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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 30.05.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-05-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192305306
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230530
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230530
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-05
- Tag 1923-05-30
-
Monat
1923-05
-
Jahr
1923
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8ett« I Vie englischen konservativen Baldwin und Lurzon für Einigung London, 29. Mai. Baldwin wurde heute ein stimmig zum Führer der Konservativen Partei auf einer unter dem Vorsitz Cur zon» abgehaltenen Zusammenkunft der Partei im Hotel Teetl gewählt. E» waren 2V0 Mitglieder de« Unterhauses und 80 Mitglieder de» Oberhauses an wesend. Lord Birkenhead und Chamberlain waren, wie erwartet, nicht zugegen, aber vier vormalige unionistische Minister, darunter Horne und der neue Generalpostmcister Evans. Curzon, ebenso wie der Premierminister stürmisch begrüßt, trat in einer Rede, in der er da» Vertrauen für den neuen Führer der Partei Baldwin beantragte, für eine ver einte, entschlossene und starke konservative Partei ein und sagte, die Einigkeit müsse vollständig sein; olle Konservativen müßten sich zur Unterstützung des konservativen Premierministers und der konserva tiven Politik zusammenscharcn. Jetzt sei nicht Zeit für Brüche und Spaltungen; alle Konservativen müßten geloben, die Reihen zu schließen. Die Oppo- sition im Untcrhause sei entschlossen, aber uneins; mit der Zeit würden sich jedoch die Unter schiede in der Opposition abschwächen. Es seien be reits Anzeichen eines beginnenden Flirt« zwischen den Liberalen und der Arbeiterpartei vorhanden, die sich wahrscheinlich zu zärtlicheren, innigen Gefühlen entwickeln würden. Zur auswärtigen Lage erklärte Curzon, eine neue Schlacht für eine neue Welt müsse ge schlagen werden. Wenn Großbritannien seine Rolle spielen solle, müsse die Regierung Ach» tungeinflößen.sie müsse wissen, was sie wolle, und ihre Verantwortlichkeit kennen. Curzon richtete einen Appell an die Partei. Baldwin ihre volle Unterstützung zuteil werden zu lassen. Der gesamten Welt müsse gezeigt werden, daß eine gesunde konservative Regierung vorhanden sei, die in der Lage sei, sich der Bedürfnisse der enr- standenen neuen Welt anzunehmen. Baldwin erklärte in seiner Erwiderungarede, kein Mitglied der Konservativen Partei dürfe irgend etwa» tun, was die endgültige Wiedervereivigong verzögern könne, die nach seiner Ueberzeugung bald zustande gebracht werden würde. Er selbst würde sicher kein Holzscheit ins Feuer werfen. Die P o l i ti k o n a r Laws müsse weiter ge führt werden; es dürfe kein Bruch eintreten. Die Konservativen müßten sich an die Richtlinien Disraslis halten. Eine dieser Richtlinien sei, daß sie nicht die industrielle und landwirtschaft liche W,o hl fahrt des Volkes vergessen dürften, eine andere Richtlinie sei die Entwicklung und Ver einigung des britischen Reiches. Wenn Europa zer falle, so könne England nichts vor der Fortdauer der Erwerbslosigkeit bewahren, die ihre Rück wirkung fast lwf das gesamte Volk haben könne. Unter diesen Umständen habe er McKenna wegen seiner hohen finanzieren Begabung und seine- wohlbekannten Wunsch?» nach Sparsamkeit ein Amt arigeboten. - Welter erklärte Baldwin, man könne nicht -»lassen, daß Europa verfalle; denn sonst würden die industriellen Verhältnisse in Eng land gefährdet. Welcher Staatsmann in Zukunft auch die Zügel halten werde, wie groß er auch sei, er dürfe die europäische Lage nicht vernachlässigen. Ihre Behandlung dürfe nicht verzögert werden; wenn sie sich selbst überlassen würde, dürfte cs zu spät sein. Loudon, 29. Mai. (E i g. Te l.) In der Rede, in der Baldwin gestern da» Amt eine» Führer» der unionistischen Partei annahm, hat er auch ausdrücklich die Unterstützung der Partei für Mc Kcnna in Anspruch genommen. Dieser Passus hat gestern abend eine interessante Ergänzung er fahren. Es verlautet, daß cs Mc Kenn« gesund heitlich sehr viel besser gehe, so daß er bereits in ganz kurzer Zeit in der Lage sein wird, sein 9* lando» genießen würde, und di« imstand« wär«, den Frieden zu sichern, wen» er auch Opfer kosten würde, den Frieden zu sichern, wenn er auch Opfer kosten würde, »der die allein den Wider stand de» deutsche« Volke» organisieren könnt«, wenn der französische Imperiali»«u» ihm keinen Frieden geben würde!" Die Moskauer Internationale al» Verteidigerin der nationalen Interessen Deutschland» bringt sich selbst um di« Glaubwürdigkeit, daß e» ihr ernst sei. Bezeichnend für die inner« Wandlung der deutschen Kommunisten ist e» aber immerhin, daß dieser Auf ruf sich höchsten» bi» zu einer .Regierung de» werk tätigen D.olkeo" aufschwingt. Kein Wort von einer .Arbeiterregierung", und gleich -inz still ist e» worden von der »Diktatur des Proletariats". Amt al» Schatzkanzler »u übernchuwn. Durch di« Schaffung einer Stelle al» Staatssekretär mit Ministerrong sei e» Mc Kenna möglich, bereit» früher al» vorgesehen (zwei Monate) sich wenigsten» aktiv an d«r Behandlung der R«paration»frag« beteiligen, während sei» Staatssekretär ihn vor allem in Rcssortarbeiten, die sich auf da» englische Steuer- wesrn und die Erledigung parlamentarischer Fragen beziehen, entlasten soll. Baldwins erster Erfolg Im Parlament Loudo», 29. Mai. Da» Unterhaus hat das In- demnitätsgcsefi angenommen. Da« Gesetz be- sagt, daß die nach Irland deportierten Mitglieder der irischen Selbstbrstimmungsliga kein gerichtliche« Verfahren gegen den Staatssekretär des Innern oder die beteiligten Behörden einleiten können. Personen, die durch Deportierung geschädigt worden sind, sollen eine angemessene Entschädigung erhalten. Damit hat die Regierung Baldwin ihre Lauf bahn gestern abend verheißungsvoll begonnen. Die zweite Lesung der Indemnitätsblll, von der er wartet wurde, daß sie zu einer kritischen Debatte und zu einer die ganze Nacht dauernden Sitzung im Unterhaus« führen würde, wurde um II Uhr abends mit einer Regierungsmehrheit von 114 Stimmen angenommen. Die Partei Lloyd Ges g's stimmte mit der Regierung. Sächsischer Landtag Vie Dresdener Krawalle Dresden, 29. Mat. (Gig. Tel.) Der Landtag kielt heute seine erste Sitzung nach den Pfingst- serien ab. Dor Eintritt in die Tagesordnung legte der kam- munistische Abg. Zipfel einen Dringlichkeitsantrag seiner Partei vor. Darin wird die Forderung auf gestellt, den Erwerbslosen eine sofortige Wtrt- schaftsbeihilfe in Höhe von 100 000 Mark für Verheiratete, 80 000 Mark für Ledige und 20 000 Mark für jedes unterhaltungspflichtige Familienmitgltch zu gewähren, ferner die Erwerbslosen, Kriegs- beschädigten und Hinterbliebenen sowie Renten!ose mit verbilligten Naturalien zu beliefern. Zur Deckung der Kosten sollen Industrie, Handelskreise und Land wirtschaft durch eine sofortige Umlage auf Ein- kommen, Vermögen und Betriebsüberschüsse heran- gezogen werden. Abg. Zipfel bemerkt, das Präsidium habe die Dringlichkeit dieses Antrages abgelehnt, und fährt fort, das nationalistisch: Destndel sei von den Kapitalisten unter die Erwerbslosen auf die Straße geschickt worden, um dies« aufzustachcln und dann niederknüppeln zu können. Lin Teil der Polizei gehe mit den kapitalistischen Elementen zusammen. (Große Unruhe.) Gegen Sachsen marschierten Formationen der Reichswehr auf. Die Reichswehr stehe ganz nahe von Dresden bereit, um gegen di« Erwerbslosen mit den brutalsten Mitteln vorgehen zu können. Das Haus lehnt die sofortige Behandlung diese« Antrages ab. Darauf stellt Abg. Böttcher (Komm.! den Antrag, diesen seinen Dringlichkeitsantrag sofort an den Haushaltausschuh ü zu überweisen, damit er dort sofort verhandelt werde. Präsident Winkler bemerkt dazu, daß dieser Antrag dem Vorschläge des Präsidium» entspreche. Diesen Vorschlag hab: aber der Abg. Böttcher abgelehnt. (Hört, hört! Große Unruhe.) Das Haus beschließt hierauf die Ueber- weisung de» kommunistischen Dringlichkeitoantrages an den Laushaltausschutz ö. Präsident Winkler teilt darauf mit, daß das Präsidium vorschlage, die nächste öffentliche Sitzung de» Landtage» spätestens am 12. Juni stattfinden zu lassen, um den Ausschüssen Gelegenheit zu intensiver Arbeit zu geben. (Die Kommunisten rufen: „Oho! Es geht wohl nichts vor?") Abg. Renner (Kam.) spricht sich gegen die Aussetzung der öffent lichen Sitzungen au». Abg. Wirth (Soz.) ver- teidigt den Vorschlag de» Präsidiums. Abg. Schneider (D. Vp ) wendet sich gegen den Abg. Böttcher, der behauptet hatte, im Ruhrgebiet gingen die Kvpitalisten mit den französischen Offizieren zu- smnmen, und wirst den Kommunisten Sabotage der Maßnahmen der Reichsregierung vor. (Große Un ruhe bei den Kommunisten.) Der Präsident bittet, wegen der vielen unparlamentarischen Zwischenrufe, di« wahrend der Rede des Abg. Schneider fallen, auch in den Zwischenrufen der Würde des Hauses ein- gedenk zu sein. Abg. Böttcher protestiert dagegen, daß sich der Präsident al» Gouvernante de» Parla ment» aufspiele. Da» Hau» beschließt hieraus, daß die nächste Sitzung spätesten» am 1. Juni stattfinden soll. Dao Haus tritt sodann in die Erledigung der Tagesordnung ein. Den ersten Punkt drr Beratung bildet der Gesetzentwurf über die Ausgabe von Roggen rentenscheinen durch die Landes- kulturrentenbank. Nach dem Entwurf soll die Ge währung von wertbeständigen Darlehen durch die Landeskulturrentenbank nicht auf die im Gesetz vom Ein Aufruf der ttpv. Die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutsch- lands (Sektion der Dritten Internationale) erläßt gegen die „Regierung der nationalen Schmach und de» Dolksverrats" einen Aufruf, dem wir folgendes entnehmen: „Alle die Greuelnachrichten über di« Pöbel- Herrschaft im Ruhrgebiet und all« die Nachrichten von der Oekfnung der Ruhrfront durch die Ruhr arbeiter sind erstunken und erlogen; die Wahrheit dagegen ist: die deutsche Bourgeoisie zerbröckelt die Widcrstandsfront an der Ruhr, st« bereiter eine Kapitulation vor, und zwar auf Kosten der Dolksmassen, und sie sucht zur Verdeckung dieser Tatsache ein Blutbad im Ruhrgebiet zu provo zieren. Die Regierung Cuno ist bankerott. Entstanden aus dem Willen der deutschen Bourgeoisie, um durch Widerstand gegen den französischen Impe rialismus die Ermäßigung der Reparationsforde- rnngcn zu erkämpfen, hat sie sich unfähig erwies:», die Interessen des deutschen Volkes gegen die schamlose Gier der deutschen Schwerindustrien«» zu verteidigen. An die Stelle ihrer Tribute für da» Entente kapital setzte sie die Auswucherung de» deutschen Volkes durch die Junker und Schwerindustriellen. Sie hat die Summen der Papiermark von etwa zwei auf zehn Billionen in fünf Monaten erhöht; sie hat einen großen Teil de« Goldschatzes des Reiche» verpulvert, und sie weiß nicht «in noch au». Sir ist das Gespött der ganzen Welt ge worden. Wir fragen die deutsche Sozialdemokratie, fragen den ADGB.: Was gedenken die Vertreter der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse zu Lun, um da» Blutbad im Ruhrgebiet unmöglich zu Machen? Wir fragen die nationalgesinnten kleinbürger lichen Massen, die Massen der deutschen Beamten und Intellektuellen: Was gedenkt ihr zu tun gegen eine Regierung, die es wagt, schamlos, wie «ine öffentliche Dirne, sich an die französischen Generäl« zu wenden mit der Bitte um Erlaubnis, deutsche Volksgenossen abschlachten zu dürfen. Fort mit der Negierung der nationalen Schmach und des Dolksverrats! — Fort mit der Regierung, die sich an die Büttel der Entente wendet, die um die Erlaubnis nachsucht, auf deutsche Arbeiter schießen zu dürfen! — Fort mit der Redierung, die die Eisenbahnen den Privat kapitalisten ausliefern will! Her mit der Einheitsfront aller Arbeitenden, der Kopf- und Handarbeiter in Stadt und Land! Her mit der Regierung de« werktätigen Volkes, die Vertrauen bei den Dolksmassen de» Aus- SV. Juni 1014 bezichneten Landeskultur-«ecke be schränkt, sonder« für all« Zwecke ermöglicht werden, die der Erhaltung und Hebung de» landwirtschaftlichen Erzeugung dienen Dunen. Di« Abga. Voigt (Dt. D»), Günther (Dem.), L«tttz»ld (Rnatl.) äußern verschiedene Wünsche und Bedenken den Be- Kimmungen de» Entwurfes gegenüber. Abg. Sch em vor (Soz.) erklärt, feine Partei verspreche sich von der Vorlage sehr viel. Abg. Noack (Dt. Dp.) kündigt einen Abänderunasantrag im Ausschuß an. Nach berichtigenden Ausführungen de» Ministerial direktor» H « drich wird der Entwurf an den Rechts- ausschuß verwiesen. (Die Sitzung dauert fort.) Eine Anfrage der Demokraten Dresden, 29. Mai. (Eig. Tel.) Der drmo'.ra- tischc Landtagsabgeordnrte Dr. Kastner und die demokratische Landtogsfraktion haben folgende An frage an di« Regierung gerichtet: „Seit Freitag abend wird durch Ansammlungen. Umzüge und Aufläufe, unkontrollierbaren Druck, zum Teil unter Drohungen, der gesamte geschäftliche Verkehr Dresdens stillgelegt, die Schließung der Ge schäfte erzwungen, damit di« gesamte Bevölkerung in ihrer Versorgung bedroht und besonders auch die beteiligte Arbeitnehmerschaft auf das empfindlichste belästigt und geschädigt. Daß der gegenwärtig be sonder» großen Not erwerbsloser und auch anderer Bcvölkerungvschichtrn schleunigst abgeholfen werden muß, steht außer Zweifel. Derartige Lin- griffe unverantwortlicher Stellen aber sind völlig zwecklos. Sie verursachen tiefgehend« Beunruhigung aller Pevöllerungs- schichten und schließen insbesondere auch politische Gefahren in sich. Die behördlichen Maßnahmen haben bisher einen Erfolg nicht erzielt. Wir fragen deshalb die Regierung: Aus welchem Grunde ist es bisher nicht ge lungen, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten oder wenigsten« wiederherzustellen? Was gedenkt die Regierung zu tun, um diesen fortgesetzten Ruhe- störungen schleunigst ein Ende zu bereiten? Wie ist Sicherheit und Ordnung für die Zukunft gewähr leistet? Hat ferner die Regierung Anzeichen oder Beweise dafür, daß bei den genannten Ereignissen politische Momente mitspielen? Ist von irgend- einer Seite versucht worden, die Unruhen zu poli tischen Zwecken auszunutzen?' Abg. Günther zusriedengesteM Dresden, 29. Mai. (Lia. Tel.) Dor Eintritt in die Tagesordnung des Landtages gab Abgeordneter Günther (Dem.) folgende Erklärung ab: „Aus den Einzelheiten bei der Abstimmung vom . 29. April 1923, über die ich hier am 24. April 1923 eine Erklärung abgab, sind in der Ocffentlichkeit Schlußfolgerungen gezogen worden, die sich als un- zutreffend erwiesen haben. Es besteht zwrschen der beteiligten Presse und mir Einigkeit darüber, daß es sich nicht um die Gewerbesteuer selbst gehandelt hat, deren Gegner ich stets gewesen bin, und gegen die ich auch in jener Sitzung gestimmt habe, sondern nur um einen Dertagungsantrag in dieser Frage. Die entstandenen Mißverständnisse hatten zu einer für beide Teile bedauerlichen Verschärfung der An gelegenheit geführt. Nach der darüber gepflogenen - Aussprache habe ich keine Veranlassung mehr, an der ' Auffassung festzuhalten, daß eine „raffiniert boshafte Falschmeldung" vorgelegen habe und ziehe deshalb mein« Anfrage vom 26. April 1923 (Drucksache 207), in der diese Auffassung vertreten war, zurück." KnMing berät mtt an -er Note München, 29. Mai. Ministerpräsident Dr. von Knilling wird sich heute abend nach Berlin begeben, um an den Beratungen des Reichs- tagsausschusse» für auswärtige Angelegenheiten übe: die neue deutsche Rote teilzunehmen. Da« neue polnische Kabinett ist ge bildet. Premierminister ist Ditos, Minister de» Aeußeren Seytza, Minister des Innern Kiernik, Finanzminister Grabski. Fritz Mau ihn er derMheist Don Saorz wiewodl das Werk von strip Mauthner an dieser Stelle von berufener Sette bereits kritisch gewürdigt wurde, rechtfertigt sein« Be deutung dennoch ein« »weite Betrachtung. Heute noch gibt es Leute, die mit dem Worte Atheist eine beschimpfende Vorstellung glauben»femd- llcher oder gar unsittlicher Gesinnung verbinden. Weit »ahlreicher sind freilich, namentlich auf der politischen Linken, diejenigen,' die sich mit Stolz Atheisten nennen, jeden positiven Glauben als ver alteten, rückständigen Geisteszustand verspotten und sich als überlegene selbstsichere Denker fühlen. Partei- leidenschaft hier wie dort, und damit die Unmöglich keit klaren Abwägens auf eitlem Gebiete, da» mehr al» jede» andere Freiheit der Seele verlangt, sollen auf ihm Erkenntnisfrüchte geerntet werden. — In den Herbstwochen des Jahre« 1921 weilte ich am Bodensee und genoß wiederholt die hohe Freude de» Beisammensein» mit Fritz Mauthner. Seit langen Jahren wohnt er in der Näh« Meersburgs in dem Glaserhänsl«, von wo einst Annette von Dorste- Hülshoff ihren Dichterblick über die weite Fläche de» See« schweifen ließ. Sonnenüberglänzt lag er vor un», und ich sprach zu Mauthner von meiner Freude, hier gerade solche selten schöne Tag« getroffen zu haben. Da erwiderte er: „Bei un» gibt es im Jahre SOS schöne Tage", und die mild« Heiterkeit, die über legene Ruhe auf dem ausgearbeiteten Denkerantlitz gab die innere Gewähr de» Scherzworte». So ruhig-beglückt erschien vor mir der Mann, der damals noch an der Vollendung seine« Riesenwerkes „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" arbeitete. Nun liegt e« mit dem letzten de: vier Bände fertig vor, und die jüng sten Wochen wurden mir durch den erneuten geistigen Verkehr mit Fritz Mauthner dank diesem Werk be sonder» reich an Geisteofreude. So möchte ich auch meine Leser zu dieser Quelle ktnführea, ihnen -eigen, wie viel sie darau» an Be- lehrung und Genuß schöpfen können. Aber der Er füllung diese» Wunsche« widerstrebt dt« ungeheure Masse de» Tatsächlichen, die Fülle im besten Sinn« geistreicher neuer Formungen alter Begriffe. Des halb soll hier nur in der Kürze gezeigt werden, wes halb Mauthner diese» Derk schaffen mußt«, «1« er zu» Atheist«« wurde und wa» Atheismus für ihn bedeutet, Längst hatte er sich al» Zeitungsschreiber un gewöhnlicher Art, Verfasser vielgelesener Romane und vor allem durch die witzigen Parodien „Rach be rühmten Mustern" einen guten Namen im deutschen Schrifttum gewonnen, ehe irgendjemand davon erfuhr, daß dieser, scheinbar nur der Tagesarbeit hingegebene Schriftsteller daneben ein Forscherleben führte. Seit früher Jugend waren in ihm Zweifel an dem Wahr heitsgehalt der Sprache erwacht. Vier Männer hatten ihm da» Recht feiner sprachkritischen Gedanken be stätigt: Otto Ludwig mit seinen „Shakespeare- Studien", dir der Größe Schillers mit rücksichtslosen Zweifeln zu Leibe gingen und namentlich seiner schönen Sprach«; Friedrich Nietzsche mit ferner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Dom Nutzen und Nachteil der Historie für da» Leben" mit ihren Kämpfen gegen die Ibeenmythologie, gegen di« „Krankheit der Worte"; Bismarck mit seinem großartige? Realismus, der große Unhistorische, der. die Worte und das Wortwissen verachtet« und nur die Tat gelten ließ, und der Positivist Ernst Mach, der Befreier vom metaphysischen Wortaberglauben. Gegen diesen Wortaberglauben hatten unter den Philosophen schon so manche mit Erfolg angekämpfi: di« Nominalisten des Mittelalter» und die großen englischen Philosophen von Bacon bi» Hume. Mtt gewaltigem Kraftaufgebot arbeitete Mauthner sich in sie, in die Psychologie und Sprachwissenschaft hinein und gewann die radikale Skepst» seiner „Beiträge zur Kritik der Sprache", in drei starken Bänden 1901—1902, in zweiter Ausgabe 1906—1912, und seine« „Wörterbuches der Philo sophie", in zwei noch stärkeren Bänden 1910. Gegen die Grammatik ging e« zuerst, gegen die Logik an zweiter Stelle und in beiden wurden von den menschlichen Zufallssinnen abhängige Grund elemente erwiesen. Mit Hilfe der Sprache können wir immer nur erfahren, wa« die sogenannten Dinge für den Menschen sind. Wir besitzen gar keine Sprachmtttel, um är« zu bezeichnen, wa» diese Dinge etwa an sich sein mögen. Und doch ist Sprache unser einzige« Erkenntnis- Werkzeug. Denn wir die Ursachen unserer Seelen zustände erklären, wenn wir von Empfindung, Wille, Ich etwa« aussagen, sind do« Selbsttäuschungen, ebenso di« sogenannten Kulturgesetz« Ausflüsse der menschlichen Ordnungsliebe, welch« die Begriffe in > Gesetze um wandelt. Au» unserem Gedachtnü» stom- »«« A« Täuschungen bet Sprach»,' dt« wir «M natuen fllt «in BHüEMd Hr Welt Do» wir sür w.ihr halten, glauben, ist unser eigenes Erzeugnis. Mit Hilfe der Sprache können wir die Widersprüche nicht ausglrichen; denn sie sind nur in der Sprache, durch dt« Sprache da. Dir große Einheit mit der Natur läßt sich nicht durch Denken oder Sprechen entdecken, diese Einheit können wir fühlen, wenn wir leben ungetrennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur. Hier mündet die Eprachkritik Mauthner» in die Mystik ein und Mystik ist der Boden, aus dem sein letzte», bedeutsames Werk „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" erwuchs. Don dem Worte Gott geht hier alles aus, von dem Gott in den drei Bildern, die Mauthner da» Substantivische, Adjektt- visch«, Verbale nennt. Die substantivische Welt, die Welt de» Sein«, kann Götter und Geister nur al« unwirklich anerkennen, al» Mythen außerhalb von Raum und Zeit. Da« adjektivische Weltbild, das unserer Sinnesorgane, besteht eigentlich nur aus den Eigenschaften der Dinge, denen ein Gegenstand hinzugeglaubt, hinzu gesehen wird; sie ist also abhängig von den Zufalls finnen. Don einem Begreifen dieser Welt in ihrem eigentlichen Sein ist keine Rede; nur im Geschehen, in ihrem Werden können wir sie erfahren, und des halb kann es auch in ihr kein ewig Seiende» geben, Endlich die verbale Welt, die Welt de» Handeln», der Zwecke, ist eine rein beschreibend«, nicht erklärende, kann deshalb auch für da» Dasein Gotte» keine Be weise geben. Wahrheit, Gott, hätten wir, wenn wir die drei Welten zugleich besäßen; aber unser Verstand, unsere Sprach:, können niemals au» den drei Welten eine einzige, übermenschliche schaffen; nur al» Ahnung, al» Sehnsucht, fühlen wir die große Einheit und gott-los« Mystik da» heißt vom menschlichen Gottbegriff befreite Mystik, liegt al» ein Schoß vor un», in dem alle unsere Zweifel wie in einem großen Meere ertrinken. Die Menschen, die von jeher solche Zweifel gefühlt haben, sind die Atheisten tm Sinne Mauthner». Sein« großen vier Bänd« führen den Leser durch «in« lange Galerie, geschmückt mit den lebensvollen Bildnisse« solcher kühner Dahrhett»ringer seit dem Beginn der christlichen Zeit, seitdem jeder al» Atheist galt, der die Weliregierung durch die göttliche Vorsehung an zweifelte oder leugnet«, wobei bi, in die Gegenwart herein der Glaub« an den Teufel ebenso unbedingt wie der an Gott gefordert wurde. Bor °s«chra» ivaudert« ich einmal durch dt» Rhö» mit einem hochgelehrten katholischen Theologen, Religionoprofessor an den beiden Gymnasien einer großen deutschen Stadt. Auf meine Frage, ob c» nach seiner Ansicht heute noch möglich sei, daß ein Mensch mtt dem Teufel einen schriftlichen Vertrag über seine Seele schließe wie einst Faust, antworte»-, er: „Selbstverständlich; denn da der Teufel jede Ge stalt annehmen kann, so ist er auch dazu befähigt, und ein solcher Vertrag bindet genau so wie ein vor dem menschlichen Notar geschlossener." Dieser Teufelsglaube besteht nun freilich für viele nicht mehr. Jedoch der im ganzen genommtn gleich unbegründete Glaube an einen Goth den man dura» Gebet«, gute Werke, durch den bloßen Glauben an ihn sich verpflichten, mit dem man einen Vertrag über seine Seligkeit schließen könne, beherrscht noch immer die Mehrzahl der abendländischen M:nichen. Das höchst christliche Wort de« Juden Spinoza: ^Wcr Gott liebt, darf nicht verlangen, daß Gott cha wi:d:r liebe", führt au» solcher Tiefe hinauf zu der mysti- scheu Bereinigung, zu der Religion der inbrünstigen Ketzer, unter denen auch seit dem Mittelalter vre frömmsten Christen zu finden sind. Für ihre Nachfolger, die dann, kühner geworden, unter „Gott" nur noch die unbekannte letzte Ursache verstanden, wurden oll die alten Gottbeweise hin- fällig und ihr Gott wurde entweder das vrstofflichs oder da» Unendlich« oder da» Schaffende. Für Mauthner» Kritik bleibt auch davon nicht» übrig, sondern nur da» Weltgefühl, da» Einsgefühl der gottlosen Mystik, da» ganz gewiß auch ein „religiöses" Gefühl heißen darf, jenes Tao, da» vor 2600 Jahren dem chinesischen Weisen Loo-tse Aus- druck de» Wege» zum letzten Ziel und den ersten Grund de» Dege» und de» Ziele» bedeutete. Mauthner ver- deutscht in seiner Sprache diese» „Lao" durch ein« neutrale Silbe, durch „das" und mit diesem „das" endet sein große» Werk, dessen Leitwort heißen müßte: „Raine ist Schall und Rauch, umnebelnd Hiuuuelsglut." Auch er vergleicht immer wieder seinen Gott mtt dem Feuer, mit der Sonne. Ihr ewige» Licht strahlt wärmend und leuchtend durch diese Gabe eine» edlen, unermüdlichen, hoch- begnadeten Dahrheit»sucher». der am Donnerstag. 31, Rai. ftoittindenLe« stütt- fStzruna .Bardier von Ervilla" final Armin Seltner »um ersten Mal« d« ssiaccr». — «annum. L Sunt, kämmt im Neuen Neurer anstatt Noutasriu»« „DW Zauderflött" zur «ultsttzruu»
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