zu wirken. Die Stammkunden befolgen meist willig die Ratschläge; manchmal äußern sie den Wunsch nach einer bestimmten Richtung: „Ein Aben teurerroman," oder „Etwas Humoristisches" wird be gehrt, bisweilen auch ein bestimmter Verlag bevor zugt. Betrachtet man die Autoren, die als „Liel>° linge des Publikums" gelten können, staunt man vor allem über den konservativen Geschmack. Was vor fünf Jahren, ja selbst lange Zeit vor dem Kriege be liebt war, hat auch heute seine alte Anziehungstrast nicht verloren. Umwertung? Beim Leihbibliotheks- leser ist nichts davon zu merken. Immer noch wird nach den mehr breiten als tiefen Büchern der Ru dolf Herzog, Stratz und Ganghofer ge griffen, die sich in den stärksten Umsatz mit der Hedwig Courths-Mahler teilen dürfen. Junge Mädchen und daneben alte Damen, die sich lesend in ihre ferne Jugend träumen wollen, halten treu zu ihrer Heimburg und Marlitt, deren Ge stalten dem heutigen Leben reichlich ferne stehen. Dieser Spitzengruppe der Meistgelesenen marschieren in Hans Heinz Ewers, Bloem und dem Schwei zer I. L. Heer immerhin wertvollere Autoren nach, die nicht viel schwächer begehrt sind und der auch Sudermann beizuzählen ist, dessen Romane die hohe Zahl seiner Dramen jedenfalls an Wert über treffen. Erfreut begegnet man in der Wahl der stärker Geforderten dem Paare Thomas und Heinrich Mann, auch dem brillanten Gesellschaftsschildcrer Landsberger und Kellermann mit seiner kühnen, modernen Phantasie, läßt man als Viel gelesene gerne gelten. Karl May, der heiß Um kämpfte, Verlachte und Verherrlichte, wird nicht nur von jüngeren, sondern auch reifen Lesern oft ver langt. Haben wir nicht alle einmal fiebernd über seinen Büchern gesessen? Acltercn Leuten sollte er freilich weniger zu sagen haben. Der gute Humorist ist den Entleihern fremd oder unerwünscht. Immer noch beschränken sie sich auf Schlecht oder suchen Erheiterung für den Augenblick in den Vortrags- büchcrn von Marcell Salzer, Senft-Georgi unv Plaut. Zweierlei wird immer wieder gewünscht: Der Kriminalroman und das „Pikante". Sherlock Holmes und das Heer seiner Abbilder sind im Regal der Bücherei ebenso stark vertreten, wie im Programm der Kinos. Hierher gehören auch die Romane der Abenteurer und exotische Bücher. Daß Jugendliche beiderlei Geschlechts gern ihre Nase in das verbotene pikante Buch stecken, ist nichts Neues. Der „Leder- strumpf" ist unmodern geworden. In der Regel wird der Verleiher diesen Wunsch der Jüng linge nicht erfüllen und vorschiitzen, das Buch sei ausgeliehen. Erwachsene Leser dieser Geschmacks- richtung halten sich an Tovote. Pierre Louys, Langenscheidt und Jolanthe Mares. Schwächer ist die Nachfrage nach Jules Derne ge worden. Was früher als unerhörte Ausgeburt seiner kühnen Phantasie galt, ist heute von der Technik viel fach tatsächlich erreicht worden und hat damit den Reiz der Unerreichbarkeit verloren. Auch Gcrstäctcr ist längst überholt und ruht aus auf seiner Beliebt heit in früheren Jahrzehnten. Memoiren werden nur verlangt, wenn sie mehr erotisch als historisch sind, dagegen steht der historische Roman wieder höher im Kurs. Nur von der neuesten Geschichte, dem Weltkrieg, will niemand etwas lesen. Das Er lebnis liegt noch zu nahe. Einzelne Wünsche nach spiritistischer Literatur werden gelegentlich laut, da gegen ruht Tagore, begehrte Mode von ehedem, jetzt friedlich im Regal, auch Dönsels wird seltener ge fordert. Wer da glaubt, daß heute der Andrang in den Leihbüchereien groß ist, weil immer mehr Leser auf den Bücherkauf verzichten müssen, irrt. Vor zwei Jahren war die Kundenzahl in einer der größten hiesigen Bibliotheken zehnmal so groß als heute. Neuerscheinungen, die dem Geschmack der Leser entgegenkamen, wurden damals in dreißig bis vierzig Exemplaren angeschafft. Heute ist auch diese Zahl auf ein Zehntel gesunken. Das Leihbibliothek geschäft ist unrentabel geworden und es bildet des halb in der Regel nur noch die Unterabteilung einer Buckchandlung und kein selbständiges Unternehmen mehr. Die Freude an guter Lektüre ist leider im allgemeinen nicht groß. Die neue Zeit sucht sich andere Anregungen und die Abende seligen Welt vergessens über dem guten Buch am einsamen Schreibtisch sind für weite Kreise unseres Volkes unmodern geworden. Ltkusrrl Sisdreolik Hitzewelle in Amerika 58 Personen an Abschlag oder Sonnenstich gestorben Ueber Amerika ist eine Hitzewelle herein gebrochen, die den 21. Juni in New Jork zum heißesten Tag während der letzten zwanzig Jahre machte. Es sind allein an diesem Tage nicht weniger als 20 Personen an Hitzschlaq und Sonnenstich ge- storben. Soweit bekannt, beläuft sich die Zahl der Toten infolge der enormen Hitze auf 58. Der Auf enthalt in den Häusern ist fast unmöalich geworden; die Leute übernachten in den Parks. In den großen Stahlwerken bei Pittsburg mußte wegen der Hitze die Arbeit eine Zeitlang unterbrochen werden. Osr v l r k I i a ti L 8 c t» rr « t t tr e t t e r AM" oLrirb "HU 20 drslosrr in» sttsrr dssssrsrr LOrOdsciLrlo - ^irmar^ —— y/iscterverküoler Jsroctnl! Oer expressionistische Roman Von Svorz BittstowsAI Ein Fünfmarkschein — ohne Kaufwcrt, von tau send Händen abgegriffen, die Schrift sehr unleserlich — das ist heute der „Expressionismus!" Kaum klingt aus diesem Wortschall mehr in unser Bewußtsein her auf als krampfige, verzerrte Geste reiner oder un reiner Toren. Unrein sind wie stets auch hier die Macher, vor deren Auge als blaue Blumen Publi- kumscrfolg und unerschöpfliches Bankkonto schweben; die Parzivale zeitgenössischer Kunst ziehen immer wieder auf die Fahrt nach dem Wundcrlande jenseits der verachteten Realität und vermeinen, dort aus Farbentönen und Wortgcbilden Symbole des Unge formten und Unformbarcn entdecken zu müssen. Im Bereich der Dichtung kommt solchem Per- langen der Roman am wenigsten entgegen. Er setzt ein Weltbild voraus, er fordert für seine handelnden ' und leidenden Menschen Hintergründe, sei es das breite Gemälde der Großstadt, sei es die fast zeitlose schmale Existenz einer abgelegenen Berglandschaft. Auf der Leinwand haben Unzählige solche geschaute Bilder mit starkem Können in Farbenvisionen vcr- wandelt. So muß es den seelenverwandten Künstler de» Worte» reizen, mit jenen wetteifernd, auch für da» innere Auge des Lesers flammende, wogende, gleich Lavaströmen die Seele überflutende Gesichte auf» Papier zu bannen. Es fehlt nicht an Versuchen dazu in der Form de« Roman». Aber sie verschwimmen entweder in Lyrik oder sie gelangen nicht weiter als zu beschleu nigtem Tempo und anderen Neuerungen der Technik sSternheim« Deutsch, Edschmids erkünstelte Hitze). Behelfe eine» neuen Stils, aber nicht folgerichtige Verwirklichung eine» grundsätzlich anderen Form gefühls. Zum ersten Male erscheint solches Streben in dem soeben erschienenen Roman „Der Pfuhl" von dem kaum bekannten Dichter Han» Leip (München, Albert Langen). Mulsmutt, das war die Stadt; Hoi, da» war der See. Pirr« Bo, der Architekt, landete am Steg zum Blauen Knopf, Nuddcn Kau, da» war der Mrt. Sein Kopf war wie ein Pflasterstein, eckig, grau, ab und zu mit hartem Glanzsplitter. Tein Mund wor das einzig Bewegliche, die Lippen wie ein Kautschukschlauch, überall gleich weit, unendlich dehnbar, gleichsam hohl. Er hatte keinen Hals. Sein Bauch war flach, aber ungeheuer breit, und reichte bis zum Kinn. Er ging etwas auf den Außenkanten seiner Füße wie ein Gorilla." Bei Nuddcn Kau feierte die Jugend von Muls mutt ihr schwüles Apachenfest im verräucherten Tanzsaal, voll grünem Chlorgeruch, aufreizend und einschläfernd zugleich. Durch den Shimmy bricht die Schar der echten Apachen mit ihren Mädchen aus der feindlichen Welt der Vorstadt. Ein Vorspiel des Rie senaufstandes der Bettler und Verbrecher, die unter den Speichern heimlich Hausen und schlemmen, am Tage vor dem Kathrinendamm, der ihnen verboten ist, ihre elenden Körper zur Schau stellen. Nuddcn Kau ist ihr heimlicher Kaiser. Er will die Stadt erobern, und seine Scharen überfluten die Pillen der Reichen und werden ihrer Herr. Pirre verliert im Ringen mit Nuddcn Kaus ungeheurer Macht fast das Leben, verfällt zum letzten Male in Erschütterungen mit der Slowakin Szornsa. „Sterne prallten zurück, von den kleinen spitzen Brustkeqeln aufschießcnd, hieben in seine Wirbel, trafen die Ner ven einzeln. Ihre Haut war kühl knisternd bis in die Entladungen hinein. In den Dämmerungen wie böhmisches Glas, an den Leisten wie Pfirsich durch leuchtet, das Dreieck wie brauner Schiefer dicht, ge- radkantig: eine dünne Scbnur lief über die Alba in den Nabel. Oft sah er blonde Wildnis um sie auf rauschen, Dschungeln, die von Tiqerflanken vibrierten. Schreie aus kreiselnden Sänften zerschlugen die Sonnenkuppcl, gelbe Schlangen sausten herab, nie- steten sie unlöslich zusammen. Das Schmale rieb seine Hüften, schnurrend, mit seidenweichen Zungen, ihn jählings aufschleudernd; der Geruch rohen Flei sches mit Zimmet bestreut, pumpte irrsinnige» Va kuum zwischen sie, schlürfte dos Hirnweiß. Die Rhythmen funkten aus den heißen Strömen, die Pole begegneten sich, durchstachen einander, zerplatzten." Pirre Bo überwand die Süße und das Leid der Heimat. Es wird Herbst. Er siebt die gespenstischen Bildwerke verbrennen, die Zatt Buse, sein Freund, aus Leichen geknetet hat, und er geht in die Fremde. Wie ein Tanz gespenstischer Hexen wirbeln die Geschehnisse diese» Romans vorüber. Keine blaßen Schattenbilder, Flammen von unglaubhafter Kraft um sich schleudernd, das zauberische Farbenspiel eines nächtlichen Hochofens, in dem glühendes Metall von einem gewaltigen Sauerstoffstrom gen Himmel ge sprüht wird. Davor steht in riesenhaften Umrissen die Stadt Mulsmutt. Man denkt nachträglich (beim Leben kommt man nicht zum Denken) an ein Ham burg in gewaltig übersteigerten Massen. Die Alster landschaft, der Hafen mit dem düsteren Gängeviertel, dahinter der Iungfernstieg mögen Keimzellen dieser Pfantasievision gewesen sein. Und ebenso fühlt man in den zahlreichen Einzelgcstalten, den geballten Menschenscharen, dahinterstehende Wirklichkeitsschau. Aber der Dichter Leip gibt nie Umformung, überall Neuformung, so stark, daß sie eine zweite Wirklich, keit wird und so gar aus der ersten, dem niedrigsten Alltag von heute, ohne Störung vielfach Sprach- und Formkomplexe einschmilzt. Aus altem und neuem ohne Widerspruch geformt, stehen Fresken zum Grei fen deutlich da: die Katharinenbrücke, die Kasematten von Geeln-Kater, die Zirkusversammlung-, dazwischen kleine idyllische Aquarelle, Einzelfiguren wie Bild- niffe von Kokoschka. Ungeübten Augen wird leicht das Geschehen wie üble filmhafte Sensationsmacht ohne Seele dünken. Nirgends gibt Leip dem Leser Hilfen zur leichteren Einfühlung. Wer aber in dieses Buches Wesenheit vordringt, entdeckt seelischen Reichtum, echte starke Leidenschaft und zartes Empfinden. Es fehlt auch nicht an Stellen versagender Intensität, die sogar bis zum peinlichen Unvermögen die selbstgestellte Auf- gäbe unerfüllt lassen. Da zeigt sich die Grenze der epischen Form. Nur der lyrische Ausruf, die drama tische Szcnenfolge mit ihrem Hinschreiten über Gipfelpunkte können der Ueberleitungen und ihrer verbindenden Funktion entraten. Hier, im Roman, find sie unentbehrlich rmd verführen nur zu leicht zum Hinabsteigen in die Ebene der Wirklichkeit. Wo knüpft dies« Form an? Ist Leip sich bewußt, daß er Ahnen, Vorläufer, Mitstrrbende hat, oder will er ganz Original scheinen? An einer einzigen Stelle ist ihm die Andeutung seines literarischen Bewußt seins entschlüpft. Er erwähnt flüchtig die Bücher Pirre Bos und nennt da Storm. Meister Eckhard, Plato, Kleist, Edschmid, Gottfried Keller und Balzac. Zn der Tat bezeichnet er damit je eine Tonart, die wir auch bei ihm aufkliiigcn hören. Nur daß die alten Meister in den ihrigen verhärten, während hier alle zu unaufhörlich incinanderwebcnden, erst dem modernen Ohre verständlichen Znsammenklängcn verwoben sind. Keine alte Harmonik gibt hier mehr das Gesetz, und nur dem mitschwingcnden Gefühl ent wirrt sich das Chaos. Schon hat fast auf allen Kunst- gebieten das Recht der „Neutöner" sich durchgcsctzt; für den Roman mangelte es bis jetzt an der nötigen überzeugenden Kraft. Schwerlich wird sie dem einen Werke Leips entstrahlen; doch als Zeugnis, als An fang mag dieser Roman im künstleriscl-cn Werden unserer Zeit bedeutsam erscheinen. Eine Stadt unter dem Hammer. In amerikani- schen Blättern findet man die Anzeige, daß dem- nächst eine Stadt versteigert werden soll, die in den Inseraten ausdrücklich als „garantiert neu" ange priesen wid. Sic umfaßt ein Areal von 15 Hektar Gelände, enthält 800 Häuser, darunter einen Gast hof mit 152 Zimmern und eine öffentliche Auto garage mit 12 Wagen. Die Stadt verfügt über alle modernen Bequemlichkeiten wie Gas, Wasserleitung. Elektrizität, Kanalisation und Asphaltstraßen mit zementiertem Bürgersteig. Außerdem besitzt jedes Haus seinen eigenen, klcinrn Gemüsegarten. Wer sich von der Wahrheit der Tatsache überzeugen will, braucht nur wenige Kilometer von New Jork über Land zu fahren, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Die in Frage kommende Stadt ist die vierte der Gartenstädte für Arbeiter und Angestellte, die, um der Wohnungsnot zu steuern, in Amerika angelegt wurden. Sic führt den bescheidenen Namen „Buckmannsheim". Diese Siedlungsstädtc werden nach ihrer Fertigstellung Arbeitersyndikaten od r Angesteütenvereinigungen überlassen, die ihrerseits ihren Mitgliedern die Häuser oder Zimmer zum Selbstkostenpreis vermieten. «u» den rbeaterbureaus Schauspielhaus .D«r kühne Schwimmer", der neue für Guido Tbieilscher geschriebene Sedwank von Arnold und Bacf d r am Sonnabend zur Erstausführung kommt, wird von Reinhold Balquo in Szene gesetzt, tzt n t d o Tdicl sch«r spielt den Otto HSberlein. An Berlin da, „Ter kühne Schwimmer" mit Thielscher schon einige bnnder! Aufführungen erlebt.
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