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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 22.04.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-04-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192304226
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230422
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230422
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-04
- Tag 1923-04-22
-
Monat
1923-04
-
Jahr
1923
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SoavlLg, 6ea 22. April l-etprfger l'sgedlatt uaü »Loäelsreltuag «r. 96 Seite S —-—— ' . >:^- r.:n—- —— ^s^eskerickt prügel und Erziehung Da, neue sächsische Schulbedarfsgesetz ver bietet die Anwendung der Prügelstrafe. Alles Neue, sei es auf dem Gebiete des sozialen Lebens, sei es in der Kunst, wünscht einen scharfen Gegensatz zu dem bereits Bestehenden und Gebrauch- lichen zu bilden. Aber sehr bald erfahren die neuen Formen das völlige Unverständnis gerade der Kreise, die sie beeinflussen wollen, und erkennen so, daß sie sich werden anpassen, einen Teil des „Noch-nie-Da- gewesenen* nblegen müssen, um wirken zu können. Die Notwendigkeit einer langsamen Entwicklung kennt jeder Mensch, ebenso wie ihn die Erfahrung darüber belehrt, daß ein Gegenstand, und sei er noch so häßlich, keineswegs schöner wird, wenn man ihn in Trümmer schlägt. Welcher Erwachsene bewahrt nicht in einem stillen Winkel seiner Erinnerung den schreckhaften Eindruck der Prügel, die er selbst einmal vor vielen Jahren empfing, oder auch nur austeileu sah? Er kann sich genau des starken Gekübles der Abneigung, des Trotzes dem Strafenden gegenüber erinnern, der so — vielleicht nicht äußerlich, bestimmt aber innerlich — genau das Gegenteil von dem erreichte, was er durch Hiebe beabsichtigt hatte. Ein großer Teil der Straffolgen blieben auch noch im Gedächtnis. Das geprügelte Kind beginnt Ausreden zu suchen. Je unwahrscheinlicher diese sind, um so leich ter glaubt man sie ihm, denn wenige wissen von der großen Phantasie. So erreicht der Stock nur die Lüge. Das ist alles bekannt. Und trotzdem mußte erst ein Gesetz kommen, die Menschen davon zu über zeugen, daß in der Erziehung durch Gewalt nichts zu erreichen ist, daß es nur eine Möglichkeit gibt, das Kind nicht zum trotzigen Lügner werden zu lassen: indem man nämlich ein langsames Emleben in das geforderte Neue erleichtert. Der Staat nun, der nicht mehr die Absicht hat, demütige Untertanen und verängstigte Rekruten heranzuzüchten, der aufrechte Menschen und dem Gesetz frei gehorchende Bürger will, nimmt den Stock aus der Hand des Lehrers. Endlich wird erkannt, daß zum Bürger Selbstbewußtsein gehört, und daß es nichts Gefährlicheres für die nächsten Generationen gibt, als die Verletzung des Selbstgefühles in der Jugend. Dem kleinen Freistaat Sachsen ge bührt das Verdienst, der Schrittmacher einer Ent wicklung zu sein, die sich jetzt wohl nicht nur auf die Schule erstrecken, sondern auch das Elternhaus be einflussen wird. Sek»—-r „Gut deutsch* im Eisenbahnverkehr. Der Reichs- Verkehrsminister hat dem Reichsbahnpersonal ke- kanntgegeben, daß er besonderen Wert auf eine klare, reine Amtssprache legt. Er empfiehlt, sich der Hilfe des Allgemeinen deutschen Sprachvereins, der sich für diese Zwecke gern bereit erklärt, zur Begutachtung beim Erlaß allgemeiner Dienstanweisungen und Be kanntmachungen an die Öffentlichkeit zu bedienen. Ein Gemäldediebstahl. Aus dem Ausstellungs gebäude an der Brühlschcn Terrasse in Dresden K-r «tune /ollber/e/ref/ kommt in lüesen um cken Ms.'-Äbss-fe/s ernrukarsieren. KcektreitiAe Z^neucrunqempFe/üt -icii, äaniit keine An^erbreckunF eintrirt. A« »ei ckarau/' /uNAcuresen. cka/Z einte-itt, »ouckein äe/- LeruFsxr cis llrrseibe bteidt > wie im .l/-rit. wurde ein Oelgemälde von Rudi Scheffler, hol- ländische Fischer mit roten Jacken darstellend, in schwarzem Holzrahmen, im Werte von ZOO OOO Mark gestohlen. Ermäßigung der Gaspreise. In Löbau wurde der Gaspreis, der im März 700 Mark betrug, für April auf 600 Mark pro Kubikmeter herabgesetzt. Auch Netzschkau läßt eine Ermäßigung des Gas- Preises um etwa 8 Prozent der im März berechneten Sätze eintreten. Bootsunglück. Auf der Außenalstcr in Hamburg, querab der Brücke Mundsburg, verunglückten vier Personen, die sich in einem Mietsboot vergnügten, dadurch, daß das Boot kenterte. Herbeieilenden Seglern und des Insassen anderer Fahrzeuge gelang es, drei der Verunglückten zu retten. Ertrunken ist leider die angebliche Johanna Froh, deren Leiche bisher nicht geborgen werden konnte. Vie Trauerfeier für die Opfer des Slugun-lücks Jin Berliner Stadthaus, das wie alle anderen städtischen Gebäude halbmast geflaggt hatte, fand am Freitag mittag eine gemeinsame Traucrfeicr für die bei den; Flugzeugabsturz auf dem Tempelhofer Feld tödlich verunglückten Magistratsbeamten, den Stadt verordneten und Stadtrat Karl Bötzer, den Ver- waltungsdirektor Georg Vogdt und den Oberverkehrs, inspektor Otto von Mezynski, statt. Oberbürgermeister Böß sprach von dem weitreichenden Fortschritt der Wissenschaft und den glänzenden Leistungen der Jngenieurkunst, die die Welt zu nie geahnten Er folgen geführt, aber auch Opfer über Opfer gefordert hätten. Ein furchtbares Unglück, herbeigeführt durch eine Verkettung von Zufällen, habe diese drei Männer hinweggerafft, als Vertreter der Bürgerschaft Berlins und der Behörden die Stelle schauen wollten, die der Mittelpunkt des deutschen Flugwesens in naher Zu kunft werden sollte. In treuer Pflichterfüllung, im Dienste des Fortschritts der Menschheit hätten diese drei Männer ihr hoffnungsvolles Leben gelassen. Der Vorsteher der Stadtverordnctcn-Versammlung Dr. Caspari gedachte dann im Namen des Stadt parlaments in tiefempfundenen Worten des dahin gegangenen Kollegen und der beiden treuen Beamten der Stadt. Für das Bezirksamt Prenzlauer Berg, dem Stadtrat Bötzer angehörte, sprach Bürgermeister Jahn. Dann wurden die Särge unter den Klängen des Philharmonischen Orchesters hinausgetragen. Sechs Milliarden polnische Mark unterschlagen. In der Filiale der Polnisch-franko-belgischen Bank in Lodz, die eben organisiert wird, ist eine große Ver untreuung verübt worden. Der Beamte Fleischer, der von den englischen Aktionären entsandt wurde, hat, wie polnische Blätter berichten, 30 000 Pfund Sterling (6 Milliarden polnische Mark) defraudiert. Fleischer ist aus Lodz verschwunden. Erinnerungen an den Prozeß gegen Graf Metter nich, der des Betrugs und Falschspiels angeklagt war, werden wachaerufen durch eine aus Meran kommende Nachricht, daß die Gattin des Hoteliers Schrott, Dolly, geborene Pincus, durch Selbstmord aus dem Leben geschieden ist. Die jetzt Verstorbene war die Tochter der unter dem Namen Truth be kannten Romanschriftstellerin, die in erster Ehe mit Bankier Pincus und in zweiter Ehe mit dem Waren hausbesitzer Wolf Wertheim verheiratet- war. Dolly Pincus war in erster Ehe mit dem Schriftsteller Arthur Landsberger verheiratet, die Ehe wurde aber später geschieden. Bald darauf verheiratete sich Frau Dolly mit dem Hotelbesitzer Schrott aus Meran. Im Prozeß Metternich erregten die Aussagen der jetzt Verstorbenen als Zeugin großes Aufsehen. Das Geheimarchiv Nikitas aufgefunden. Nach einer Meldung aus Ceti nie wurden dort vier große Kisten mit Wertgegenständen, die dem ehe maligen montenegrinischen Hof gehörten, aufgefun- dcn. Bei dieser Gelegenheit wurden auch einige Koffer mit Schriftstücken vorgefnnden, die sozusagen das politische Geheimarchiv des verstorbenen Königs Nikita darstellen. Diese Kisten wurden gelegentlich der Flucht des montenegrinischen Hofes im Jahre 1916 vergraben. Volkskirche und Kirchenvolk Aus kirchlichen Kreisen geht uns folgendes zu: Jean Paul sagt einmal: „Ein junger Geist muß in ungebundener Freiheit austönen, sonst ist er eine Glocke, die auf dem Boden aufsteht und nicht eher ertönen kann, als bis sie unberührt im Freien hängt.' — Es ist wahrlich nicht die neue Kirch- gemeinde-Ordnung, die dem Kirchenvolk ein lenzen des Erwachen vermittelt, es ist wahrlich nicht die konsistorial betriebene Bischofswahl des ostfriesischen Pfarrers und nachmaligen Dogmatikers an der Landesuniversität, welche das Kirchenvolk zu froh gemuter, volkskirchlicher und zeitgemäßer Zielstrebig, keit völlig stimmt, sondern es quillt mit ungestümer Willenskraft aus der durchlebten Zeiten Schoße in allen Gemeinden hin und her ein Neues, Reform«- torisches, Christozentrisches hervor, das seinen Ouell im seelisch-tiefen Erleben und Durchleiden der deutschen Menschheit hat, aus einer Volksseele, die die Wogen der Revolution des Staates überglitten hat, einer Menschheitsseele, die sich in der Lebens- und Lcidensschule der Gegenwartsmenschen zur Reife- Prüfung mannhaft rüstet und die lebensnotwendige, historische Wandlung durchschreitet, deren Gang von der politischen Revolution zur kirchlichen Reforma- tion über kurz oder lang führen wird und muß. Johannes Müller setzt als Uebergangsnotwendigkeit eine durchgreifende „Revolution der Seele* voraus. Keine Zeit kündet das schöpfungsgroße und lebens starke: „Stirb und werde" so gewaltig-ernst wie die sich auswirkende Gegenwart. Soll es wirklich zu einer Dolkskirche noch kommen, so muß das Kirchen- voll handeln und nicht auf irgendwelches Handeln der Kirchen behörde harren. Ein Kirchenvolk, ins angstvoll oder nach Vorkricgsart mit stummer, „gläu biger" Ergebung zur Kirchen b e h ö r d e aufblickt, ist geistig und geistlich tot. Jede Kirchcn-Reforma- tion birgt demokratische Keime und Kräfte in sich, die nach Gestaltung drängen. Darum tut's not, daß nunmehr volkskirchlich beseelte Kreise Hand ans Werk legen und in der persönlich erkannten und er schauten innerlichsten Erneuerung im Christusgeist die Volkskirche dergestalt auf- und ausbauen, daß sich der Gegenwartsmensch nicht mehr an Formen und Formeln der Kirchenlehre stößt, sondern im neu erwachten, gottesdienstlichen Kultus das Herz und Auge weitet und weidet. Es sind Anzeichen religiösen Erwachens in der Tat hinreichend da. Man lausche auf das andachtstiefe Gottsuchen jener Christus- jüngerschaften, die sich um den in aller Schlichtheit und Echtheit in ganz Deutschland wirkenden Doktor der Theologie, Pfarrer Rittelmeyer, sammeln, um durch christustiefe Religiosität wahrhafte und lebendigstarke Feierstunden zu erleben. Man be kämpfe in sich und um sich die althergebrachten Vorurteile, welche jedes Neue auf kirchenkultischem Gebiet mit satten Redensarten abtuen. „Wer Vor urteile einsaugt, ist lebenslänglich berauscht." Will das Kirchenvolk zur Volkskirche gelangen, so muß es in erster Linie seine Kirchcnrechte wahren und sie nicht durch einen altkonscrvativen Despotismus des Konsistoriums sich schmälern oder gar nehmen lassen. Das gilt zuförderst für die zukünftigen Synodal wahlen, wo das Kirchenvolk alles daransetzen muß, nicht ausgesprochene „Kirchenmänner", sondern „Volksmänner* als sozialhandelnde, lebendige Ge meindegenosten hineinzubekommen; Männer ohne Scharniere im Genick, Männer mit geradem Rücken, der auch vor Magnifizenzen aufrecht und gerade bleibt. Alsdann stehe das Kirchenvolk in aller Ent schiedenheit und Rechtlichkeit dafür ein, daß es in Pfarrwahlen eigenen Vorschlag und eigene Wahl zu treffen durch die kirchliche Lage berechtigt ist. Die Gemeinden, denen heute die Pflicht der Pfarr besoldung auferlegl wird, haben ein gut begründetes Recht, ihre Pfarrer selbst zu wählen. Die Fälle mehren sich, wo Konsistorien und Gemeinden in wach sender Fehde liegen, so daß zu befürchten ist, daß der konsistoriale, klerikale Konservativismus nicht zur Volkskirche, sondern zur Freikirche drängt und landeskirchliche Gemeinden sich auf eigene Finanz basis stellen und eigene Pfarrer anstellen. Die Stunde der Kirche ist überaus ernst. Endlich ist das Konsistorium am Werk — trotz kräftiger Proteste der Landpfarrer — die Pfnrr- lehnszinserträgniste mit Beschlag zu belegen, um sic in einen konsistorialcn Topf zu tun. Die Folge wird auch hier sein, daß die Wandlung der Volkskirche zur Freikirche nur beschleunigt wird und mit allem Nachdruck die Psarrland-Pächter das Recht für sich in Anspruch nehmen werden, ihre eigenen Pfarr amtsinhaber selbst zu besolden. Indes fordert die Gegenwart eine dringlichst not wendige Neuorientierung der Kirche in bezug auf ihre Stellung zum Staat und Einstellung auf politische Strömungen. Wer den Feldzug miterlitten hat, kann ein Lied singen von „Krieg und Kirche*. Es war eine sehr bedauerliche Verschuldung der Kirche, daß sie Feldgeistliche hinausschickte, die alles andere predigten als die Weihnachtsbotschaft: „Friede auf Erden!" Heute rächt sich diese Verirrung ganz furchtbar. Heute ist die Kirche ohne wirkliches Kirchenvolk. Das Volk ist weggelaufen von der Kirche, weil ihre Vertreter im Feld von dem Christttszicl weggelaufen waren und statt im Namen Gottes Frieden zu predigen (Stecke dein Schwert in die Scheide) im Namen des Kaisers Kriegsstimmung entfachten. Ungeachtet der betrüblichen Tatsache, daß infolge dieser homiletischen Mißgriffe noch lange Jahre das Volk verbittert und entfremdet fern der Kirche stehen wird, muß jetzt der volkskirchliche Schritt gegangen werden und zwecks besten gefordert werden: 1. Politische Neutralität der Kirche und ihrer Pfarrer, -r 2. völlige Parteilosigkeit der Geistlichkeit, 3. entschiedene kirchliche Bekämpfung jeder auf Krieg und Blutvergießen der Völker gerichtete Strömung innerhalb der Menschheit. Daß Entpolitisierung dcr kirchlichen Presse etwa». Selbstverständliches ist, bedarf keiner besonderen Be tonung. Will die Volkskirche aus dem Chaos der Weltgegenwart sich herausbauen, so muß das Kirchen volk, so begrenzt es zurzeit auch erscheinen mag, diese vorerwänhten Forderungen in allen Schichten und Kreisen und kirchlichen Instanzen durchführen. Oder will jemand glauben, daß damit der volkskirchlichen Sache gedient ist, wenn ein hiesiger Stadtpfarrer von der Kanzel herabwettert: „Die Schuld am ganzen Elend hat nur die Revolution?" Ist wirklich der Volkskirche und dem dazu notwendigen Kirchenvolk dadurch gedient, wenn deutschnationale, partei politisch tätige Geistliche in kleineren und größeren Gcmcindekreisen ironisch von den Errungenschaften der Revolution reden, und deutschvölkische Jugend kreise in kirchlichen Versammlungsräumen gewähren lassen?! Ist es nicht für volkskirchliche Kreise be- schämend und belehrend, wenn es im Saale des Vereins für Innere Mission, die ohne Rücksicht auf Stand und Person — Volksmistion treiben will und soll, zu blutigen Kämpfen zwischen feindlichen Brüdern kommen mußte?! Stand nicht einstmals gerade in diesem Saal über dem Wandkreuz das Wort geschrieben: „In diesem Zeichen wirst du siegen?!" Und dem Manne, dem es nicht nur heilige Herzens-, sondern ernste Volkssache ist, Friedens menschentum im Lichte des Christus zu lehren. slrno Holz Don Ssor§ Witkowski Zum 60. Geburtstag des Dichters Arno Holz tritt am 26. April in die Reihe der Sechziger, hinter Hartleben, Schnitzler, Hauptmann, dem einstigen Arbeitsgenosten Schlaf. Als Dichter, als Pfadfinder ist er, der Jüngere, ihnen allen einst oorausgcschritten. Schon um deswillen ist sein Name den Tafeln des deutschen Schrifttums für immer eingegraben: die entschiedene Wandlung von einer rückwärts blicken den, erschlafften Kunstübung zum tatkräftigen Hm- ausstreben in neue, noch unerschlostene Schaffens- weiten hat Holz eingcleitet. Heute liegt jene Frühzeit mit ihren Hoffnungen und Erfüllungen weit hinter uns, und es stünde nicht nr um den Dichter Holz, gründete sich sein Daseins- cht im literarischen Leben nur auf solchen, schon storisch gewordenen Anspruch. Aber im Herzen dcr eien, denen die Geschichte des Schrifttums, zumal es neuesten, Hekuba ist,, lebt sein Name durch eigene Schöpfungen mit der Gewähr längerer Dauer. Dem einfachsten Fühlen geben Gedichte wie „So einer war auch er* immer neue Befriedigung: für sie ist das „Puch dergeit* von 1885 mit seinen Nachklängen der realistisch gefärbten Romantik Börangers, Gaudys und Freiligraths noch Herzensfreude. Die Attacken aus die „wohlverbohrten Ritter vom romantisch blauen Strumpfband und vom klassischen Kothurn" sind recht ehrlich gemeint, jedoch der Holz von damals erwies sich als ein zum zahmen Sozialdemokraten ge wordener Nachfahre dieser so böse mißhandelten Ahüen. Gleichzeitig mit dem „Bilche der Zeit* erschien die erste Blütenlese der damaligen Dichterjugend, betitelt „Moderne Dichtercharaktere'. Holz ge- bürdete sich darin am wildesten: „Kein rückwärts schauender Prophet, Geblendet durch unfaßliche Idole, Modern sei der Poet, Modern vom Scheitel bi» zur Sohl«.* Zola, Ibsen, Tolstoi verkündete er al» die drei neuen Heilsbrinaer. Aber was er al» ihr« Lehr« erkannte, da» Abschildern einer mit allen Sinnen sorgsam auf- gefangenen Umwelt, da» genügte Solz und seinem damaligen Freund« Johannes Schlaf noch nicht. Eie wollten auch nicht di« Wege der Fremden gehen, sie suchten nach einem neuen deutschen Stil und meinten ihn zu finden, wenn sie mit noch gewissen hafterer Beobachtung ein winziges Stückchen Welt malten. Die Beispiele dieses „konsequenten Naturalismus* entstanden im Winter 1888/89. Vier Studien, in der Hauptsache Dialoge mit genauesten szenischen Be merkungen, die alles Sicht- und Hörbare fefthrclten, und im Januar 1889 erschien das Buch „Papa Hamlet", noch weiter vorschreitend auf dem Wege zum Zustandsdrama, obwohl äußerlich hier noch die Form der Erzählung gewahrt wurde. Wenig be wundert und viel gescholten gab dieses Buch Ger hart Hauptmann, wie er selbst bekannte, die entscheidende Anregung zu „Vor Sonnenauf gang". Damit ging die Führung von dem Ost preußen Holz auf den Schlesier über. Holz und Schlaf brachten noch als ihr letztes gemeinsames Drama „Die Familie Selicke" im Frühsahr 1890 auf die Bühne und bezeugten damit, das; ihre Theorie und ihr Können mit dem naturgewachscnen dramatischen Vermögen Hauptmanns nicht Schritt halten konnte. Dann trennten sie sich. Holz brachte noch im gleichen Jahre seine Lehre in eine Formel, so ziemlich die falscheste unter den vielen Formeln, in die man das Wesen dcr Kunst hat fassen wollen. Sie lautet: „Die Kunst bat die Ten denz, wieder die Natur zu sein, sie wird sie nach Maß gabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung." (Der erste Satz würde ungefähr stimmen, wenn man das „e" in „wieder* forttieße.) Uebrigens teilt Holz mit sehr vielen Künstlern diese Unfähigkeit, seine Träume zu deuten, vom eigenen Schaffen theoretische Rechenschaft zu geben; das zeigte sich auch, als er 1899 von neuem in dem Heft „Revo lntion der Lyrik" das Recht einer neuen Form festzustcllen suchte. Es waren Gedichte in freien, reimlosen Versen, von denen eine Anzahl das Jahr vorher unter dem gemeinsamen Namen „Vhnntasus" erschienen waren. Er verlangte eine Lyrik, „die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was in ihm zum Ausdruck ringt*. (Ausführlich hat er das gleiche noch einmal in seiner Poetik in nues „Die befreite deutsch« Weltkunst* 1921 ver kündet; aber inzwischen doch wieder dem Reime als einem guten Hilfsmittel das Daseinsrecht gewährt.) Worauf es den.Phantasus-Gedichten ankommt, das ist etwa» ganz anderes. Die assoziative seelische Fähigkeit soll, durch keine Form gebunden, sich frei in der Dichtung auswirken in das innerlich geschaute Bild. Jede au» diesem Bilde aufsteigende heitere oder trübe Stimmung, kurz, das ganze Innenleb« des Schaffenden soll in die Dichtung eingehen. So wuchs aus dem völlig entfesselten Phantasieleben des Dichters der „Phantasus* zu immer unge heuerem Umfange und wurde zu einem Buche ohne gleichen in aller Lyrik, in der Insel-Ausgabe von 1916 ein Foliant von 336 Riesenseiten. Der Dichter sieht sich als Erben alles dessen, was jemals in der Welt war, ist und sein wird, soweit es in menschliches Hirn als Bild einzugehen vermag: eigene Erinnerung, eigene Jugend und späteres Er- j leben vor allem, dann aber auch was ihm ausge dehnteste Studien gegeben haben, was seine immer j rege Vorstellungskraft beim Lesen der Tausende von Büchern gestaltend aus ihnen herausstellte, vor allem die Märchenwelt seiner Wünsche und Hoffnungen, die niemals Wirklichkeit werden kann. Wie ein wogendes schillerndes Meer, von immer wechselndem Lichte bestrahlt, erscheint der „Phantasus". Unend liche Wogen rollen heran, überstürzen sich, zerfließen ineinander. Senkt sich einmal diese Hochflut, dann erblickt man kleine, zarte, ruhende Gewässer, in ihnen irgendein Augenblicksbild der Seele sich spiegelnd, viele von höchster lyrischer Schönheit durch sonnt. Ueber allem waltet aber das kraftbegeisterte Schaffensvermögen und die männliche Standhaftig- reit des Dichters, sein bärbeißiger Humor, seine An- griffslust, sein Haß gegen alle Lüge, Weichlichkeit, ! Streberei. Der „Phantasus" ist das größte Sammel becken für alles dies und, da Arno Holz in dieser j bequemen, ihm völlig gemäßen Form unaufhörlich j sagen kann, was ihm in Kopf und Herzen schwirrt, so braucht man sich nicht zu wundern, daß der Riesenband von 1916 jetzt schon wieder auf das Drei- suche angewachsen des Neudrucks harrt. Ein ähnliches Schicksal blüht aus gleichen Grün den der gewaltigsten Literatursatire unserer Zeit der „B l e ch s ch m i e d e* von Arno Holz. Sie ist in der neuesten Ausgabe von 1921 beinahe zu einem Seiten stück des „Phantasus* geworden. Aber hier, wo nicht die große Welt, sondern der winzige Kosmos de» deutschen literarischen Lebens Schauplatz ist, wird solche Hypertrophie zum schweren Schaden; der Witz ertrinkt in seiner eigenen endlosen Emanation. Während der „Phantasu»' den Leser bi» zum Schluß festhält, wird das Gehämmer dieser Blechschmicde kaum irgendeinem Ohr aus die Dauer erträglich sein. Aehnlich ergeht e», mir wenigsten» auch, mit den allbekanten Daphnisliedern. Ich will heute nickt an alte vernarbte Wunden rühren, di, Holz und ich einander vor Jahren wegen de« Daphni» beigebracht haben, also nur sagen, daß mir dieses lyrische Selbstporträt aus dem 17. Jahrhundert nicht eingeht. Dagegen denke ich weiter besser als die meistsn Kritiker von Arno Holz als Dramatiker. Die tra gische Komödie „Traumulus" von 1904 hat ja einen großen dauernden Bühnenerfolg gehabt und wird heute noch immer hier und da wieder aus genommen. Aber ebensowenig wie die Komödie „Büx l", ebenfalls gemeinsam mit dem Jugendfreund Ierschke verfaßt, möchte ich sie als Zeugen für den Dramatiker Holz anrufen. Dazu enthalten die beiden regelrecht gezimmerten Theaterstücke zu wenig vom einmaligen der Art des Dichters. Wohl aber bietet sie sich in dramatischer Form überzeugend, förmlicher in der Komödie „S o z i a l a r i st o k r a - ten" mit ihrer trotz aller Zustandsschilderung doch kräftig ausschreitendcn Handlung und den wenigen aufs schärfste erfaßten Gestalten. Wollten die deutschen Bühnen Arno Holz jetzt den Dank für sein Schaffen darbringen, so müßten sie dieses Werk mit der Liebe, die cs ver diente, auf ihre Bretter stellen. Das wäre eine würdige Huldigung und würde daneben gegenüber allen den Ekstasen und Verschwommen heiten, die das Theater dcr Gegenwart beherrschen, als ein Stück gntgeiehencr THirklichkeit von Nutzen sein. Ja, die heutige Konstellation ist Arno Holz nicht gerade günstig. Aber wenn wieder einmal der unauf hörlich fortschreitende Zeiger der Kunstuhr seine Stunde zeigt, die Stunde ehrlicher, nie über sich selbst hinausstrebender Dichtung, dann w rd seine letzt nicht allzu große engere Verchrerschar mächtig wachsen. Möge diese Stunde für den vom Leben schwergeprüften tapferen Mann noch kommen, so- lange cs für ihn Tag ist. Das ist dcr beste Wunsch zu seinem Eintritt ins siebente Jahrzehnt. Der Dessauer Gcneralmusitoircttor. Für den Posten eines Generalmusikdirektors des Friedrich- theaters in Dessau wurde Franz von Hoes- lin, der bisherige musikalische Leiter der Berliner Volksoper, verpflichtet. Bücherausfuhrverbot in Oesterreich. Der Haupt ausschuß hat eine Verordnung der Regierung ange- nommen betreffend die Erlassung eine» Bücher ausfuhrverbotes. Ein Antrag, in dem die Regie rung aufaefordert wird, die Bücherauofuhr nach Deutschland kontrollfrei zu lasten, wurde eben- fall» angeaomme».
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