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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 23.05.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-05-23
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192305231
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230523
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230523
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-05
- Tag 1923-05-23
-
Monat
1923-05
-
Jahr
1923
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l-elprlger T'-gedl-tt mr6 M >A0 ?ette 3 Tanzplatte und Kernkonzert Damit war der Sprung vom politischen auf da» soziale Gebiet getan Er bedeutete die Zerschneidung de» Tischtuch» mit der Kortschritt»- partei. Hatte sich diese schon die Arbeiter au» den Fingern gleiten lassen, al» ihre Führer in Barlin den au» Leipzig erschienenen Arbeiter vertretern gegenüber sich weigerten, da» allge- meine Wahlrecht in die Partetforderungen auf zunehmen, so war nun geradezu ein Keil hinein geworfen in da» Lager der Fortschrittler, denn diese waren nur auf den politischen Kampf eingestellt. Die Erörterung sozialer Forderungen, so fürchteten die Führer vielleicht nicht mit Un recht, konnte und würde wahrscheinlich zu einem Zerfall der großen Partei führen Was die Organisation de» Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein» anbetrisft, so war sie völlig auf die Person Lassalle» zugeschnitten. Daß er zum Präsidenten (mit fünfjähriger Macht befugnis!) gewählt wurde, war selbstverständlich. Sein Name war immerhin in Deutschland be kannt, wa» man von keinem andern der Gründer de» Vereins sagen konnte. Denn wer kannte damals einen Vahlteich und Fritzsche, einen Aork und Audorf? Ihre Namen sind erst viel später in die Massen gedrungen, so der de» letzt genannten durch die von ihm gedichtete Arbeiter- Marseillaise. So blieb nur Lassalle al» Führer der neuen Partei übrig. Er entfaltete ungesäumt eine leb- hafte Agitation in Rheinland, Westfalen und auch anderwärts. Aber seine Hoffnungen auf einen ungeheuren Zulauf der Arbeiter erfüllten sich nicht- Anfang 1864 hatte der neue Verein nur 1000 Mitglieder, während Lassalle ein baldige» Anschwellen auf 100000 erwartet hatte Sein ehrgeiziger Traum, an der Spitze etne- Machtfaktor» zu stehen, erfüllte sich nicht. Miß gestimmt, wohl auch innerlich krank, begab er sich im Juli 1864 nach der Schweiz. Wenige Wochen darauf fand er im Duell seinen Tod. ES kann hier nicht der Ort sein, auf die poli tischen Folgen der heute vor 60 Jahren erfolgten Begründung des Allgemeinen Deutschen Arbeiter vereins näher einzugehen. Nur zweierlei sei be merkt: das gleiche, allgemeine und direkte Wahlrecht wurde kaum vier Jahre später ein geführt und der Lassalle-KultuS, der bei den „Allgemeinen Deutschen" lange Jahre in Blüte stand, wurde bei der Vereinigung der beiden sozialistischen Parteien (Lassalleaner und Eise nacher) zu Grabe getragen. Die historische Bedeutung des 23. Mai 1863 steht aber unverrückbar fest. Und Leipzig wurde an jenem Tage die Wiege der sozialistischen Arbeiterbewegung Deutschlands. ** Antomobtlnngliick in vav Elfter. Das Auto mobil des Plauener Gardinenfabrikanten Gustav Langer fuhr auf der Heimkehr von Bad Elster unweit de» Dorfes Oberlosa so unglücklich gegen einen Baum, daß der Wagen vollständig in Trümmer ging und die Insassen herausgeschleudert wurden. Sie trugen mehr oder minder schwere Verletzungen davon. Zwei Straßenpassantinnen wurden so schwer angefahren, daß eine auf der Stelle getötet wurde, während die andere schwere innere Verletzungen davontrug. Der dnnkle Punkt in ihre« Leben. Thüringischen Zeitungen wird aus Schmölln erzählt: Hier suchte ein einheimisches junges Mädchen da» Krankenhaus aus und tng» darauf meldete mit kräftiger Stimme ein kleiner — Neger seinen Eintritt in die Welt. Man staunte; die junge Mutter staunte mit. Man forschte, aber unsere Landsmännin konnte sich auf nichts besinnen. Erst allmählich dämmerte es ihr: Richtig! Da war ja vor dretvtertel Jahren ein Meisterschaftsboxer im BarietS, ein schwarzer Boxer. — „Bleibt denn die Haut so?" - „Die ist waschecht!" bestätigte der Die neue Spielbank i« vab Gastein. Nach dem die Verträge zwischen den österrchchischen Behörden und einem Konsortium zur Errichtung einer Spielbank in Bad Gastein unterschrieben sind, werden die Räumlichkeiten für Spielsäle usw. erbaut. Da» französische Konsortium, da» die Spielbank errichtet und an dessen Spitze Fürst Colloredo steht, hat dem bisherigen Direktor der Spielbank von Monte Carlo die Leitung der Spielbank in Bad Gastein übertragen. Denken Sie sich ein niedrige«, mittelgroßes Zimmer, kaum sechs Quadratmeter im Geviert. Wände und Decke mit Brettern verschalt, eine fensterlose Zigarrenkiste, ein Resonanzraum, in dem jede« Wort zehnfach verstärkt widerhallt — denken Sie sich in diesem Raum zusammengedrängt etwa vierzehn Musiker, ein volles Orchester mit zwar nur vier Streichern, doch zum Ausgleich nebst den Holzbläsern mit Trompete, Posaune und Baßtuba ausgerüstet; dazu ein Klavier, ein Harmonium und Schlagwerk in schwerer Menge — und denken Sie sich dieses anderthalb Dutzend Unglücksmenschen aus Leibeskräften streichend, blasend, paukend, Bässe markierend, daß einem der Boden unter den Füßen wackelt, stundenlang denselben, denselben, denselben Shimmy — ja, so erfreut Musik de« Menschen Herz. Auf daß sie die Herzen und noch mehr die Beine recht vieler erfreue, wird eingeschachtelt im Betrieb eines vielstöckigen Treptower Fabriksgebäude« — und wahrscheinlich an noch zahlreichen anderen Or ten Groß-Berlins — täglich diese» Höllenspektakel produziert. Aus der einen Wand ragt durch eine Oeffnung ein riesiger Trichter in den Bretterraum hinein, und dahinter wird das Getöse auf Flaschen, pardon, auf Platten abgezogen, nach denen näch stens zu Tee oder Bier getanzt werden wird. Kein Kaffee, keine Bar, kein tanzlustige« Privat- Haus — und mag e« sonst noch so musikalisch geartet sein — das heute sein Gramms., Parlo- oder Roto- phon entbehren kann. In reizende Kleinmöbel, in Truhen, Schränkchen, Tischchen eingebaut steht es harmlos in der Eck«, der diskrete, unermüdliche, stet» bereite, ideale ,Tapeur"-Lrsatz. Und die wenig, sten jungen Herrschaften, die foxtrott-lustig eine Platte nach der anderen unter die feine Nadel schie ben, ahnen, welche Arbeit, welche Mühe, wieviel künstlerische Selbstverleugnung es braucht, bis das Musikstück im weichen Wachs soweit -sitzt", um zur Vervielfältigung brauchbar befunden zu werden. Die Akkuratesse, mit der so ein Tanzstück für die Grammophonaufnahme einstudiert wird, wirkt aus den gelegentlichen Besucher von philharmonischen Orchesterproben erstaunlich. Allein die Aufstel lungen der einzelnen Instrumente im engen Raum ist das Resultat sorgfältigster akustischer Er wägungen; die Richtung, die Entfernung jeder Schallwelle zum Aufnahmezentrum ist genau be- rechnet. Nickt nur horizontal, sondern auch vertikal; die Notenpulte hängen wie Zuglampen von der Decke, und die Musiker davor sitzen auf einem Ge- wirr von verstellbaren Gerüsten, deren Höhe für - jedes einzelne Instrument nach den Regeln einer anscheinend hochentwickelten Grammophons-Empirie bestimmt wird. Der Klavierspieler turnt auf Lei- tern zu seinem Pianino hinauf, der Klarinettist stößt mit dem Kopf beinahe an die Decke; da» Blech ist schon tiefer postiert und ganz unten, hinten, in der Ecke, brummt die Baßtuba ihren wenig abwechs lungsreichen Part. Unmittelbar vor dem Trichter steht die junge Dame, die diesmal den verantwortlichen Posten des -Diolin-Con-uktor" versieht. Ihre schlanken Beine vibrieren im Takt, dem ihr temperamentvoller Bogen sugaestiv heurigen Rhythmus zu verleihen sich be- micht — sie wird wohl bald auf ihr eigenes Spiel tanzen. Es ist nicht lange her, daß ich sie auf dem Podium des Beethoven-Saales mit den Problemen einer Bach-Sonate kämpfen hörte — und die Bläser diese» Lärmorchesters sitzen in der Staatskapelle, vielleicht hat der Oboist vorgestern abend Tristan» -Traurige Weise" geblasen . . . Hier spielen sie alle -Zeig mir mal dein Muttermal . . ." Sind sie je zwei-, dreimal durch, wird eine Probeaufnahme ge. macht, und, nach wenigen Minuten kurbelfertig, auch gleich vorgeführt. Atelierdirektor, Operateur, Primgeigerin stecken die Köpfe zusammen; das Ritar- dando der vierten Wiederholung ist nicht gelungen, das Fagott war im achtundzwanzigsten Takt unrein, die Stimme des zweiten Geigers klingt verwischt, er muß zehn Zentimeter Brett mehr unter die Füße bekommen. Ls heißt von vorne anfangen, oft und ost noch, mit einer musikalischen Aufmerksamkeit und einem Aufwand von Nervenkraft, die man lieber einer besseren Sache zuqewendet wüßte. Endlich wird gemeldet: -Achtung! Aufnahme!" Und nach dem letzten, infernalischesten Kraftaufwand, bei dem der Schlagmann Becken und Tylophon beinahe kaput haut, können sich die schweißtriefenden Künstler ihren Frühstücksstullen widmen, bis die nächste Nummer: -Tango-Argentino, Souvenir de Rio de Janeiro" an die Reihe kommt. Es ist keine leichte Arbeit, die der Musiker an diesen Stätten der Musikmechanisierung findet; aber ihr finanzielles Aequivalent ist hoch, und es ist trotz allen künstlerischen Bedenken, die sich solcher, dem Filmen der Schauspieler völlig analoger Betätigung entgegenstellen, zu begrüßen, wenn neue Verdienst möglichkeiten an die Stelle der alten, erschöpften, schon längst ungenügenden treten. Die letzte Saison hat in erschreckender Deutlichkeit daran gemahnt, daß in Deutschland eine Existenz auf rein künstlerisch^ musikalische Dysis zu gründen, ein unverantwort liches Luxusunternehmen ist; hochwertige Orchester zerfallen, das Opernwesen desorganisiert sich, der Konzerthunger der Massen läßt nach, Ueberarbci- tung, Derkehrsschwierigkeiten, Nebenspesen lähmen den Besuch künstlerischer Veranstaltungen, der Mit telstand kann seinen Kindern keinen Musikunterricht mehr gönnen. Der Musiker aber muß leben, und weniger als jeder andere taugt er dazu, neben dem eigentlichen Beruf, der ihn innerlich erfüllt, noch einen anderen zu ergreifen oder gar ganz umzusat teln. So ist er dankbar, wenn technisches Unter nehmertum ihm unter die Arme greift und ihm für seine Arbeit neue Absatzgebiete eröffnet. Die Technik aber mit ihren Platten und Apparaten bemächtigt sich der Musik, läßt sie, die nicht immer Erhebende und Erschütternde, doch- stets Erheiternde, Erleich ternde, durch Millionen winziger Kanäle auf weite menschliche Gesellschaftsgebietc rieseln, die sonst dürr blieben auch an jener bescheidenen Freude, die ein gut gespielter Tanzrhythmus dem Alltag zu scheu- ken vermag. Die Tanzplatte bringt Musik ins Haus, in dem nie jemand genug Tonleitern geübt hat, um auch nur den leichtesten Walzer herunterzuklimpern; solcher Häuser wird es in den nächsten Dezennien in Deutschland viele, unzählig viele geben. Doch die Apparate sind kostspielig, und schon bisher konnte sich mancher, dem die Natur keine Stimme verliehen, nicht in seinem Heim von Caruso und anderen Größen vorsingen lassen. Nun aber haben sich drei -Musiktechniker", die schon von ihren Versuchen mit? dem -akustischen Film" bekannten Masolle, Pogt, und Cngl, zur Aufgabe gestellt, durch elektrische Schallübertragung ein „Fernkonzert" zu schaffen, das mittelst eines einfachen, telephonähnlichen Auf- nahmeapparates es jedem einzelnen ermöglicht, in seinem häuslichen Lehnstuhl eine Musik zu hörens die vom Künstler irgendwo, weit, weit weg, produ»" ziert wird. Die Idee facher Musikübertragung mit oder ohne Draht ist nicht neu, die neue deutsche Er- findung — sie wurde kürzlich als erstes Berliner -Fernkonzert" in der Hochschule zur Diskussion ge stellt — scheint sich von den früheren aber haupt sächlich dadurch zu unterscheiden, daß sic keiner Hör muschel für das Ohr des Empfängers bedarf, son dern die Musik aus unsichtbarer Quelle gleichmäßig durch den Raum strömen läßt. Auf die Frage, ob derartige Uebertragungen einer wirklich erstklassi gen Kunstleistung je auch einen tiefgehenden, kllnst- lerischen Eindruck zu erzielen imstande sein werden, gab die Vorführung freilich noch keine endgültige Antwort. Nach Ucberwindung kleiner technischer Unvollkommenheiten, die der Erfindung noch anzu haften scheinen, wäre es nicht uninteressant, einmal den Versuch etwa des Kreislerschen oder des Buso- nischen -Fernspiels" zu wagen und seine Wirkung mit jener zu vergleichen, die das persönliche Auf treten dieser Künstler auszulösen pflegt. Sisal« SsIttsn-SottZ (Berlin) Lltttvock, äeu 23. Vie Gründung des Allg. deutschen Arbeitervereins Km 23. Mai 1863 in Leipzig „Lassalle, Dr. jur., au- Berlin, Hotel de Baviere." So kündete die Fremdenliste am 23. Mai 1863 an, daß der Träger dieses Namens am vorhergegangenen Tage in Leipzig etnge- troffen und in dem eben genannten Hotel in der PeterSstraße abgestiegen sei. Die Leipziger werden sich an jenem Tage blut wenig darum gekümmert haben. ES war der Psingstsonnabenv, und da hatte man den Kovs mit Ausflugsgedanken voll, so daß wirklich wenig Lust und Zeit übrigblieb, sich um irgendeinen etnaetroffenen Fremden zu scheren — und wenn es selbst ein Ferdinand Lassalle war. Nur in einem verhältnismäßig kleinen Kreist war sein Name damals in Deutschland bekannt. Immerhin hatte sich Lassalle durch Streitschriften, die sich mit der aufkeimenden Arbeiterbewegung beschäftigten und durch die Kühnheit ihrer Schlüsse und Folgerungen Aufsehen erregten, ein gewisses Ansehen erworben, und er gehörte wahrlich nicht zu denen, die man über die Schulter ansah. Die Arbeitervereine verschiedener deutscher Städte, soweit sie einer radikaleren Richtung huldigten, als sie damals in der allmächtigen deutschen oder preußischen Fortschrittspartei zu finden war, hatten daher ihr Augenmerk auf ihn gerichtet und ihn zu ihrem Führer auserkoren. Zu dieser Gruppe kam Lassalle nach Leipzig in der sicher schon vorher getroffenen Verein barung, das Führeramt in der zu begründenden neuen Arbeiterpartei zu übernehmen. Er erlebte sicherlich zunächst eine Enttäuschung. ES waren nur 14 Delegierte, die sich am 23. Mai 1863 als Vertreter aus 11 Städten im „Colosseum", dem jetzigen „Pantheon" in der Dresdner Straße, ein gefunden hatten. Eine geringe Zahl, aber die Vertreter dünkten sich sehr machtvollkommen und so ging man denn an die Beratung des vor liegenden Statutenentwurfs. Nach vierstündiger Arbeit war das Werk getan: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. Eine Abendfeier schloß sich den Beratungen an. So bedeutsam die Gründung war und für die Folge sich auswirken sollte, so handelte e» sich doch eigentlich nur um den Schlußakt eine- schon geplanten Vorgehens. Bereit» einen Monat vor her, am 23. April 1863, hatte der 23jährige, aus Leipzig stammende Schuhmachergeselle Juliu» Vahlteich im Auftrage einiger weniger Ar- beitervereine einen Aufruf erlassen, in dem er die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter vereins ankündigte und mitteilte, daß er bi» zur Gründung den Vorsitz provisorisch führen werde. Der zugleich veröffentlichte Statutenentwurf (von „Satzungen" sprach damals noch kein Mensch) besagte in seinem ersten Paragraphen: „Unter dem Namen Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein begründen die Unterzeichneten für das deutsche Bundesgebiet und die Pro vinzen Ost« und Westpreußen einen Verein, welcher, von der Ueberzeugung ausgehend, daß nur durch das allgemeine Wahlrecht der deutsche Arbeiterstand eine genügende Vertretung seiner Interessen in den gesetzgebenden Körper schaften Deutschlands erlangen kann, den Zweck verfolgt, auf friedlichem und legalem Wege, ins besondere durch das Gewinnen der öffentlichen Ueberzeugung, für die Herstellung de- allgemei nen Wahlrechts zu wirken." Bei der vier Wochen später stattfindenden endgültigen Statutenberatung wurde das Wert „Bundesgebiet" in Bundesstaaten abgeändert, wodurch die außerhalb des Bundesgebiets liegen den Provinzen von selbst einbezogen wurden. Dann aber wurde der Satz von der Interessen vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften ausgemerzt und durch folgenden ersetzt: „daß nur durch das allgemeine Wahlrecht eine ge nügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte I Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werben kann ..." j Aus den Notizen eines Schulmannes Don Oberschulrat »k Ssuells (Leipzig) Der bekannt« Leipziger Pädagoge Ober- ftudienrat Pros. Dr. Hugo Gaudtg (atzt dem nächst ein ganz eigenartiges Buch, .WaS mlr der Tag brachte", erscheinen, das sich von den theoretischen Schritten des Pädagogen ivrsent- lich unterscheidet. Gaudtg vevsucht hier, sich über das TageSerlebntS des Lehrers Rechen- schatt zu geben und aus den täglichen Ein drücken den LebenSkretS der Schul« zu um schreiben. Aus den Druckbogen, die uns der «erlag B. G. Teubner, Leipzig, zur versügung stellt, entnehmen wir die folgenden Proben: Wie mich meine Freundin Gerda zum ersten Male enttäuschte. Gerda ist 9 Jahre alt und eine von den Schüle rinnen, mit denen ich mich gern auf dem gemein- samen Schulweg unterhalte. Ich liebe den unmittel baren Verkehr mit unseren Schülerinnen. Und Gerda ist gescheit, hat gesunden Menschenverstand und ein« sH»r bewegliche Zunge. Wir resten sehr klug miteinander; sie wenigstens mit mir; von der Schule zunächst und dem, was Gerda erlebte; Gerda erlebt nämlich viel, denn sie ist mit ganzer Seele Schulkind. Wir reden aber auch von anderem, denn da» möchte ich ja u. a. wissen, wie sich in unseren Schülerinnen da» freie Weltbewußtsein neben dem Schulbewußtsein behauptet und entwickelt. Schlimm nämlich, wenn das Schulbewußtsein alle» aufsaugt. Wir reden von Gerda» Hauswelt; ist sie in gutem Zuge, und das ist sie meist, so kann ihr Erzählen 1 Kilometer (Tempo anäants) dauern; unser gemein samer Weg ist 1 Kilometer lang. Gern hatte ick an Gerda vor allem ihr ausgesprochenes Klassen-Dir- Bewußtsein. Wir pflegen e» in unserer Schule gründ- sätzlich, diese» Wir-Bewußt sein der Klassen, al» eine der wesentlichen Vorbedingungen de« sozialen 2eben», zunächst de« sozialen Leben« der Klaff« und dann de» loziqlen Leben» da draußen. E» bedarf allerdings feiner Erziehungskünst« zur Pflege diese» Wir-Bewußtsein» Gerda besaß ein kräftige» Lin- heitsbewußtsein; -wir, die 8»"; vielleicht gelegentlich mit einer kleinen gegensätzlichen Beton»..»- ge sprochen, weil da» Wir-Bewußtsein der 8a sich ein wenig auch am Gegensatz zum Nicht-Ich der 8a, der Parallelklasse, der 8b, entwickelt. Und nun meine Enttäuschung. Eines Tages sagte Gerda: -Ja, ja, ich glaube, in den und den Fächern bin ich die Beste." Arme kleine Freundin, da hat dich der Teufel des Ehrgeizes gepackt; vom Wir-Bewußtsein war, als du so sprachst, nichts zu spüren; du dachtest: ich — di« andern. Arme Gerda! Grenze der Langweiligkeit. Lin dummer Gedanke schoß mir durch den Kopf, als ich heute im Geiste des Schülers über di« Schule nachdachte. Ls scheint mir nämlich eine heilsame Lehrerübung, wenn wir uns öfters au» unserem Geiste in das Seelenleben des Schülers eindenken und einfühlen, um sein Urteil über die Schule, sein Schulgefühl, seine Schulstimmung, seine Schul- gesinnung zu erkennen. -Des Schülers" — ja welches? Nun meinethalben des Schülers, wie wir ,hn wünschen, des Musterschülers. Auch in seinem Seelenleben werden wir etliches finden, was für uns wichtig ist. Besser vielleicht noch des Schüler», wie er im Durchschnitt ist. Oder auch des Schüler» ohne alle wertvolle Schulgesinnung — de« Rüpels. Vielleicht sind aber viele von uns hierzu unfähig. Der -dumm« Gedanke", von dem ich sprach, stammt auch nicht au» einem Rüpelkopf, sondern au» einem Kopf mit durchschnittlicher Schulgestnnung: -Sollten wir Schüler nicht da» Recht auf eine Grenz« der Langweiligkeit in der Schule haben? Wenn diese Grenze überschritten wird, müßten wir Einspruch er- heben können." Ich wurde beinahe ärgerlich auf meinen Durchschnittsschüler. Da fiel mir aber de» Dergiliu» Maro Aenei« «in und meine Obersekun- daner-Erl«bniffe mit ihr — und ich konnte meinem Schüler nicht so ganz unrecht geben. Solch« Lvinne- rungen — an einen Dichter: Entweder war ich de« Einleben» in de» Dergiliu» Dichtwerk unfähig (faul «ar ich laut meinem Zeugnis nicht), oder die» Dicht werk war kein Dichtwerk. Einfall während einer Prüfung. Ander« vierden denselben Gedanken läimst gedacht Hecken. Mir aber kam er al» ein Einfall ziemlich überraschend. Mir fiel e« ein: von den Mitgliedern der Kommission der Abgangeprüfungen (Abituria, Kandidatinnenprüfungen usw.) wird kaum einer in ganz Deutschland, dem klassischen Lande der Schulen, die Prüfung selbst bestehen können, bei der er als Richt«r, vielleicht gar Oberrichder waltet. — -Und was beweist das?" — Nichts gegen die Prüfenden (Doktoren, Professoren, Schulräte, Geheimräte), aber — sehr viel gegen die Prüfungen. Mein Standesgefühl. Wenig hasse ich in unserem gesamten Kulturleben so, wie das St^rndestum der Lehrer, der aka- demiscken wie d« Volkeschullehrer. Gewiß, jawohl. — Iq weiß recht gut, daß Zusammenschlüsse der Berufsgruppen und also auch der Lehrerschaft not wendig und in gewissem Maße auch erwünscht sind. Aber wenn die Zusammenschlüsse di« Form an nehmen, die in Deutschland das Standestum der Lehrer annimmt, dann muß sich der schärfste Wider- spruch aller derer erheben, die — mögen sie inner halb oder außerhalb des Lehrerberus« stehen — der deutschen Lehrerschaft die unbedingt von ihr zu fordernde Kulturwirksamkeit sichern wollen. -Deutsche Lehrerschaft?" Die gibt es ja gar nicht; wenn man darunter nicht die Summe der Polksschullehrerschaft und der akademischen Lehrerschaft verstehen will. Keinessall» ist -deutsche Lehrerschaft" ein durch ein Einheitsbewußtsein zusammengehaltence, durch ein großes Einheitaziel in eine Grundrichtung gelenkte» Ganze. Ein schroffer Zwiespalt, ein scharfer Dualismus trennt Volkeschullehrer- schäft und akademische Lehrerschaft, und von einer gweieinheit, einem Linswerden über Unter- schiede weg, einem Linowerden etwa in dem Ge- danken der Volk«erziehuna spür« ich nicht». Ls kann ja auch zu keinem Ltnheitsbewußtsein, noch viel weniger zu einem Linheit«gefühl, am wenigsten zu einem Einheitswollen und am allerwenigsten zu dem höchst nötigen Einheitswirken kommen, wenn man sich gegenseitig von d«m, wa» in untrennbarer Lin- Heu zum brauchbaren Lehrer gehört, Stoff- beherrlchung und Formbeherrschung, da» eine oder da» andere abspricht. So ist denn Dem Stande«- bewußtsein der beiden Lehrerschaften — ander» kann ich nicht sagen — al» ein wesentlich«, Merkmal der Gegensatz gegen di« ander« B«rus»grupp« eigen; da» Standesbewußtsein ist ein „halbiertes" Standes, bewußtsein. Erziehung der Erzieher. Straßenerlebnis. Ein Vater schlägt seinen etwa vierjährigen Zungen mit harter Hand an den kahl geschorenen, seines natürlichen Schutzes beraubten Kopf, augenscheinlich in einem Anfall von Jähzorn-, ohne ernsten Grund. Ich wollte dem Jungen bei springen. Ehe ich dazu kam, fährt ein Radler an der pädagogischen Gruppe durch und ruft ohne Haft in lehrsamem Ton: „Wenn er nichts taugt, hau'n auf den . . ., nicht an den Kopf." Weg war er; augen scheinlich gehörte er dem Arbeiterstande an. Heil dir, Erzieher der Erzieher. Deine c-stke<sra gefiel mir. So muß dos Volk sich selbst zur Erziehung er- ziehen. Etwas erzogst du auch mich: zu größerer Schnelligkeit im Schützen der Jugend. Was mir der Tag täglich bringt. Etwas sehr Merkwürdiges. Für ein Pädagogen wenigstens. Nämlich den täglichen Widerspruch meiner Frau. Nun, wird man sagen, das kommt bei Pädagogen ja auch sonst vor und ist, so merkt viel leicht ein Weiser an, ein Ausgleich dafür, daß der Lehrerpädagog in der Schule ein so unwider sprochenes, so widerspruchsloses Dasein führt. Ganz recht; aber das Eigentümliche meines Falles ist noch nicht ausgesprochen. Der Widerspruch meiner Frau richtet sich gegen die Schule. -Schlimm für Sie", wird man sagen. Und: „Wo bleibt denn Ihre Dialektik? Müssen Sie etwa zu Hause schweigen?" — Nein; ich? rede auch tapfer für die Schule. Aber leider ist da ein stupimer Widerspruch, mit dem ich schlecht fertig werde: dieser stumme Widerspruch ist das Dasein, da» geistige Dasein eben dieser Frau. Sie war niemals in einer Schule; sie hat auch nie mals geregelten Privatunterricht — ge-nosssn (sagt man da wohl). Sie ist Autodidaktin. Stephan Wätzoldt, gewiß ein unverächtlicher Gutachter, meinte, nachdem er sich mit ihr gegen zwei Stunden über romantische» Schriftentum unterhalten hatte, zu mir: „Ja, ja, die Schule, die Ihre Frau nicht gehabt hat, ist ihr gut bekommen." — Mir aber ist bis auf diesen Tag die» ganz ungeschulmeisterte geistige Dasein neben mir ein Warnung vor zuviel Schulmeister« lichkeit. _
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