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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 03.06.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-06-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192306035
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230603
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230603
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- schlechte Aufnahmequalität
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-06
- Tag 1923-06-03
-
Monat
1923-06
-
Jahr
1923
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Im Zeichen des Hahnes Wie gestern gemeldet wurde, find in Pari« die Abgeordneten Marc Sangnier und Moutet und der ehemalige Abgeordnete und Staatssekretär Violett am Donnerstag Abend, als sie sich zu einer Ver sammlung begeben wollten, von politischen Gegnern Überfallen und barbarisch mißhandelt worden. Soweit ist alle» in bester Ordnung und durchaus den Sitten entsprechend, die alltäglich geworden sind, seitdem Europa im Zeichen de» gallischen Hahncr lebt. Verwunderlich ist an dem Ereignis nur die Aufregung, die es, wie der Bericht hinzufsigt, in der Versammlung, wo sich die Ueberfallenen mit den Spuren des unliebsamen Abenteuer» zeigte», und am anderen Tag im Abgeordnetenhaus«, wo darüber interpelliert wuriK, hervorrief. Zn der Tat vermag man den Grund der Aufregung nicht einzu- sehen. Die Betroffenen mögen ganz sMpathische Persönlichkeiten sein, und im besonderen darf man dies von Marc Sangnier sagen, dem tapferen Anwalt eines wahren Friedens, dem vortrefflichen Führer der „Christlichen Demokratie*, zu deren die»- jährigem Kongreß zu Freiburg l. B. wir ihm die freundlichste Aufnahme wünschen. Doch was sind die paar Schrammen, die er und die anderen abbekamen, im Vergleich zu denen, die seine Nation der unserigen seit Jahren zufügt! Da» kleine Mißgeschick, da» ihnen widerfuhr, ist nur eine matte Kostprobe der unaufhörlichen Beleidigungen und Brutalitäten, die unsere Volksgenossen im Saargebiet, am Rhein und an der Ruhr von der Hand des französischen Mili tarismus zu erdulden haben. Dank der Anziehungskraft der Macht kommt der Hatton, die jeweils die Vorherrschaft in Europa au»- lwt, immer auch eine gewisse beispielgebende Wirkung im Moralischen zu. Wenn aber diese Ration, wie die französische es in den besetzten Ge bieten täglich übt, alle bürgerlichen Rechtsbegriffe mit Füßen tritt, wenn sie ihre Offiziere, wie erst kürzlich wieder in Höchst, Ludwigshafen und zahlreichen ande ren Orten als Plünderer und Diebeshelfer, ihre militärischen Richter bald als unterwürfige Büttel profitlicher Drahtzieher, bald als willfährige Zu treiber de» Henkers auftreten läßt: wenn diese Na tion, um nur die Ziele ihrer Herrschsucht und Hab gier zu erreichen, ganz offen mit der Anarchie pak- nett, — ist es da zu verwundern, daß die Pest der Mcheit und Barbarei in Europa um sich greift? Wenn nachgerade auch auf französischem Boden die Gebräuche bemerkbar werden, die der französische Imperialismus auf deutschem Boden geflissentlich übt, so ist da» nur ein besonder» anschauliches Beispiel dafür, daß die im Zeichen des Hahnes aufgekommen« Seuche sich mehr und mehr auszubreiten beginnt. Vielleicht ist ihr Gegenmittel eben darin zu suchen, daß sie endlich auf ihren Urheber zurückfällt. Viel leicht hat Marc Sangnier der Friedensfreund, dem Frieden einen wirklichen Dienst geleistet, indem er an der Seine einen Spritzer von dem Unrat der Gewalt und de» Haffes empfing, den seine Nation am Rhein und an der Ruhr aufzuhänfen nicht müde wird. I. S Vie vergessene Demokratie Budapest, 2. Juni. (Eig. Tel.) Wie der Frankfurter Zeitung berichtet wird, spitzt sich die tnnerpolitifche Krise immer mehr zu. Man glaubt, baß «» in der ersten Sitzung der in der nächsten Woche wieder zusammentretenoen Nationalversamm lung zu einer Klärung der Lage kommen wird. Der Führer der reaktionären rassenpolitischen Bewegung Abgeordneter GLbös verharrt auf seinem intransi genten Standpunkt und will seine Gegnerschaft gegen Vst» politische Programm de» Grafen Dethlen inner halb der Einheitspartei zu einer Entscheidung tret- von, indem er verkündet, er werde mit Dethlen ab rechnen. In einer Unterredung mit sozialdemokratischen und liberalen Abgeordneten der Opposition, die ein demokratisches Regime forderten, erklärte der Ministerpräsident, jene täuschten sich, die da glaubten, daß gegenwärtig in Europa die Demokratie ost leitende Idee sei. In allen größeren Staaten herrsch« da» konservative System und auch die Lffent- llche Meinung sei der Demokratie nicht günstig ge- fhmck. Im Auslande, da» er, Graf,Dethlen, bereist habe, werde da» ungarische Regime mit Anerkennung aewürdigt, weil e» sich von allen Uebertreibungen fernhalte, die in den Ungarn umgebenden Ländern ststzüstsüen seien. LoM über die Gefatzverr der Rüstungen Loudon, 2. Juni. (Eig. Tel.) Lord Robert Cecil hat gestern in einer Rede noch einmal die Notwendigkeit einer gründlichen Verständigung und Zusammenarbeit England» und Ame rika» zum Zweck« d«r Stch«rung de» Weltfrieden» betont. Bei dem heutigen Europa, das stärker be waffnet sei al» vor dem Kriege, sei e» mehr al» je notwendig, jede Friedensgarantie durchzuführen. Auf diesem Gebiete seien die Interessen englisch sprechender Völker identisch, und e» sei oaber erfor derlich, daß England und Amerika nach besten Kräf ten zusammenarbeiten, um gegen die von Europa drohend« Kriegswut Sicherungen zu erreichen, die geeignet wären, die Zivilisation vor dem Untergang zu schützen. Jeder überzeugte Christ sei verpflichtet, sich an diesem Kampf um den Weltfrieden zu be teiligen. Vie RechtrbEUgung im Zechenbach-Prozetz Ein namhafter Jurist nach dem anderen fühlt sich gedrängt, vor der Oeffentlichkeit die UnHaltbarkeit des furchtbaren Volksgerichts- Urteils vom Oktober v. I. gegen Fechenbach, Gargas und Lembke nachzuweisen. Auf die Broschüre des Kammergerichtsrats Freymuth folgt jetzt eine Abhandlung des Münchner Uni- versitätsprofessors Dr. F. Kitz Inger in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissen schaft. Auch Kitzinger betont die Unzuständig, keit des Volksgerichts, er macht aber weiter auf verschiedene Verstöße gegen das Gesetz aufmerksam, von denen einer geradezu von ent- scheidender Bedeutung ist. Im Fall des Ritter- Telegramms handelt es sich fraglos um ein Pressedelikt, das nach Preßges. tz 22 in stzchs Monaten verjährt. Die Veröffentlichung war im April 1919 erfolgt, während das volks- gerichtliche Verfahren erst im Jahre 1922 in Gang kam. „Es ist also,* schreibt Kitzinger, „wenn nicht alles trügt, in Sachen des Ritter- Telegramms der Angeklagte wegen eines be reits verjährten Verbrechens zu einer Zuchthausstrafe von 10 Jahren ver urteilt worden.* Der Mitangeklagte Dr. Gargas, ein früherer Angestellter des Auswärtigen Amtes, hatte ein politisches Informationsoureau unterhalten, für das viele bekannte Persönlichkeiten arbeite ten. U. a. hatten auch Fechenbach und der Münchener Journalist Lembke Berichte über bayerische Geheimorganisationen geliefert. Hier- für erhielt Fechenbach ein zusätzliches Jahr Zuchthaus, während Gargas und Lembke zu den entsetzlichen Strafen von 12 bzw. 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurdenI Prof. Kitzinger führt dazu aus, daß das Volksgericht den 8 92 des Strafgesetzbuches falsch angewendot habe. Ts habe „Geheimnisverrat" als solchen fälsch- lich als Landesverrat gewertet. Dabei habe sogar das Gericht zugegeben, daß ein Teil der Berichte eine für das Reich günstige Wir kung habe ausüben können, es habe aber unter lassen, abzuwägen, ob nicht der Nutzen den Schaden überwog. Kitzinger läßt die Frage offen, ob nicht Dr. Gargas für eine demReich vorwiegend nützliche Tätigkeit zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist! Kitzinger erklärt es zum Schluß für selbst, verständlich, daß da» Unrecht wieder gutgemacht werden muß. Darüber sind wohl alle rechtlich Denkenden einig. Die Gerechtigkeit gebietet aber auch, daß diese Wiedergutmachung s o schnell al» möglich vorgenommen wird. Jeder Tag, den die unrechtmäßig Verurteilten im Zuchthaus verbringen, ist für sie eine Schä digung, die nie wieder ausgeglichen werden kann. Vie Gewerkschaft« zur ReparattowssttsWa- Berlin, I. Juni. (Eig. T «^ Ser Bllgenwttm Deutsche Gewerkschaftsbund, der Aklgeasttne fvtte Angestelltenbund und der Gswettschostsrtng deut scher Arbeiter-, Angestellten- und Beamten verbände haben dem Reichskanzler eine Rote übersandt, in der sie zu dem Angebot de» Reich»verbanbe» der deutschen Industrie Stellung nehmen. „Die vom Versailler Vertrag und durch da» Lon- doner Diktat geforderten Reparationen überschreiten die Leistungsfähigkeit Deutschland» und find un erfüllbar. Auch die nach dem Urteil der un» freund lich gesinnten Kreise im Auslande billigerwetse von Deutchland zu fordernden Leistungen können au« den derzeitigen Einnahmen de» Reiche» und der Länder nicht getragen «erden. Di« Einheit und die Freiheit de» Reiches werden gefährdet, wenn der private Besitz für die Verpflichtungen de» Reiche» nicht ausreichend mit herangezogen wird. Der Reichsverband der deutschen In dustrie erkennt dies« Notwendigkeit -war grund sätzlich an, er will ober den Privatbesttz nur in vor übergehender Verpfändung und nur insoweit ver pflichtet sein lassen, als er in unbeweglichem Ver mögen verkörpert ist. Da» gesamte bewegliche Ver mögen soll also von der Inanspruchnahme aus geschlossen sein. Hierzu fehlt jede Berechtigung. Soweit eine vorübergehende Verpfändung von Sach wertbesitz erörtert wird, ist sie an so viel Vorau»- setzungen geknüpft, daß das Angebot seinen Hauptwert vertiert. Die Rücksichtnahme der Industrie auf ihre Interessen läßt die Interessen der Gesamtheit viel zu kurz kommen. E» fällt auf, daß nach Meinung de» Reichs verbandes aus den staatlichen Pfandobjekten, sofern sie nach privatwirtschaftl'chem Grundsatz ertragsfähig werden, in absehbarer Zeit jährlich etwa SVO Gold- Millionen, vielleicht 1 Milliarde und mehr heraus gewirtschaftet werden können, während die gesamte deutsche Wirtschaft unter Anspannung aller Kräfte neben den sonstigen schweren Lasten nur eine Höchst summe bis zu K00 Goldmillionen aufbringen könnte. Al» Staatsbetriebe kommen in erster Linie Eisenbahn, Post, Forsten und Bergwerke in Be- tracht. Aus den Staatsforsten wird nur ein kleiner Teil der geschätzten 600 Millionen aufzubrtngen sein, das gleiche gilt für den staatlichen Bergbau. Wenn Eisenbahn und Post in der Hauptsache den angegebenen Betrag erzielen sollen, ist die Schätzung der Leistungsfähigkeit der ganzen deutschen Wirtschaft auf höchsten» 5VV Goldmitttorren ««verständlich. Nach den Schätzungen des Dolksvermögens vor dem Kriege war da» Verhältnis de» staatlichen -um privaten Vermögen etwa 1 : 7. Dennoch mutet der Reichsverband den Staatsbetrieben «inen doppelt so hohen Betrag zu, al» dem weit vergrößerten Privatvermögen. E» ist irreführend, wenn die Reichsverbände den Kapital wett der von der deutschen Privatwirtschaft zu garantierenden Jahresleistung auf mehr al» die Hälfte seines gegenwärtigen Derkaufswertr» schätzt. Danach würde der Wert der gesamten deutschen Wirt schaft nur auf Sund 20 Goldmillionen anzunehmrn ssin. Diese Schätzung ist unzulänglich. Eine sofortige Aufhebung der Demobil- machungsvorschriften ist für di« gesamte deutsche Wirtschaft unerträglich. Die sozialen Ver ordnungen über Erwerbslosenfürsorge, Arbeitszeit regelung, Tarifverträge, Schlichtungswesen usw. be ruhen auf Demobilmachungsrecht und werden von den Gesetzen abgelöst werden. Ihre sofortige Aufhebung ist unmöglich. Di« Forde rung nach einer Beschränkung der Staatsgewalt auf das Schiedsrichteramt in wirtschaftlichen Streitig keiten enthält einen bedauerlichen Mangel an sozialer Einsicht gegenüber der, unter den Nachwirkungen de» Kriege» leidenden arbeiten den Bevölkerung, daß e» schwer fällt, diesen Rück- di« heutig« systemlos« Steueraufeinanderhäufung. Die Geldentwertung bat erhebliche Teile der Steuergesetzgebung praktisch fast bedeutungslos wer- den lassen. Eine Hebung der Steurrmoral setzt vor- au» den verztcht der Industrie und der übrigen Wittschastrkretse, noch länger Nutznießer der Geldentwertung -u sei». Einer finnvollen Steuerreform -um Zwecke der Ausbllanzierung de» ^aushatte, müssen folgende Richtlinien zugrunde 1. Organtst^ Zufommemtommg uud Verein, fachung des SteüerverwcSttengsapckadatt» und der derzeitig«» Steuern. 2. Anpassung der Gtzmmr-an den sich ändern den Martwert. S. Schaffung einer wirtlichen, allgemeinen 2 uel- lenbefieuerung im Sinne ttster Erfassung der Sachwerte, di« allein di« Inflation erfolg reich bekämpfen kann. Der Reich»verband vevlangt ein« Steigerung der allgemeinen Arbeitsleistung. Dies« Forderung be- d-ntet nicht nur, die volle Arbeitspflicht aller Be- schäftigten, sondern «such die Anerkennung de» Stecht es «wf »olt« Befchllstigwwg. Die Entlassung der Arbeitnehmer, die teilweisen und periodischen BetrirbeeinschrLnkungen und Still legungen wirken der Steigerung der Produktion ent gegen und erschweren deren quantitativ« Hebung. Wenn die Industrie den Achtstundentag grundsätzlich aufrechterhalten wissen will und ledig- lich Erhöhung der Tariffretheit verlangt, so könnte da» zu dem Glauben verleiten, die Arbeitgeberkreis, hätten sich mit dem gesetzsichen Achtstundentag ab gefunden. Der Hinwei, auf die Vorarbeiten des Reichswtrtschaftsrate» besagt aber im Gegenteil, daß die Unternehmer auf die lange Freiliste gesetz licher Ausnahmen in den vorliegenden Arbeitszeit gesetzentwürfen nicht zu verzichten gedenken. Zusammenfassend erklären wir, daß in dem Schreiben des Reichsverband«» die Grundlage für die Lösung de» gesamten Reparation«- Problem» nicht gegeben ist. An einer gesun- den Lösung de» Reparationsproblem» mitzuwirken, betrachten di« obengenannten Gewerkschaften auch weiterhin al» ihre Aufgabe." Anfrage an den Landtag Dresden, 2. Juni. (Eia. Tel.) Eine Anfrage der Kommunistischen beschäftigt sich mit dem Ga rantieleistungsangebot de» Reichsverbandes der deutschen Industrie zur Sicherung der Reparations zahlungen. Die Anfrage bezeichnet das Angebot al» provokatorische Forderungen und fragt, ob die Ttaatsregieruna bereit sei, bei der Reichsregierung sofort Vorstellig zu werden, mit dem Ersuchen, dies« Forderungen restlo» abzulehnen und ob fle bei der Reichsregierung auf Erfassung der Sachwerte drängne wolle. * Di« deutsch-demokratische Pattei für Dresben hat in ihrer letzten Sitzung an Stelle de» an die Universität Leipzig berufenen Geh. Regierungsrates Dr. Apelt den Oberverwaltungsinspettor Otto Weber -um Vorsitzenden gewählt. Reichsminister Geßler weilte in Dresden und hatte mit dem Ministerpräsidenten Dr. Zeigner, dem Minister de» Innern Liebmann und Ver tretern des Reichswehrkommandos IV ein« Unter redung. Näheres über diese Unterredung war bis her nicht festzustellen. Die Denkmalsweihe der lüöer, die am Sonntag in Werdau erfolgen sollte, und für die große Vorbereitungen getroffen find, ist von der Re gierung »erboten worden. Racine auf der Sühne Bon Privatdozent vr Rkiistslm ssrlwllmwnn Di« wenigen, die in gleicher Weis« mit französi scher Kunst und russischer Sprache vertraut sind, apgen au» der Tatrosf» Pkädra-Aufführung im Hnpziger Schauspielhaus wohl recht nachdenklich Arm. Rach Ansicht der meisten deutschen Bühnen- Ktektoren ist Racine nicht mehr aufführbar, auf der Bühne nicht mehr wirksam, und trotzdem war ein Abend wie der gestrige möglich? Hier scheint mir denn doch ein Widerspruch zu liegen. Denn die Wir kung war da, von einer Große und Erhabenheit, wie ich sie selten erlebt habe, war da bei Menschen, die kein Wort von den wunderbaren russischen Melodien verstanden, die aus Alice Koonens Munde zu Aphro dite emporstiegen, war da bei Menschen, tue sich mit Hilfe de» Programmbuches den Sinn der Pantomime — nichts andere» waren ja für sie di« Vorgänge auf der Bühne — klar machten. Sie steigerte sich bei den anderen, die der Sprache mächtig waren und doch von dem Dichter nicht viel mehr aus dem Schul unterricht behalten haben al» daß er der „sanfte Racine" im Gegensatz zum „herben Cor- notlle" ist. Das gibt zu denken, und man muß sUh die Frage vorlegen, ob im Falle Ranne, wie überbaust in dem de» klassischen französischen Thea- -ters, nicht ein theaterkritischer Justizirrtum vorliegt. Racine» Tragödien sind der bühnenmäßige Aus druck der Weltanschauung und Menjchrnauffaflung einer zeitlich und örtlich bedingten Gesellschaftsklasse; und diese Gesellschaftsklasse ist der Kreis um Lud wig XIV. in der Zeit seiner höchsten Machtentfaltung, in der Zeit de» sterbenden Barock. Hinsichtlich der Verwaltung, de« Verkehr», der Kunst, ist alles durch den ordnenden Verstand in fest« Bahnen gelenkt wor den. Die große gewaltige Leidenschaft ist au« dem realen Leben ausgeschaltet — al» ordnunasstörende» Äement. Sie bat nur auf der Bühne noch Daseins- berechtigung: stilisierte« Kunstwerk bet Racine wird sie später anatomische» Wachspräparat bei Voltaire und ErSbillon. In dieser Stilisierung der Leiden schaft bei Racine aber liegt auch da» Problem für die Aufführung. Eingeengt durch Vie Regel der Einheit der Zeit und der Handlung, wird nicht ihr Entstehen, sondern ihr Höhepunkt bis »ur vernichtenden Explo sion gezeigt, wird der Mensch nur von dieser einen Seite seiner Leidenschaft au» betrachtet. Phädra ist Mutter — wir sehen ihre Kinder nicht, Phädra ist Gattin — wir sehen nicht das Problem ihrer Ehe, Phädra ist Königin — wir sehen nicht ihr Reich, ihre Untertanen. Wir sehen sie nur als Weib, da« von einer unseligen Leidenschaft erfaßt ist, ein Opfer „der Göttin, die die Deute ganz erfaßt". Diese allein bedingt ihr Handeln, ihren zwingenden Einfluß auf Oenone als einzige Vertreterin eines zahlreichen Hofstaate». Durch diese Leidenschaft, al» Verkörperung ihrer, wird Phädra zeitlos, ein Ur mensch und ein Deaenwartsmensch zugleich, ein Ty- pu». Hier aber ist der Punkt, au» dem die Inszenie rung einer Racineschen Tragödie verstanden werden will7 Sowie man auch nur da» geringste Quentchen Realismus in die Darstellung und die Aufmachung bringt, ist die Schlacht verloren. Da» hat Tatrosf er kannt. und der symbolische Ausdruck dieser Erkennt nis ist der Kothurn, auf den er seine Figuren stellt. Di« grandiose Einseitigkeit der Leidenschaftsschilde, rung Racine« kommt entfesselt von Raum und Zeit zum Bewußtsein. So entfesselt wirkt Racine, da» hat der Abend bewiesen. Man messe ihn nicht an den Griechen, man nehme ihn an sich. Unsere zeit liche Distanz zu ihm ist groß genug, um sein Werk zeitlos zu sehen, und vergessen Muß man einen anderen, um Racine gerecht zu werden, den um des- sentwtllen schon Lessing und nach ihm die französische Romantik da» französisch« klassisch« Theater ablehnte: Shakespeare. Denn Shakespeare, der Renaissance- enmsch, bringt die Totalität de« Leben», al» Geschichte abfaesaßt, zur Darstellung — die Menschen al» empi risch«' Charaktere —; hier ist Realismus, um nicht zu sagen Nationalismus am Platze. Racine aber will nur eine Seit«, «inen Zug in jedem Werk dar stellen, al» sollte sich au» dem Gesamtwerk der intelli- gib!« Charakter des Typus Mensch ergeben. Hier ist nur stilisierte Darstellung möglich — das haben auch die großen französischen Darstellerinnen nicht verstanden und haben un» di« Russen gelehrt, unter- »reichen sie Zug um Zug bis in» kleinste Detail. Die chtefe Ebene der Bühne, di« Phädra fast immer den >öher gelegenen Platz zumeist, allein ist schon so ein Detail. Dem Uebersrtzer Brjussow ist in genialer Intuition diese» Zeitlos« schon klar geworden. Er ändert den Tert Racine«, wo er ihm au» der Zeit- losigkeit zu fallen scheint, so beim Tode der Arici«. Ich will hier Nachahmungen nicht da» Wort reden. Da» Lliross bringt, brächte kein deutsche» Theater 1» zustande, zu sehr ist ja Taiross national bedingt. Aber deutsche Stilisierungskunst — da» ist meine Uebrrzeuguna — könnte ungeahnt« Wirkungen au» den französischen Klassikern yerausholrn. E» käme nur auf den Versuch an. Schweizerisch« Ehrung Fritz v. Unruh». Die Martin Bodmer-Stiftung in Zürich hat Fritz v. Unruh, dem der Schiller-Preis vorenthalten wurde und der Grillparzer-Preis nur moralisch verliehen werden konnte, eine Ehrengabe von vier Millionen Mark übermittelt, die keinen Preis darstellen möchte, sondern nur die bescheidene Absicht verfolgt, anzuregen, daß von privater Sette den Literaturpretsen nachgehvlfen wird. Diese schweizerische, mit beschränkten Mitteln arbeitende Stiftung möchte damit allerdings auch dem Glauben an da» mutige dichterische Schaffen Fr. v. Unruh» Ausdruck geben. Der gekränkt« Brunner. Au» Frankfurt wird uns gedrahtet: Dor dem Frankfurter Schöffengericht wurde in Sachen der Beleidigungsklage verbandelt, die der früher« Referent im preußischen Wohlfahrt»- Ministerium und literarischer Beirat de» Berliner Polizeipräsidium» Pros. Karl Brunner gegen den verantwortlichen Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung, Rudolf Geck, angestrengt hatte. Brunner fühlte sich durch einen am 2b. Oktober in der Frank furter Zeitung erschienenen Aufsatz „Schund, Schmutz und Brunner" beleidigt, in dem in humoristisch-satirischer Form »In« amtlich« Bekannt machung glossiert worden war, nach der di« von Brunner begründete Schriftenreihe „Deutsche Taten" al» Schund, und Schmutzliteratur nicht weiter sollte vertrieben werden dürfen. Das nach kurzer Bera tung verkündet« Urteil lautete im Sinne de» An trages der Verteidigung auf Freisprechung. Vie «mißverstandene Range. Ein lustige» Mal- heurchen, da» dem Leipziger „Kleinen Theater" pas siert sein soll, al» «» in einem Provinzstädtchen in Thüringen gastierte, wird un» erzähle. Die Verant wortung für di« historische Richtigkeit trägt unser Gewährsmann. Do „Lim di« Kokon«"' der Schlager de» Kleinen Theater» ist, versetzt« man diese» nicht ganz harmlose Stück auch den Kleinstädtern. Um aber zu mildern und keinen Anstoß zu erregen, tauft« «an Lifsi die Kokotte rasch in rin« unverdächtige .Lissi, die Rang«' um. Da» Hau» war voll und zur Hälft, mit Pensionatsmädchen besetzt, dir in dem Glauben, e» handle sich um eine Range von der Art de» „Trotzkopfs" in Hellen Scharen mit ihren Instituts vorsteherinnen erschienen waren. Al» sich aber die Rang« al» da» entpuppte, was sie ist, gab es «kN« klein« Katastrophe. Die Bürger waren entrüstet; die Lehrerinnen der Ohnmacht nahe. Die jungen Mädchen mußten zu ihrem Leidwesen da» Theater schleunigst verlassen. — Das kommt davon, wenn man ein» Ko- kott« in «in« Range verdeutscht . .. Leipziger ttuustvereiu. Da, graphisch« Werk Oskar Kokoschkas, «tu« Auswahl seiner Aquarelle und Handzeichnungen, dir Kollektion von Gemälden und Aquarellen Hellmuth Mackes-Bonn und die neuen plastischen Arbeiten Bruno EyermannSuiid Ernst GtnckenbruckS sind heute zum letzten Male zu sehen. Desgleichen wird di« mit großem Beifall auf- genommen« G onderauSftelluna moderner indischer Aquarell« in den nächsten Lagen wieder nach Indien mrrückgesandt werden. Hände hoch! Don Neulich hat sich in einem sehr guten Berliner -aus« folgende» begeben: E» war so ziemlich alles versammelt, was auf einem bestimmte» Kunstgebiet etwa» darstellt — ich will nicht sagen, auf welchem, sonst lönnen Sie am Ende ryten, welche» Hau» ge meint ist —, und e» war sehr fein und Vornehm. Auf einmal reißt der Hausfrau di« prächtig« doppel reihige Perlenkette, und die Perlen gleiten einzeln zu Boden und rollen über den Teppich. Mehrere der anwesenden Gäste bücken sich galant und pflicht- eifrig — da ruft plötzlich der Herr de» Hauses: „Hände hoch —I' Ein paar Leute tollen sofort weg gegangen sein — di« meisten blieben, weil st« diese» freundlich« Kommando nicht weiter Übel nahmen, vermutlich hätten fte »» selbst auch gegeben. Ich find« da» sehr schön. Da sitzt man in an geregtem Gespräch, läßt den zerbröselten Kuchen »art und leis« in den Mund gleiten, nimmt «in Schlückchen Tee und bläst den hellgrauen Rauch der Zigaretten genießerisch in die mit Recht parfümierte Lust. Und mif einmal geschieht »in N einer Unfall, ein Faden hält nicht, und ei» Helle», scharfe» Kommando zer reißt die Lust: „Hände hoch!" Und zeigt, wo wir un» befinden.
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