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VMIwoch, 4. Oktober 1939 Söchstfche Volkszeitung Nummer 233, Seite » Das Werk Elsa Brandströms Schlutz. Es ehrt die Menschenfreundin In hohem Motze, dntz sie Ihre Person ganz hinter ihr Werd zurücktreten lätzt. Wir sahen wiederholt, dass Bescheidenheit ein Kennzeichen der seelischen Haltung des schöpferischen Mepsci-en ist. „Alle grossen Männer sind bescheiden" (Lessing). Das gilt ganz besonders von den schöpferischen Mensci)en aus dem Gebiete der Liebestätiglieit, von ihnen gilt noch mehr als von allen anderen schöpferischen Menschen Goethes Wort: „Bescheiden freue dich des Ruhms, so bist du wert des Heiligtums", denn wahre Liebe ist immer Selbstverleugnung, Hingabe und Aufopferung des Ich. Die Hilfsarbeit Elsa Brandströms bemühte sich zunächst mit Erfolg um die Linderung des äutzeren Elends. Bon den vielen Geld- und Paketsendungen aus der Heimat gelangte so gut wie nichts in die Hände der Gefangenen, — fast alles war unterschlagen worden oder auf andere Weise abhanden ge kommen. So erkannten die matzgebende» Stellen in Berlin und Wien bereits im Frühjahr 1V15, datz es vollständig zweck los wäre, weitere Privatsendungen zu begünstigen. Es gab nur einen Weg, den Gefangenen durchgreifend zu helfen: Ein neutrales Rotes Kreuz mutzte die ganze Hilfsarbcit in die Hand nehmen. Das schwedische Rote Kreuz, an welchem Elsa Brand- ström entscheidenden Anteil hatte, nahm die Arbeit sofort auf. Die deutsche wie die österreichisch-ungarische Negierung stellten die Hilfsmittel zur Verfügung. Am 8. Oktober 1N15 verlieh die erste grotze Liebcsgabenscndung Satznitz und kam nm II. November in Irkutsk an. Nach und nach kamen aus Deutsch land und Oesterreich-Ungarn zusammen: 406»»» vollständige Uniformen, 1 275 00» Unterkleider, 20» 0»t> Decken, 1N5»»» Pakete. Dazu Arzneimittel, Instrumente, Serum, Verbandsstosse, Des infektionsmittel — von Sendungen in barem Gelbe gar nicht zu reden. Wie schwierig aber die Weiterleitung und die Ver teilung der Liebesgaben war, ist kaum zu beschreiben: bald fehlte cs an geeigneten Güterwagen, bald gefährdeten Spionage furcht oder Mitztraucn die Arbeit. Wiederholt wurde Elsa Brandström in Hast genommen. Erst nach langen, uncrmüd- demir eingerichtet, an dem 15» Gefangene teilnahmen und sich so auf das Reifezeugnis vorbereiteten. Einem Kriegsgefange nen deutschen Drucker gelang es, eine eigene Lagerdruckerei cinzurichten. Ein Kriegsgefangener satzt sein Urteil über die Lagcrhochschule von Krasnojarsk so zusammen: „Wir bauten uns wie Besessene in kurzer Jett eine Kultur aus vom selbstge- ,zimmerten Tisch bis zur sgmphonischcn Musik. Wir rekapitu lierten die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Wir nahmen den Kampf gegen Schwermut, gegen körperlichen und geistigen Verfall, gegen Verzweiflung und Entartung auf. Be feuert durch die guten Nachrichten von der Front, schufen wir Wohlfahrtsinstitulionen, Bibliotheken, richteten Hochschulkurse ein, gaben ein eigenes Lagergeld aus, hatten eine Clearing stelle, Orchester mit selbsterbauten Instrumenten, Gesangvereine, Turnricgen und auch das tägliche Brot des Europäers — unsere Presse. So erbauten wir uns in den endlosen Monaten der Jahre 1016 und 1017 eine Kultur, vor der die Russen staunend standen." In einigen Lagern konnten Dramen, Opern und Operetten, Symphoniekonzerte und Oratorien aufgesiihrt wer den. Es leuchtet ein. datz dieser Sieg des schöpferisclren Geistes über das seelische Elend der Gefangenschaft nur durch die tat kräftige Hilfsarbeit des schwedischen Roten Kreuzes möglich war. Durch diese Liebestätigkeit aber konnte der Kampf zum Siege führen und. wie Elsa Brandström sagt, „Männer zu einer Reife gelangen lasse», die das gewöhnliche Leben nur selten erstehen lätzt." Iluch nach Kriegsende setzte Elsa Brandström ihr »rohes LIebcswerk fort. Sie errichtete das Sanatorium Marienborn- Schneckwitz in Sachsen, ein Moor- und Schwefelbad, wo ehema lige sibirische Kriegsgefangene fast oder ganz unentgeltlich Hei lung finden sollten. Im Kinderheim Schloh Neusorge bei Alt mittweida (Sachsens, einer weiteren ihrer Stiftungen, werden etwa 8» Krlegswaiscn als Stammkinder und 150 ivcchselnde Erholungskindcr betreut. Vergleiclzen mir das grobe Llebeswcrk einer Elsa Brand- ström mit dem schöpferischen Werk eines Erfinders, Forschers oder Künstlers, so müssen wir zugeben, datz es ungerechtfertigt Ist, die Offenbarung schöpferischen Menschentums in Kunstwer ken, Entdeckungen, Erfindungen, Neuerungen zu suchen und darüber das schöpferische Menschentum in Liebeswerken oder In der Entfaltung der grotze» sittlichen Persönlichkeit zu über sehen. Wir müssen uns losmachen von einer solchen einseitigen Erfassung des Begriffs des „Schöpferischen". Der Schöpfer eines grotzen Liebeswcrkes ist für Volk und Menschheit min destens ebenso notwendig wie der Dichter eines überzeitlichen Literaturwerkes. Die Menschheit könnte nicht bestehen ohne die Geisteshelden und -Heldinnen der Liebe — wir nennen Na men wie Pestalozzi, Don Giovanni Bosco, Vater Bodelschwingh und Elsa Brandström. Durch das ausopserungsreichc Werk Elsa Brandströms er hielt das Leben Hunderttausendcr wieder Inhalt und Ziel, und zwar gerade in einer Zeit, welche besonders trostlos er schien infolge der niederdrückenden Nachrichten ans der Heimat, der Unabsehbarkeit des Krieges und einer Not, die kaum noch tragbar war. Man hat einmal gesagt: „Genie ist Liebe. Daran ist richtig, dah es kein schöpferisches Menschentum geben kann ohne Liebe. „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel reden könnte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. — Und wenn ich die Gabe aufrüttelnder Rede besähe und alle Geheimnisse wühte und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besähe, so dah Ich Berge versetzen könnte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts. — Und wenn ich alle meine Habe an die Armen verschenkte und meinen Leib dein Fcuertode preisaäbe. aber keine Liebe hätte, so nützte cs mir nichts". Tic Liebe ist nach diesem alten religiösen Texlworte die lebendige Quelle, das Lebenszenirum alles schöpferischen Wirkens. — Eine Hock form dieser Liebe ist die Liebe zu den Menschen, die auf opfernde Nächstenliebe. Von dieser Liebe gilt, wenn sie wurzel echt und schöpferisch ist, das Wort: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist freundlich, ist frei von Neid: die Liebe prahlt nicht, sic bläht sich nicht auf: sie ist nicht rücksichtslos, sie sucht nicht Ihren Vorteil; sic lässt sich nicht erbittern, sie trägt das Böse nicht nach, sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich vielmehr der Wahrheit: sie entschuldigt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erträgt alles. Die Liebe höret niemals ans." Das schöpferische Menschentum erfüllt und vollendet sich In der Liebe, die aus dem Glauben hcrvorgnillt und in der schöpferischen Tat mündet. Aanrerad, rveitzt Du es noch? /d//c und ich; r> 'M G „Arbeit und Leben!" stampften die Maschinen, dröhnten die Hämmer, die das Eisen zu friedlicher Arbeit formten. — „Segen und Brot!" fangen die Stcl)eln, die das goldene Korn schnitten. Glücklich und zufrieden war die Welt, bis die furchtbaren Schüsse von Scrajewo den Erdkreis erschütterten. Eine un heimliche — die dunkelste Kriegswolke, die die Erde je gesehen, ballte sich über Europa zusammen und sic brachte das gröhte Sterben, das die Menschheit je erlebt hat. „Wird cs ein Unwetter, ein alles verheerendes, oder wen det cs sich noch einmal ab?" — Bang stand diese Frage auf oller Lip;>cn. Aber die Apoknlpptischen Reiter sattelten ihre Pferde. Krieg! hich fortan das Losungswort. Gleich lodernden Flammen schlug trotzige Begeisterung durch die Lande und entzündete die Herzen; einig und voll Siegeszuversicht stand das Volk und simgend zogen die Regi menter über des Vaterlandes Grenzen. Mit tausend guten Wünschen begleitete die Heimat die auszlehcnden Truppe», zitternde Hände schwenkten Tücher und warfen rasch welkende Blumen. Denkst Du auch noch an die Märsche, Kamerad, an die endlos langen Märsche? Wenn die Sonne vom Himmel brannte oder der Sturmwind kalten Regen und schwarze Wolken durch die Nacht peUschte und Dir den Atem nahm? Durch den .Tag und durch die Nacht bist Tu marschiert und hast nicht gemutzt, wohin der Weg führt nnd wo er enden wird. Bleiern hast Tn Deine Fühe durch den Schlamm ge zogen und Dein Rücken wurde krumm unter der Last des Tornisters, der Deine ga»ze Habe enthielt. Du bist auch zuweilen kleinmütig geworben, hast geklagt oder gebetet oder geflucht, bis grenzenlose Müdigkeit im Halb schlaf Dir Bilder der Heimat lebendig werden lieh: Tas kleine Haus, der murmelnde Bach, der heimatliche Wald, die weiten Felder, das Dorf, die Wohnstube mit ihren lieben Menschen, denen Du etwas warst. schirrten. Die Blut. Wie die Luft kroch wie ..... , zählige Granaten zerrissen und zerwühlten. „Tod!" — pfiffen die Kugeln, die i» breiten Garben über das Sturmgeländc fegten. „Tod!" — heulten die Granaten und fratzen sich in die Bohlen der Unterstände. „Tod!" — brüllten die Minen, die in schauerlichen Sprün gen über das Niemandsland iorkeltcn und den Boden bis zum Grundwasser aussprengten. „Tod!" — knatterte» die Maschinengewehre, die sich auf die an die Erde gepretztc» Feldgrauen richteten. Da» Gesicht rMtteleuroxa» nach Abschluß be« Grenz, und Freundschaft-Vertrages v-wschl-nd - Rukland IME». Stickig und verbraucht war die Luft im Unterstand, im engen, feuchten Stollen, den Tu Tir tief in die Erde grubst. Arif dem Boden stand ein Licht: Eine Kerze im Hals einer zerbrocl>enen Flasche. Einer putzte die Treckkrnste vom Geivehr, ein anderer schrieb einen unbeholfenen Bries an ein blondes Mädel, das voller Sehnsucht und Bangen war. Und seit Tagen schon heulte und krachte cs ohne Unter latz, trommelte unaufhörlich der feindliche Stahl gegen die Stellungen, um die feldgraue Schar zu zermürben und zu ver nichten. Bis dann plötzlich mit einem Schlage das Feuer schwieg, weil die von der anderen Seite zum Sturm antratcn, aus dem ein blutiger, verzweifelter Nohkamps wurde, in dem «s kein Erbarmen gab. Was eine Dichterin über die Frauen sagte Aus Marie von Ebner Eschenbachs Aphorismen: „Eine gescheite Fran hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer." „Eine Vernunftsehe schlietzen hcitzt in den meisten Jällcn- alle seine Vernunft zufammcnnchmcn, um die wahnsinnigste Handlung zu begehen, die ein Mensch begehen kann." „Der kleinste Fehler, den ein Mensch »ns zu Liebe ablegt, verleiht ihm in unseren Augen mehr Wert als die grössten Tu genden, die er sich ohne unser Zutun anelgnct." „Wehe der Frau, die nicht im Falle der Not ihren Mann zu stehen vermag." „Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht In Erfül lung gegangen sind. Wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat." Nu» war feder plötzlich nicht mehr er selbst, sondern nur einer unter den Millionen, die nach Westen und Osten mar- Erde brannte und rauchte und färbte sich rot von Schwursingcr starrten zersplitterte Baumstümpfe In Ter giftige Hauch von Pulver, Gas und Dynamit ein unheimlicher Schleier über den Boden, den un- Mehr als vier Jahre ginnen so dahin. Sie zählen doppelt und dreifach. In dieser Zeit bist Tu alles gewesen: Ei» stähler ner Block, an den: alles abprallte und ei» angstgeguälles Ner- m-nbündel; ein hilfloses, betendes Kind und cm unvergleichlicher Held, an dcm sich die Heroen der Antike nickt messen können. — Und dann war plötzlich alles aus: Ma» zerschlug die eiserne Wehr und besudelte die siegreich» Fahnen. Alles war umsonst gewesen: Das Hungern und Frieren, das endlose Marschieren, die Verwundung, die schlasloseu Nächte, der Treck und die Läuse, der guälcndc Tuest und die 2 Millionen Toten! Scheu gingen wir zurück in die Heimat, die uns irewd geworden war. Andere gaben an, Maulhelden und Schaum schläger, und Du wurdest ansgclacht. Bis einer kam, der das gleiche erlebt hat wie Du und ich; einer, der die Männer aufriittelte. indem er ihnen das ins Ge dächtnis rief, was sie geleistet und woraus sür sie ein eherne» Recht erwuchs. Und da war plötzlich wieder die stählerne Wehr, und die besudelten Fahnen dursten sich wieder zeigen, und Du konntest wieder stolz darauf sein, dass Du dabei warst. L. Sch. lichcn Bemühungen gelang cs, sich durchzusetzen. Die schwe dische Delegation wurde das Bindeglied zwischen den Gefan genen und den zaristischen Behörden. Besondere Verdienste erwarb sich die grosse Menschen freundin durch ihre aufopfernde Mitarbeit beim Invaliden- Austausch. Alle Schwervcrwnndctcn und Kranken, deren Ge brechen, Verwundungen und Leiden ihre militärische Verwen dung ausschloss, sollten ausgctauscht werden. Die Hoffnung, wieder in die Heimat zu kommen, gab den Unglücklichen neue Kräfte. Um nach Hause zu gelangen, war keine Anstrengung zu gross. So schleppten sich hundert Invaliden auf Krücken und Stöcken sieben Kilometer weit vorwärts zur nächsten Bahnstation. Oft machte noch in letzter Minute unglaubliche Willkür der Hoffnung ein Ende. Viele Invaliden mussten dann wieder nach Sibirien oder Turkestan zurücksahren. Trotz aller Schwierigkeiten aber gelang es, zusammen 20168 invalide Kriegsgefangene zu betreuen und in ihre Heimat zurückzu geleiten. Mit beispielloser Aufonserung nahm Elsa Brandström den Kamps gegen die seelische Not der Gefangenen aus. Ein grosser Teil der Gefangenen litt unter der erzwungenen Arbeitslosig keit nnd blieb lediolich auf die Arbeiten im Lager selbst ange wiesen, z. B. Krankenpflege, Kochen, Wasserbolen, Holzhacken. Sollte der Kampf gegen Schwermut erfolgreich ausgenommen werden, so musste den Gefangenen eine sinnvolle Befchästigung zugewiescn werden. Das aber war nur möglich, wenn ihnen genügend geeignete Hilfsmittel, wie Bücher, Musikinstrumente, Werkzeug zur Verfügung standen. Unter den Gefangenen gab es künstlerisch Begabte — Maler, Bildhauer, Musiker, Schau spieler. Chöre und Orcl>ester entstanden nach und nach; na mentlich die Musik hals das Elend der Gesangenenpsychosc überwinden. Mit der Zeit gelang cs, Untcrrichtskurse einzu richten. Vorträge über höhere Mathematik, Statik, Elektro technik, Chemie, Hochbau, die verschiedensten Sprachen, Philo sophie, Rechtswissensä;ast, aber auch Elemcntarkurse, z. B. in Buchführung und Stenographie, wurden von entsprecl-end vorgcbildeten Gefangenen gehalten. Im Kriegsgefangenenlager von Krasnojarsk entstand so ein allgemein-technisches Lyzeum mit technischen und allgemein bildenden Vorlesungen und Kur sen. Die Delegation des schwedischen Roten Kreuzes setzte es durch, dass eine Bücherei angeschafft werden konnte. Im März 1917 befass sie 140» Bände. Noch umfangrciclier war die Lager bücherei von Chabarowsk. Viele Gefangenenlager In Sibirien wurden zu wahren Kulturzentren. Insgesamt sind den Ge fangenen etwa zwei Millionen Bücher zugegangen. In Krasno jarsk wurde sogar ein „Abiturientenkursus" der Handclsaka- Und mitten in dieser schauerlichen Zone des Todes lagst Du, Kamerad, hast mit übernächtigem Gesicht und zitternden Händen das Gewehr an die Backe gerissen, die so gelb war wie der Lehm, der nun Dein Leben gefangen hielt. Das Gesicht der Erde war anders geworden, dumpf nnd gespensterhaft, aber auch Du wurdest verwandelt. Tein Ne benmann fiel und .als Du sahst, dass Du allein im Trichter liegst, hast Du stumm seinen Leichnam beiseite gelegt, hast seinen Platz einaenommen und die Zähne zusammengcbissen, datz Deine Zikze kgr» wurden wie Erz. In gedrängten Minuten hast Du mehr Not gelitten und mehr Grauen gesehen wie andere in ihrem aanzen Leben. Hundertmal wollte auch Dir der Tod seine knochige Hand auf die Schulter legen. Er nahm den Kameraden van Deiner Seite und nicht Dich. Warum? — So fragst Du heute noch und nie wird Dir aus diese Frage Antwort. Illllllstst rw , «v «V »V s ) . , . , f ckEvko- -^2»^ //s