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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 15.04.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-04-15
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192304155
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230415
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230415
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-04
- Tag 1923-04-15
-
Monat
1923-04
-
Jahr
1923
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Loimtsg, äeri 16. DÄg^btLttt uLä »Luäelsreltuog Rew Yorker Läden Svn ve krn»1 ko»» New Dort. Mttte März Bon den Lichtreklamen am großen „weißen Weg", am Broadway, ist die größre nicht etwa eine Automobil- oder eine Möbelreklame, sondern eine Reklame für Kangummi. Diese in Europa kaum pe« Namen nach bekannte Süßigkeit besteht aus Gummi und Pfefferminz oder etwas ähnlichem 'und wird von der New Parker Bevölkerung jedes Alters und Geschlechts so lange gekaut, bis man nur noch den reinen Gummi im Munde hat, der dann au irgendeiner verschwiegenen Stelle herausbefördert wird. Ueverall auf den Straßen und in den Untergrundbahnen begegnet man Leuten, die un verdrossen vor sich hin kauen, und wenn man auch dieses „Laster" nicht gerade sehr ästhetisch nennen kann, schädlich ist es sicherlich nicht. Die Kau- gummipackungen werden gewöhnlich für fünf, Manchmal auch für ein oder zehn Eents verkauft. Und nun bedenke man, was es heißen will, wenn für die Netlame eines derartig billigen Artikels am Times Square, im Brennpunkt des Theater viertels, ein Gerüst von einer Höhe von etwa drei Stockwerken und über doppelter Breite errichtet werden konnte', allein der Ausbau desselben soll 20 «00 Dollar gekostet haben. Allabendlich ist die Lichtreklame in Betrieb. In der Mitte steht in riesengroßen Lettern der Name des Fabrikanten und an jeder Seite machen je drei Männchen unablässig Freiübungen-, darüber sieht man noch zwei unge- theure Pfauen und daneben zwei ebenso unermüdlich flimmernde Springbrunnen. Wenn für eine solche Netlame Fehntausende aus- ckrworfen werden, dann heißt das, daß das New Porter Publikum sehr gleichförmig und leicht zu be- tnnfiussen ist-, denn der Perbrauch von Kaugummi ist eigentlich sinnlos, und eilt differenziertere!» Publikum würde sich nicht durch eine noch so ge schickte Anpreisung veranlassen lassen, eine solche Gewohnheit dauernd nnzunehmen. Wer hier große Vermögen erwerben will, muß sich auf das Massen- r^lblitum und seine wesentlich gleichartigen Bedürf- chsse einsrellen. Wie lehrreich ist da etwa der Erfolg der Firma F. W. Woolworth Eo., deren Gründer auch der Gründer des weltberühmten 56 Stock hohen Wool- worthgebäudes ist. Die Läden dieser Firma sind durch die ganze Stadt hin verstreut, und man tauft in ihnen kleine und kleinste Artikel für fünf und zehn Cents: Nähnadeln, Leckereien, Schreibwaren, Spielsachen und dergl. Wenn man am Nachmittage, zur Einkaufszeit, einen solchen Laden betritt, muß chan sich durch die Nienge der Käufer förmlich hin durchwinden, und es spricht nicht zum wenigsten für die Einträglichkeit des Unternehmens, daß verschie dene Zweiggeschäfte desselben mit bisweilen vier bis sechs Schaufenstern an den teuersten Geschäfts straßen New Uorks, am Broadway und an der fünften Arn-nue, liegen. Ein solcher Enolg ist nur bfi einem Publikum mit denselben, wenig speziali sierten Bedürfnissen möglich. F. W. Woolworth macht fast gar keine Netlame: ssine Firma ist Netlame genug. Astis dagegen die Neklame hier vermag, kann man so recht an der Geschichte der großen Warenhäuser wie Wanamaker, Marn L Eo. usw. sehen. Ich nahm vor einigen Togen an einer Führung durch Wauamnkers hiesi gen „Departement-Store" teil. Zum Beginn wur den wir in einen großen, mit Bildern geschmückten tkvuzertsaal geführt und hörten ein sehr feines Orgel- und Gesangskonzert an-, die Türen wurden rvährend der einzelnen Nummer geschlossen gehal ten, und als wir uufbrachen, versäumten wir noch einen Lichtbildervortrag über Alaska. Es klingt fast wie ein Märchen, aber cs ist wahr: Dieser ganze Aufwand war nur der Neklame wegen da, und der Eintritt in diese öfters in jeder Woche statlfindenden Veranstaltungen ist frei. Von den Berkaussabteilungen bekamen wir bei dieser Führung natürlich nur wenig zu sehen: aber dies wenige genügte, um uns einen hinreichenden Begriff zu gewähren. Wir wurden in die Möbel- abteilung geführt, wo man ganze Hauseinrichtunzen nicht nur für kleine, sondern auch für acht- bis zehn- zimmerige Mietswohnungen kaufen kann. Man zeigte uns die Antiquitätrnabteilung, wo man echte, dann natürlich renovierte oder nachgemachte Alter tümer kaufen konnte; sie waren selten über hundert Jahre alt, die Preise wuchsen jedoch ungefähr im Quadrat der Entfernung. Man zeigte _ uns die Pariser Ecke, in der es wirkliche französische Hüte und Luxusartikel aus der Hand wirklicher Fran zösinnen zu kaufen gab. Auch die Telephouzentrale sahen wir, wo die größten Bestellungen per Draht entgegengenommen werben. Als ich in Gedanken dieses Warenhaus mit Berliner und Leipziger Groß geschäften verglich, fiel mir besonders auf, wie wenig geräumig bei aller Größe dieses Warenhaus war. Plan mußte beim Suchen nach dem Ausgang erst über alle möglichen Treppen und uni alle möglichen Ecken sich winden; ich hatte zuerst wirkliche Angst, mich zu verlaufen, und hätte beinahe ein paar Tische mit Ware umgerannt, die mir im Wege standen. Wahrscheinlich ist der Zweck dieser verzwickten An ordnung, den Käufer erst au allen möglichen an deren Abteilungen vorbeizuführen, damit er noch zu recht vielen Käufen veranlaßt wird, ehe er auf die Straße kommt. Da fällt mir eben eine nette Nachricht in die Hand, die wieder einmal recht deutlich zeigt, was amerikanische Netlame ist, und die ich deutschen Lesern nicht vorenthalten möchte, obwohl sie sich nicht in New Port ereignete; ich hielt solche Ge schichten für Fabeln, bis ich hierherkam. Also, da stritten sich kürzlich in Chicago zwei Gruppen von Brotläden herum. Von Tag zu Tag kündigten fle in großen halbseitigen Anzeigen in den Zeitungen die Preisermäßigungen des Brotes an, bis die eine Gruppe einen Preis von 2 Cents für den Laib Brot erreichte. Daraufhin erklärte die andere, sie würde ihr Brot umsonst weggeben, und wirtlich gaben die 88 Kettenläden dieser Firma 15 000 Lust- Brot umsonst ab. Freilich konnte sie es nicht lange aushalten und verlangte bald, daß die Kunden für mindestens 50 Cents andere Waren miikauften, und so verlief der große Brotkrieg ergebnislos. Bei einem ähnlichen Konkurrenzkampf zwischen zwei Eisenbahnen im Süden, wo man bei der einen sogar noch etwas hinzubekam, wenn man mit ihr fuhr, war das Ende, daß die beiden Linien sich vereinig ten und dann die Preise schleunigst wieder gehörig hinaufsetzten. Natürlich gibt es neben dem durch solche Re klame beeinflußbaren Publikum auch noch andere Kreise in New Port, mit eigenem, bestimmtem Ge schmack. Es ist sehr lehrreich, einmal an den Schau fenstern der Luxusläden in der fünften Avenue ent lang zu gehen und zu sehen, mit welchen Auslagen man auf das wenig zahlreiche, aber dafür sehr kauf kräftige feine Publikum hier Eindruck machen kann. Es sind alles gediegene, muterialechte und ruhig geformte Waren, und die Echaufensterdekora- tionen sind meist großzügig und nicht überladen; das Aeußere der Läden ist einladend und vornehm. Die hier unverkennbar durchblickende Freude am Soliden und Haltbaren ist eine der guten Kehrseiten der Dollarjägerei: Man will für sein Geld auch wirklich etwas haben. Der europäische Käufer wundert sich oit über die rein geschäftsmäßige Art der Bedie nung, die in amerikanischen Läden gang und gäbe ist; man sieht, das Publikum will meist schnell ferttg werden, und der Kaufmann will schnell verdienen. Aber beim Betrachten der Läden in der fünften Avenue merkt man, daß solche nüchterne Auffassung des Geschäftes auch ihre guten Seiten hat: denn hier bat sie veredelnd auf den Geschmack gewirkt. O, daß sie es doch noch mehr täte! Hölzerne Hochzeit. Daß es grüne, silberne, goldene, diamantene und eiserne Hochzeiten gibt, ist bekannt. Aber auch hölzerne Hochzeiten? Bon einem so ge nannten Ehejubiläum wird im Medersachsen aus Bremen erzählt. Die „hölzerne Hochzeit" wird dort nach „zehnjährigem Ehekrieg' gefeiert, und zwar er scheinen Freunde und Verwandle, geladen oder un geladen, und schenken ausschließlich hölzerne Ge- brnuchsqegenstände, wie Klammern, Löffel, Quirle ni'tv. oder doch Dinge, die hauptsächlich aus Holz be stehen, wie zum Beispiel Waschbretter und Gurken hobel. Bisweilen tritt an die Stelle der hölzernen die ,Aecherne' Hochzeit. Dann werden lauter blecherne Disige geschenkt, wie Eimer, Töpfe, Siebe, Kuchen formen u. n. m. Goldregen am Wedding. Al» der Besitzer eines Goldwarengcschiifts Ecke Müller- und Fennstraße in LcnoxoLao Berlin-Wedding seinen Rolladen emporziehen wollte, ergoß sich plötzlich, wie ein Augenzeuge be richtet, ein reicher Gold- und Silbcrregen auf den Bürgersteig. Die Passanten der Straße ballten sich schleunigst in einen dichten Klumpen und errafften von den Edelmünzen, die auf den Steinen rollten, soviel sie nur bekommen konnten, und verschwanden eiligst mit der unverhofften Beute, ehe auch nur der Inhaber seine Jalousie soweit befestigt hatte, daß er sich auf die Suche nach seinen Schätzen auf die Straße begeben konnte. Dort sah er keine Goldstücke mehr, wohl aber eine große und belustigte Menge, die eifrig durch die Luke eines Kellerraumes spähte. Dorr fand der Ladeninhaber, der anscheinend sein Gold, um cs vor Dieben zu „schützen", im Ialousiekuften versteckt hatte, noch einen Rest der wertvollen Mün zen vor. Die Polizei, die rasch herbeikam und die neu- und zngriffsgierige Menge bald zerstreute, sicherte ihm diesen traurigen Rest seines Schatzes. Die Frankfurter Zerstörer der Telegraphen- leitungen verhaftet. Der Postverwaltung und dem Wirtschaftsleben Frankfurts wurde ein gewaltiger Schaden dadurch zugefügl, daß mehrfach Telegraphen- leitungen auf der Landstraße durchschnitten wurden. Dir Linien Stuttgart—Köln, Duisburg—Mannheim und Hamburg—Stuttgart wurden dadurch unter brochen. Der Schaden wird aus mehrere Millionen geschätzt. Die Polizei verhaftete als Täter die Brüder Friedrich und Heinrich Henßner. Die oergnügte Ledensmüoe. Bon einem Holzknecht wurde im sogenannten Hohlergraben am Vorder- rirsenberg in der Gemeind» Degerndorf bei Brannen burg eine unbekannte Frau ausgefunden, die sich ver giftet und dann erschossen hatte. In einem Briefe, den man bei der Leiche fand, bezeichnet sie sich als vergnügte Lebensmüde. Der Nachrichtenstelle für Vermißte und unbekannte Tote bei der Polizei direktion München ist es nun gelungen, die Persön lichkeit der Toten festzustellen. Diese ist eine 40 Jahre alte Konzertverlegersgattin au» Oesterreich, die früher mehrere Jahre in München gewohnt hat und sich zu letzt in der Umgebung von München aufhielt. Die ersten Anhaltspunkte für die Ermittlung gab ein Münchner Schneider, der sich erinnerte, für di» Frau ein Kleid gefertigt zu haben, das mit dem in der Prrfi» beschriebenen Kleid der Toten übereinstimmte. Wiewohl die Frau in ihrem Abschiedsdriefe bestritt, geisteskrank zu sein, ist doch anzunehmen, daß sie die Tat in geistiger Störung verübt hat, da ihre Be kannten an ihr in der letzten Zeit eine auffällige Der- änderung ihres Wesens wahrnahmen. Die Frau Kat in ihrem Leben viel Unglück grhadt. Ihr Mann be findet sich seit Jahren in der Irrenanstalt Steinhof bei Wien. In ihrem Abschiedsdriefe hi»ß es auch: „Ich war ein ausgesprochener Pechvogel im Leden und bade lein» Lust, mich noch länger damit herum- zubalgrn." Die Trunksucht in den Bereinigten Staaten. Ob- wohl es in Amerika bekanntlich ein strenges Alkohol- verbot gibt, besteht die Trunksucht dort doch äugen- scheinlich noch in großem Umfange fort. Wie nach der neuesten Statistik der New Yorker Gesundheits abteilung in der Klinischen Wochenschrift berichtet wird, kamen zahlreiche Verhaftungen wegen Trunk- sucht sowie Erkrankungen und Todesfälle durch Alkohol im Jahre 1922 vor. Die Krankenhausauf- nahmen wegen akuten Alkoholismus stiegen von 3345 im Vorjahre auf 5624, die Todesfälle von 141 auf 295. Die Zahl der Todesfälle durch Alkohol hatte freilich vor Einführung des Verbotes 1916 690 be tragen. Dagegen ist seit dem Alkoholverbot eine starke Zunahme sestzustellen, denn die niedrigste Ziffer wurde 1020 mit 127 Todesfällen erreicht. Die Zahl der wegen Trunkenheit Verhafteten betrug 7866 gegen 6233 und 5036 in den Vorjahren. Die Zunahme wird aus den Ersatz des Bieres durch stärkere Spirituosen zurückgeführt. (lericktssssl Die GeschwisterNägler vor Gericht Nach wiederholten Vertagungen begann jetzt der neue Prozeß Hegen die Geschwister Ernst und Gertrud Nagler vor dem Schwurgericht des Landgerichts 1 in Berlin. Die beiden angeklagren Geschwister haben, wie erinnerlich, im Sommer 1020 gemeinsam mir dem Drogisten Wilhelm Bock, im Hotel Münchener Hof in der Königgrätzer Straße den Kaufmann Wölf- ner getötet, um ihn zu berauben. Die Ge schworenen hatten Gertrud Nägler im Juni zu 15 Jahren Zuchthaus, Ernst Nägler und Wil- Helm Bock zu lebenslänglichem Zuchthaus wegen Raubes mit Todeserfolg verurteilt. Auf die Re vision hin hatte das Reichsgericht das Urteil, soweit es die Geschwister Nägler betraf — infolge falscher Beantwortung der Fragen — wieder aufgehoben. Gegen Bock ist das Urteil rechtskräftig geworden. Schon vor einem Jahr fand eine Verhandlung gegen die beiden Geschwister, die die Kinder eines Weinhändlecs aus Braunschweig sind, statt. Die Verhandlung verfiel damals jedoch wegen plötzlicher Erkrankung der Gertrud Nägler der Vertagung. Jetzt wurde Gertrud Nägler von zwei Aufseherinnen und einer Krankenwärterin auf die Anklagebank mehr getragen als geführt. Ihr Bruder Ernst, der in der ersten Verhandlung elegant und blühend aus sah, erscheint jetzt in Sträflingskleidung mit ein- gefallenen Gesichtszügen. Cr verbüßt gegenwärtig eine andere Nebenstrafe im Zuchthaus Sonnenburg. Zunächst gibt Ernst Nägler dein Gericht Auskunft über sein Vorleben. Ec hat Kaufmann gelernt, aber keine Neigung dazu gehabt. Gegen den Willen seines Vaters hat er heimlich uni Braunschweiger Landes theater Unterricht genommen. Im März 1919 ver übte seine Mutter aus Schwermut Selbst mord. Kurze Zeit vorher hatte sich ein Bruder der Frau Nägler erschossen. Dieser Vorfall hat auf die Geschwister einen tiefen Eindruck gemacht. Ihr Vater schickte sie daher zur Erholung nach Braunlage. Hier verübten die Geschwister ihre erste Straftat. In dem Hotel wohnten zwei reiche Ham burger Damen. Während Ernst Nägler eines Tages zusammen mit einem anderen Manne mit den Damen bei Sekt und Schnäpsen eine Geburtstags- feier veranstaltete, schlich sich Gertrud — in ein Trikot gekleidet — in das Zimmer der Damen, und als die beiden Hamburgerinnen unter der Ein wirkung des Alkohols fest schliefen, raubte sie die Schmucksachen vom Nachttisch. Später stellte sich dann heraus, daß die Beute nicht viel u,rt war. Einen ebensolchen Reinfall erlebte Ernst Nägler mit einer Metallplakette, die er aus dem Lundesmuseum in Braunschweig gestohlen hatte. Die Geschwister gingen nun nach Berlin, wo Ernst mit seinem Vetter Bock Schiebergeschäfte machen wollte. Dann erfolgte die letzte oben erwähnte Tat. Sodann versuchte der Vorsitzende, die Angeklagte Gertrud Nägler zu vernehmen. Während der gan zen Vernehmung ihres Bruders halte sie zusammen gekauert auf der Anklagebank gesessen. Auf die ver schiedenen Fragen und Anrufe des Vorsitzenden gab sie keine Antwor t. Es wurde darauf Sanitäts rat Dr. Juliusburger darüber vernommen, ob er glaube, daß die Teilnahmlosigkeit der Angeklagten echt sei oder Simulation vorliege. Der Sachverstän dige erinnert daran, daß vor einem Jahre während der Verhandlung Gertrud Nägler von einem Un wohlsein befallen wurde und, nachdem sie htnaus- geführt war, sich erbrochen hatte, so daß die Aerzte zunächst an eine Vergiftung dachten. Sie habe aber auf Nadelstiche nicht reagiert, und der Sachverstän dige hat durch seine genaue Untersuchung den Ein druck gewonnen, daß es sich damals um eine der bekannten psychopathischen Reaktionen auf eine bestimmte Situation handelte. Gertrud NäglE kam dann zur Beobachtung in die Irren- anstatt Puch. Eie hat dem Sachverständigen auch an gegeben, daß sie Morphium, Opium und Kokain genommen habe. Im Gefängnis habe sie infolge einer Nierenblutung zunächst noch weiter Morphium bekommen, deshalb habe sie auch in der ersten Ver handlung Auskunft über allrs geben können. Seit dem ihr diese Reizmittel entzogen seien, wäre ihr jede Erinnerung ihrer strafbaren Handlungen v e r l o r e n gegangen. Der Sachverständige glaubt mit Wahrscheinlichkeit behaupten zu können, daß heute keine Simulation vorliege. Jedenfalls hält er sie nicht für verhandlungsfähig. — Bei Behandlung in einer Heilanstalt wäre eine Besserung zu erwarten. Da» Gericht beschloß daraufhin, das Verfahren gegen Gertrud Nägler e i n z u st e l l e n. da sie nach der Tat in den Zustand der Geistesgestörtheit hysterischer Art in Verbindung mit Haflpsychose verfallen sei. - Weiter beschloß das Gericht, den Haftbefehl gegen dir Nägler anfzuheben und gegen den Bruder ge trennt weiter zu verhandeln. Nein Lohn der Arbeits willigen beim Teilstreik Leipzig. 14. April. (Nachdruck verboten) Der r. Zivilsenat de« Sketch«»» richt» hat am ö Sebraar «in somvhl fiie da» gesamte Unternehmertum wie sür die Arbeiterschast gründ» legende» Urteil von größter Bedeutung gesitllt. Aus dem mo dernen Sedanken der sozialen Arbeit»« und Betrieb«gemeinschast zwischen Ar beitgeber und Arbeitnehmer süßend, er kennt der höchste Serichtohos für Recht, daß bei einem Leilstreik, wen« durch ihn der Betrieb stillgelelegt wird, die Nichtftreikenden keinen Anspruch ans Lohnzahlung haben. Es handel: sich um das Fahrpersonal der von der Allgemeinen Lokal- und Straßenbahngesellschaft Berlin in Kiel betriebenen elektrischen Straßenbahn, das sich an dem Lohnstreik der Angestellten und Ar beiter des Kraftwerks, durch den der Betrieb zum Erliegen kam, nicht beteiligt hatte. Es verlangte nach dem erfolglos verlaufenen Streik Zahlung des Lohnes für die Dauer der Betriebseinstellung. Landgericht und Oberlandesgericht Kiel wiesen die Gesellschaft, die Feststellung bean- tragte, daß kein Anspruch auf Lohnzahlung bestehe, ab, während das Reichsgericht sich auf den Standpunkt der Klägerin stellte und der Lohnforde rung nicht ftattgab. Aus den reichegerichtlichen (kntscheidungsgrün-ea ist das folgende von wetttragender Bedeutung; Allerdings setzt das Tätigwerden des einzelnen Acbetters im Betrieb auch heute den Abschluß eines Einzelarbeitsvertrages voraus. Aber mit diesem Einzelvertrag tritt der einzelne Arbeiter in die Ar beiterschaft und damit in die Gesamtorganisation des Berriebes, dessen Ergebnis nicht mehr vom Unter nehmer allein mit seinem Kapital und seinen Ar beitsmitteln, sondern im gemeinschaftlichen Zusammenwirken von Unternehmer und Arbeiterschaft gewonnen wird. Auf diesem Gedanken der gemeinschaftlichen Arbeit be ruhen die neueren Gesetze auf dem Gebiete des Ar- beitsrechts, insbesondere das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920, das den Betriebsvertretungen der Arbeiter und Angestellten eine weitgehende Mit wirkung zur Wahrnehmung der sozialen und wirt schaftlichen Interessen der Arbeitnehmer des Be triebes wie auch in bezug auf Betriebsleitung und Betriebsleistung einräumt. Der Arbeitnehmer ist nicht mehr ein bloßes Werkzeug des Unternehmers, sondern ein lebendiges Glied der Ar beitsgemeinschaft. Dem entspricht es dann aber auch, daß, wenn die Arbeitsgemeinschaft aus Gründen,.die nicht vom Unternehmer ausgehrn, versagt, die Folgen nicht nur ihn treffen. Das gemeinschaftlich« Zusammenwirken von Unternehmer und Arbeiter schaft bildet die Grundlage des Betriebes. Der Be iried aber und seine Erträgnisse bilden wiederum die Grundlage für die Lohnzahlungen. Ist also der einzelne Arbeiter ein Glied der Arbeiterschaft und der zwischen dieser und dem Unternehmer be stehenden, die Grundlage des Betriebes bildenden Arbeitsgemeinschaft, dann ist es selbstverständlich, daß, wenn infolge von Handlungen der Arbeiter schaft der Betrieb stillgelegt wird und die Betriebs einnahmen versiegen, es dem Unternehmer nicht zu gemutet werden kann, für die Lohnzahlungen aus anderen Mitteln zu sorgen. Das muß auch für den hier vorliegenden Fall gelten, daß das Versagen der Arbeitsgemeinschaft nur von einem Teil der Arbeiterschaft ausgeht, während andere Arbeitnehmer des Betriebes arbeitsfähig und arbeitswillig bleiben. Es handelt sich dabei nicht nm eine Haftung der Arebitswilligen für die Streikenden, die schon das Berufungsgericht, im Ergebnisse zutreffend, abge- lehnt hat, sondern darum, daß mit der durch einen Teil der Arbeiterschaft verursachten Stillegung des Betriebes die Grundlage für die Lohn- Zahlungen im Betriebe ganz allgemein weg gefallen ist. Die Folge des Wegfalles dieser Zahlungen müssen sich deshalb auch diejenigen Ar beitnehmer gefallen lassen, die sich dem Streik der anderen nicht angeschlossen haben. Wollte man anders entscheiden, so würden sich unmögliche Zustände ergeben. Es könnte sein, daß nur ein kleiner Teil der Arbeiterschaft mit einer für die Fort führung des Betriebes unentbehrlichen Tätigkeit durch Streit den gesamten Betrieb stillegte und der Unternehmer allen anderen Arbeitern den Lohn aus zahlen müßte, obwohl diese nur deshalb nicht arbei- ten können, weil ihre Genossen nicht arbeiten. Dies ist mit dem Gedanken der Arbeitsgemeinschaft als Grundlage des Betriebes nicht vereinbar. (2t. r. III 93/23.) r . ., .
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