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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 10.01.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-01-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192301106
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230110
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230110
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-01
- Tag 1923-01-10
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Monat
1923-01
-
Jahr
1923
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Sächsischer Landtag Drahtbrricht unserer Dresdner «christlettun, Dresden, S. Januar. Die Sitzung wurde nachmittags 1)< Uhr eröffnet. Präsident Winkler begrüßte die Abgeordneten zu dieser ersten Sitzung im neuen Jahre und fuhr fort: .Ich verbinde damit die Hoffnung, daß die Herren ^»geordneten im neuen Jahr« ihre Ausgabe darin sehen, die schweren Zeilen, die auch für das sächsische Boll» gekommen sind, durch fleißige Arbeit rm Inter esse des Volkes mildern zu hüfen. Seien wir tm neuen Jahre kein Rede-, sondern ein Ardetts- parlamentl (Beifall.) und wollen wir trotz aller Gegensätze, die uns trennen, in sachlicher Beratung zmn Wohl« des Vaterlandes und Volkes wirken' (Beifall). Dann begrüßte der Präsident die für den ausgeschiedenen kommunistischen Abg. Grube ein getretene Abgeordnete Fräulein Schlag-Chemnitz. Ein kommunistischer Vorstoß gegen die Regierung Vor Eintritt in die Tagesordnung erbat und er hielt Abg. Böttcher (Komm.) das Wort und be grüßte einen Antrag seiner Fraktion, eine Regie rungserklärung und eine Besprechung herbeizuführen über die Reparationspolitik. Durch den französischen Imperialismus und Militarismus, der im Begriffe sei, sich auf das Ruhrgebiet zu stürzen, wür den neu«, unerhörte Lasten auf di« deutsche Arbeiter schaft gewälzt. Die sächsische Regierung solle er klären, ob sie nach immer auf dem Boden der Repa- rationsnoke der Reichsregierung steh«. — Dieser Korn- monistische Antrag wurde mit allen gegen die kom munistischen Stimmen adgelehnt. (Unruhe links, Rase: Unerhört!) Abg. Siewert (Komm.): Ich stelle fest, daß die Sozialdemokratische Partei es verhin- de-rt, daß unser Antrag entgegengenommen wird. Dann fragt er, ob nicht auf Grund des 8 40 der Geschäftsordnung es möglich sei, dem Antrag zu entsprechen. Der Präsident verneint (Unruhe links). Abg. Böttcher, Kommunist, meint, die Re gierung habe trotzdem die Möglichkeit, ihr« Stel lungnahme dckanntzugeben. Seine Freunde l!x^ ontragen ein Bündnis mit Rußland einzu- gchen. Präsident Winkler: Di« Regierung hat mir bisher noch nicht angezeigt, daß sie eine Erklärung uibzugeben wünscht. (Erneut« Unruhe bei den Kom munisten, Ruf« zu den Sozialdemokraten: Dos ist bezeichnend für Euch! Line solch« Feigheit!) Die Not der Kleinrentner Das Haus tritt hierauf in die Tagesordnung ein. Zur Beratung stehen 5 Anträge über die Not der Kleinrentner, Erwerbslosen und Sozialrentner, sowie der Erwerdslosenunterstützung Bedürftigen. Abg. Zitier (Dt.-Nakl.) begründet den Antrag seiner Fraktion über die Not der Kleinrentner und fordert eine fortlaufende Unterstützung -er Kle.n- rentner enffpreä>«n- -er Geldentwertung. Ada. Sachse (Soz) begründet den Antrag seiner Partei, der sich mit der Not der Erwerbslosen und Sozialrentner befaßt, und meint, es mühte ge prüft werden, ob nicht an der Grenze Tschecho slowaken bei uns beschäftigt würden, die es nicht nötig hätten und sächsischen Arbeitern di« Arbeits gelegenheit weonehmen. 2drf einen Zuruf von deu Kommunisten: Und das sagt ein internationaler So- ztattsV. antwortet der Redner: Das Hemd liegt mir näher alS der Roch! Das Reich ist in der ArbeitS- losenfärsorg« sehr im Rachstand geblieben. Abg. Eli rodt (Komm.), der -en Antrag der Partei über die Not der Erwerbslosen begründet, ergeht sich zunächst in langen Ausführungen über L4« Brutalität der Unternehmer, die -<n Arbeiter, § wem» sie ihn ausgemergelt l-Ltten, auf den Schutt haufen würfen. Er de-aniragt, die Unterstützungs- sähe sofort am 200 Prozent zu erhöhen, dafür 1200 Millionen Mark bereitzustellen und bei der ReichS- rsgäermrg die Erhöhung her Erwerbsloienunterstützung aas «das Existenzminimum nachdrücklich zu vertreten. Derselbe Redner begründet auch den Antrag oe- treffend die Not der Sozialrentner and der renan losen Unterstützungsbedürftigen. Er beantragte den Rentenlosen sofort zu gewähren: Wöchentlich 5000 kür riie kernauÜsge Mark für eine Einzelperson, 8000 Nlark für «tn Ehepaar und 1000 Nlark für jedes Kind. Ls folgt die Besprechung der Anträge. Abg. Dr. Schneider (Dt. Vpt.) erklärt zunächst, -atz ein Teil der Anträge bereits überholt fei. Gegen eine raschere Anpassung an die fortwährend« Teue rung sei nichts einzuwenden. Bester als alle Unter stützung sei eine produktive Erwerbslosensürsorge. Der Redner brachte dann folgenden Antrag ein: Der LanLtag wolle beschließen, i. dt, Regierung ,» beauttragen. zur Verminderung der ErwrrbSIostgkei» eine umfangreiche Bautätigkeit zu veranlesfen, namentlich den Bau ftädttfcher Wohnhäuser derart zu be treiben. dab bis Jahresende eine möglichst große Zahl van Kleinwohnungen von 2, 3 und 4 Räumen lercik- gestellt werde: 2. zur Verwaltung der Bauten, deren Ausführung zu vergeben ist. mit (Gemeinden m.d ande ren Beteiligten eine grmeinnUyige Aktiengesellschaft zu begründen: S. die «csamtrechnunq dieses Bauwesen» a«f Goidmark avzustellen: 4. da» rrsorderliche Kapital durch Ausgabe werbe ständiger, niedrig ver zinslicher Obligationen auszubringcn, die au, (Aoldmark lauten, in Goidmark auS dem Mirt.'klrag ,u verzinsen und zu tilgen wären, für die die getamien Grundstücke und Gebäude des unternehmens alS Sicher- beit vasten und dies« Unternehmung bis zur Unter bringung der ersten Obligationen durch ein kurzfristiges AtaatLdarlehen. alsdann durch eine staatliche Zinsbürg- schast, Steuerbefreiung und Abgabe von Hol, ans den Ltaatssorsten zn untersttiven. (Schluß folgt.) aller Welt Brand ln einer Möbelfabrik. Von einem Groß feuer wurde die Magdeburger Möbelfabrik Proem- mel heimgesucht. Das Feuer dehnt« sich in kurzer Zeit auf sämtliche vier Stockwerke aus. Eine große Zahl fertiger und halbfertiger Möbel sowie Ma terialien aller Art wurden vom Feuer zerstört. Verhaftete Brlesmarkensälscher. Der Memeler Briefmarkenhändler Kurt Henning, seine Frau und der Buchdrucker Paul Dießner wurden wegen um fangreicher Verfälschungen von Flugpo-stmarken verhaftet. Die Verhafteten haben ein Geständnis abgelegt. Di« durch Verfälschung In sogenannte Raritäten verwandelten Marken wurden Zu 15 0^0 Mark das Stück verkauft. Henning hatte es in kurzer Zeit zum mehrfachen Millionär gebracht. Größere Mengen der verfälschten Marken wurden beschlagnahmt. Kabarett unb VariLtL Bnriets vaikenberg. Ter Andrang zu dem Gastspiel Paul Bocke'S ist so grob, datz allabendlich nicht Hun derte, nein Tausend«, umkchrcn müssen. Die Direktion bittet dader, Karrenbcstcllungen rechtzeitig, möglichst 1 bis 2 Tage vorher, vornehmen zu wotlen. Bunte Bühne — Saun. Der Vorrang gebürt obne Zweifel dem laciumden Philosophen mir dem Stift De in okri Io S. Schon die Vorbereitung zu seinem Äuf neten lassen eine besondere Urberraschung adnen, und dann kommt der Künstler selbst, dir kurze Pseise im Mund, den Schlapphur auf dem inreressantMr Kops. Er zaubert vortrefsliche Karikaturen, nette Bilder auf seine Glasplatten, bald steht man Herrn Stinnes, der alles kaust, bald Raffse einst und fetzt, bald den .Alten kMtz" im Dreispitz. kurz, die Erfindungsgabe des Mei sters ist unerschöpflich. Tie übrigen Kräfte trete,! De- mckritos würdig zur Seite. Eugen Streubler macht Ne dein Publikum bekannt, als gewandter Ansager und vielseitig begabter Vortragskünftler. Vom zarte« Geschlecht ist Hennv Lasit 1 r ans dem aleichen skach. Anmut und Kunstverständnis zeichnen ihre Vorträge aus. Eine deutsch-russische Sängerin bringt mit vtri Geschmack Lieder und Tänze idrer Heimat. Rita Taft, -je fesche Soubrette, schasst ihren Borträgen sofort Stim» mimg:-Werner Laspa'rt ist in Leipzig biülängltch bekannt. Ria und Sbard. das «rzenrrnchc Tänzer paar, zeigt Leistungen, wie man sie tn solcher Vollen dung nur ganz selten zu seoen bekommt. Zu der treff- lichen Stimmung trägt viel auch das Salon-Orchester Schletnitz-Dteinbrück-Hesse bei. Im Tro- kadero .Faun' zeigen sich die Künstler noch einmal in zwangloser Reibenfolge. Die Original Highlife Za;zband unter Kapellmeister Krienin-g freie« vier modernste Tonschöpsungen. Derelne und Vorträge Akademisch.sozialer Berlin. 12. Januar, Uhr, Hörsaal 19 der Universität. Normann K ö rb e r - Berlin über .Jugend und Versicherung-. Stadtbund Leipziger Fraurnvereine. Mittwoch, 10. Ja nuar, Auguste-Schmtdt'HauS. nachm. 4 Uhr, Hanptvrr« jammlung. Berichte über .Mtttelstandshilfe'. Gewalt geht vor Necht Drahtverichl unserer Berliuer «chrtstlektun, . Berün, 8. Januar. Reichskanzler Dr. Cuno gab heute Vertreten» amerikanischer Depeschenagenturen eine Erklärung gca<n die angekünLIgten französi chen Maßnahmen ad. Er wiederholte darin, daß Deutschland noch immer bereit sei. mit seinen Leistungen bis an die Grenze seiner Kraft zu gehen. Deutsch'and sei aber keineswegs gewillt, sich irgendeinem Zwang zu beugen. Das deutsche Volk werde, so sehr es seine Bereitschaft zur freiwilligen Leistung des Möglichen bewiesen habe, ebenso entschlossen sein, den Weg d«S Leidens zu gehen. Zwar könne die Regierung nicht Gewalt mit Gewalt entgegen treten, was sie alber in völliger Entschlossenheit und j voller Uebereinstimmung mit dem deutschen Volke tun könne, sei, die wirtschaftliche Unvernunft und Rechtlosigkeit -es französischen Vorhabens -er Welt im wahren Lichte zu zeigen. Frankreich versuche, die geplante Aktion mit dem Scheine des Rechtes zu bekleiden, indem es von Sanktionen und Pfän dern auf Grund des Versailler Vertrages sprech«, aber der Versailler Betrag geh« trotz seiner sonst!- gen Ungeheuerlichkeiten nicht so weit, den Alliierten beliebige Eingriffe auf deutsches Gebiet zu gestalten. Was Frankreich setzt plane, sej nicht die Aus führung eines vertraglichen Rechtes, sondern Ver tragsbruch und Gewalt gegen ein «ehrloses Volk. es Unter dem Vorsitz des Reichskanzlers Hal am Montag abend eine Ministerbesprechung sialtgesundcu. in der alle Möglichkeiten, die sich für Deutschland aus einer Besetzung Essens ergeben, erwogen wurden. Endgültige Entschließungen können allerdings erst gefaßt werden, wenn daS Vorgehen der französischen Regierung klargcstcllet ist. Dr. Luno über ben brutschen Sriedensvorschlag Berlin, 8. Januar. (Lig. D r a h t b e r i ch t.) Der Reichskanzler gewährte dem hiesigen Ver treter der Times «ine Unterredung über den von Deutschland vorgeschlagenen Friedenspak 1. Auf öle Frage, ob der Pakt nicht angesichts des Art. 10 der Völkerbundsakte überhaupt überflüssig gewesen s«i, erwiderte Dr. Cuno: der Artikel ver pflichte lediglich die Bundesmitglieber, die Unver sehrtheit des Gebietes und die bestehende politische Unabhängigkeit -er Bun-esmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Eine Verpflichtung liege aber nur für die Mitglieder des Bundes, nicht aber für Deutschland vor. Auf di« Frage, warum in d«m Vorschlag für die BertragszeN ein Krieg nicht überhaupt aus- geschlossen, jost-ern von einer Vot k sab st i m - MA N g abhängig gemacht würde, antwortete -er Reichskanzler, daß die Volksabstimmung die stärkste und zugleich zeitgemäßefte Sicherung gegen jede Kriegsmöglichkeit biete. Line festere Verankerung des Friedenswillens als die Ueberlassung der Ent scheidung an die Väter, Mütter und Frauen aller derer, di« sich mit ihrem Blut in einer solchen Stunde bewußt für den Krieg einsehen müssen, sei undenkbar. Aber ganz abgesehen von dem idealen und demokratischen Wert Les deutschen Vorschlags liege es doch auf der Hand, -aß der Weg der Volksabstimmung auch rein mechanisch durch den dadurch bedingten längeren Zeitablauf zur Folg« haben würde, etwa tm Entstehen begriffen« kriege rische Empfindungen zu unterdrücken. Anderseits hätte die deutsche Regierung nicht einen Augen- j bllck gezögert, einem Gegenvorschlag ihr« Zustim mung zu erteilen, der einfach den Regierungen für eine Vertragsdauer die Verpflichtung auferlegt hätte, keinen Krieg zu erklären, wenn der Gegen seite eine solch« Vereinbarung vorteilhafter er schienen wäre. Mitwisser der Prager Attentat» «tgenerDrahtberichtve» Leipziger rageblnite» Prag, 8. Januar. Im Befinden Dr. Rasch ins ist eine kleine Besserung eingetrelen, doch glauben die Aerzte, erst morgen mit Bestimmtheit sagen zu können, ob die Krise überwunden ist. Wie die Untersuchung ergeben hak, beabsichtigte der Attentäter, noch zwei weitere'Attentate, und zw-r gegen -en Oberdirektor der Zivno-Bank Dr. Preiß sowie eine andere Persönlichkeit, deren Namen aus -en Aufzeichnungen des Attentäters noch nicht entziffert werden konnte. In Deutsch. Brod wurden zwei junge Leute wegen Einverständ nisses mit dem Attentäter verhaftet. Ein Teil -er tschechischen Presse verlangte dringend dir Einführung eines Gesetzes zum Schutze der Republik nach dem Neuster Deutschlands. Lin politischer Prozeß in Prag Eigener Drahtbericht des Leipziger Tagebtntrr« Prag, 8. Januar. Bor -Lin Prager Schwurgericht begann heute der Prozeß gegen den Abgeordneten Dr. Bae- ran und den Rechishörer Schwabe. Dr. Baeran steht wegen seines Stinkbombenwurfes in der Sitzung Lhs Abgeordnetenhauses und wegen des Ber- brechens der Spionage vor Gericht. Der Rechts hörer Schwabe ist gleichfalls der Spionage angeklagt. In der Begründung der Anklageschrift wird aasge- führt, daß di« Tätigkeit Dr. Äaerans auf dem Hasse gegen den tschechischen Staat beruhe. Interessant ist die Zusammensetzung der Ge schworenen: 8 Frauen und 4 Männer. Heute wurde nur die Angelegenheit des Rechtshörers Schwabe verhandelt. Der Angeklagte widerrief das in der Voruntersuchung abgelegte Geständnis zum größten Teil und bestreitet, daß er sich in Warschau und Danzig alS Spion Angeboten habe. - - Deutschland lx>t sich damit einverstanden erklärt, an die Bereinigten Staaten für die während drs Krieges erfolgte Zerstörung der .Lousilania' vollen Schadenersatz zu leisten. ch«n den Zrau Mama Bon ^osslln» von H»l1r«n»t«ln (Hochdruck verboten) Halt, da kam sine Bahn. Rasch gleiten las sie die Schilder. Sie mochte nicht fragen, über sie glaubte, das sei nicht die rechte. Die kleine Enttäuschung und die Angst, nicht von -er Stelle zu kommen, fielen plötzlich so über ihre angegriffenen Nerven her, daß sie, im Augenblick ganz widerstandslos gegen das seelische un- körperliche Frostgefühl, förmlich von Kälteschauern geschüttelt wurde. Ihre Zähne zitterten gegeneinander, und sie hielt sich nur i.üt Mühe aufrecht. Ein alter Herr, der neben ihr stand, beobachtete sie und schüttelte mitleidig den Kopf. Da schosi ihr wieder die Röte in die Wangen. Alle Menschen konnten sehen, wie elend sie war. Nur fort, nur weiter! Sie wußte nicht mehr, was^ihysisches Kältegefühl und was Angst, Jammer und Elend in ihr war. Da rollte wieder eine Bahn heran. Mit dickvermummten, frierenden Menschen und Fenstern voller eisiger Bilder. Und wieder las sie die Schilder ab. Ja, das war die rechte. Sie zog ihre Börse. Wie verlangte sie wohl ihr Billett? Da hörte sie eine Dame sagen: .Endstation." Also gut. Sie reichte eine Mark hin: «Endstation!" Der Schaffner gab ihr Geld heraus. Dann saß sie unbeachtet zwi chen den anderen." Sie lächelte beinah ein bißchen. Ob einer von denen wohl ahnte, wohin sie fuhr? Aüf einmal war's ihr klar geworden, als sie das Wörtchen ausgesprochen hatte: Endstation. Di« letzte Station auf ihrem Leidenswege. Ein Ende! Ein Ende! Hinfohren un- nie mehr zurück. Nichts mehr erleben von allem, was sie so weit gebracht. Keine Demütigungen mehr, kein Mißverstanden werden, kein Haß, kein Nichtachsen. Vermissen tat sie ja keiner. Da brannte ihr Herz, und es drängte sich feucht in -le Augen. Der kleine Hansi vielleicht «tn bißchen, aber -er würde es jetzt ja nur besser bekommen, jetzt gvhörte ihm alles. O, sie hatte schon etwas rechnen gelernt. Jetzt würde er -er einzige Erbe sein. -Aber, wie fing sie es am besten wohl an? Da fiel ihr eine wunderschöne Geschichte ein von einem Mädchen, der der Liebste stirbt. Da geht sie hin in den Wintenoaid, legt sich unter einen hohen Baum und träumt, sie wäre bei ihm und er bei ihr, und schläft und träumt un wacht nicht wieder auf. Ja, so zu sterben. O, kalt genug wäre es heute dazu. Dre Bahn wird immer leerer. Man nähert sich den letzten Häusern. Nun sitzt nur noch die alte Dame da drüben, die sowieso zur End station will. Eise rüstet sich langsam zum Gehen, auch die Dame erhebt sich. Bon der Plattform sieht Else die ersten winterlichen Bäume ragen. Wahrhaftig, hier liegt ja noch Schnee. Und sie wandert auf den Wald los, als ob es so sein müßte. Lin Schulmädel, werden die Leute denken, das da drüben wohnt. Ach, was für kleine dürftige Bäume! Im ganzen sehen sie nicht häßlich aus heul« im Schnee (Schneewetter hat Fräulein Bonin gewiß nicht gemeint!). Aber sie will doch eine schöne Tanne suchen — nicht eine von diesen verkrüppelten Kiefern. Merkwürdig doch, wie klar jetzt ihr Ge dächtnis ist, trotz der durchwachten Nacht. Sie kann sonst niemals Wege wiederftnden, aber heute weih sie deutlich, hier ist sie einmal mit Mih Bakerly gegangen. Die hat geschimpft über diesen endlosen Weg (die Litern waren mit Bekannten vorausgefahren), sie aber hat sich über die wunderschönen großen Tannen ge freut, -ie gerade die grünen Spitzen hatten. In einem Halbkreis standen sie, un- unter Ihnen lag ein weiter schimmernder See. Ja, dorthin will sie non gehen. Ein gutes Stück Weg ist es freilich, doch sie hat ja noch Zeit, un- ob sie auch ein bißchen müde wird, was macht das aus? Nnr um so schneller wir- sie schlafen nnd um so süßer träumen. Das ist doch kein Un recht? Mit müden Schritten schleicht sie vorwärts. Hier, wo sie niemand sicht, kriecht sie frierend noch mehr in sich zusammen. Sie hängt die Mappe an den Arm un- stopft die Hände in die kleinen Taschen. Aber wozu läuft sie hier nun eigentlich und erträgt diese Schmerzen in Händen und Füßen? Wenn es nun doch aus mit ihr sein soll, kann sie sich diesen Leidensweg wohl auch ersparen. Poetisch findet sie das gar nicht. Aber — wenn ihr nun schon einmol jo erbärmlich kalt ish dann könnte sie sich eigentlich doch gleich hier irgendwo in den Schnee legen. Dann wird es bald mit ihr aus sein. Sie stutzt und steht still. Also gut, wozu erst diesen effektvollen Abschluß mit der hohen, schweigenden Tanne? Hier, «ln paar Schritte ab vom Wege ins Gehölz, wo sie keiner sehen kann, der vorbeigeht. Es ist zwar nicht wahr scheinlich, -aß hier überhaupt heute noch jemand vorbeigehen wird, denn sie hat auch bisher noch niemand getroffen. Und was sollte wohl in diesem greulichen Winterwal- jemand suchen? Es fängt hier schon an dämmrig zu werden, wie es ihr scheint, da wird heute sicher .niemand mehr kommen. Aber weit entfernt, daß dies Gefühl sie be ruhigt, vergrößert es noch eine unerklärliche Unruhe in ihr. Sie steht noch immer an der selben Stelle. Aber die Füße, so sehr sie auch schmerzen, sie wollen sich nicht heben. Und plötzlich wlr- die Unruhe groß und immer größer. Sie wächst ihr über den Kopf und nimmt alle Vorsätze und Pläne daraus fort. Un- plötzlich wird das Leid immer kleiner und immer weniger deutlich und fühlbar. Und etwas anderes beginnt den Platz in ihrem Herzen auszufüllen, den es einnahm — Angst, Angst! Unbändige, namenlose Angst. Und for§ stürzt sie, fort. Nur fort aus dieser schauerlichen Oede. Nur fort, ganz gleich wohin! Und sie lief dahin wie gejagt. Als ob das Entsetzen hinter ihr folgt«. Und sie hielt nicht eher still, als bis Mischen -en letzten spärlichen Bäumen hindurch deutlich die Straße schimmert«. Da stan- sie «inen Augenblick und überlegte. Was hatte sie denn nun getan? Sie war ganz feig davongelaufen. Vor ihrem eigenen Ent schluß un- Willen. Ach, was ging das sie an, was sie vorher bei sich beschlossen! Hatte nicht -as, was sie setzt beschloß, genau das gleiche Recht aus Ausführung? Und damit lief sie sclM mit eiligen Schritten dorthin, wo sie die Bahn fahren hörte. Sie sprang hinein und ließ sich beinahe mit einem Seufzer des Be hagens in den Sih sinken. Un- immer leichker wurde ihr zumute, als die Bahn nun anfuhr und sie immer weiter fortbrachte von -rr Stätte des Grauens. Das stetige Geräusch -es Wagens in den mattechellten Grunewaldstraßen hatte Else bäl- eingeschläfert. Nur ab und zu fuhr sie aus ihrem Nicken aus, in Angst, die Haltestelle zu verpaffen und dann womöglich am anderen Ende -er Stadt wieder in solch einer dunklen, ein samen Gegend himrusgeseht zu werden. Sie schlummerte aber immer wieder von neuem halb oder ganz ein, bis sie kurz vor dem Lützowplah sich krampfhaft wachhielt, um dann schlas- trunken herauszuklettern. Sie ging mit unsicheren Schritten am Kanal ufer entlang. War es nun Glatteis oder rutschte sie nur immer wieder aus, well sie -ie Beine nicht trugen? Plötzlich bemerkte sie, daß jemand, -er hier irgendwo aus einem Haus getreten war, ihr folgte. Sie verlangsamte ihre Schritte noch mehr, um ihn vorbeizulassen, denn ihr war, als ob sie noch unsicherer ginge, wenn jemand sie beobachten konnte. Der Herr kam näher und wollte vorbei. Da bei sah er ihr aber forschend ins Gesicht, un plötzlich sagte er: .Guten Tag' und Hot ihr die Hand. Es war Maz: Hogmann. Sie schritten ein Weilchen nebeneinander, und er bevoachteie, wie unsicher sie ging. «Geben Sie mir Ihren Arm", sagte er schließlich, «sonst rutschen Sie noch ganz aus." (Fortsetzung folgt.) verantworllich für den redaktionellen Teu (außer Handel): Chefredakteur Dr. Surr Schinwr: für Anzeigen: Hetnr. Balfer; beide in Leipzig. - Berliner Dienst: Thefrrdak' ir Dr. Erich Vvcrth. Berlin, UllstrinvauS. — Dresdner Dienst: Edm Welk, Dresden. glabelsberaer- straste 24. Kernipr. »17SS. - Druck u. Verlag: Leipziger BerlagSdruckrre«, «. m. ». H., Leipzig, JohanniSgafse L Die vorliegende Ausgabe umfaßt 1V Seiten
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