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Sächsische Volkszeitung : 23.10.1939
- Erscheinungsdatum
- 1939-10-23
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-193910233
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19391023
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19391023
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1939
-
Monat
1939-10
- Tag 1939-10-23
-
Monat
1939-10
-
Jahr
1939
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 23.10.1939
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Anna-Ainalia, eine deutsche Fürstin Juni Gedächtnis ihre» 200. Geburtstage« anr 2H. Oktober von Geh. Regierungseat Professor Vv. R. h. Grützinachev Goethe bekennt In einer Rebe zum feierlichen Andenken -er Herzogin Anna-Amalia: „Der Lebenslauf der Fürstin, -crcn Andenken wir heute feiern, verdient mit und vor vielen anderen sich dem Gedächtnis einzuprägen." Das gilt auch noch bei der Wiederkehr ihres 200. Geburtstages, denn cs handelt sich um die Gestalt einer echt deutschen Fürstin. Als fünftes Kind des Herzogspaares von Braunschweig geboren, war sie Surch ihre Mutter eine Nichte Friedrichs des Grotzen. Sie war ihm nicht nur äusserlich ähnlich — besonders im Ausdruck ihrer Augen —, sondern auch In der inneren Stellung zu ihren sürst- uchcn Pflichten und in ihrer Haltung gegenüber dem Schicksal. Früh wurden Anna-Amalia schwere und ernste Aufgaben gestellt. Mit 10 Jahren mutzte sie den Herzog von Weimar heiraten. In echter und doch unsentimentalcr Empsindung schildert sie in eigenen Aufzeichnungen ihre Erlebnisse: „Im 17. Jahre wurde ich zum ersten Male Mutter. Könnte ich das Gefühl beschreiben, welches ich bekam, als ich Mutter wurde. Es war die erste und reinst« Freude, die ich in meinem Leben hotte. Mir war. als wenn ich von verschiedenen anderen neuen Empfindungen entbunden worden. Mein Herz wurde leichter, mein Sehnen klarer: ich bekam selber Zutrauen zu mir." — Dieses Zutrauen brauchte die Fürstin, denn ihr kränklicher Gemahl starb schon mit 21 Jahren und hinterliess ihr nicht nur die Pflichten der Mutter, sondern auch die der Negierung. „In meinem 18. Jahre fing die grotze Epoche meines Lebens an. Ich wurde zum zweiten Male Mutter, wurde Wittib, Ober- oormiinderin und Regentin. Ich sah auf einmal das Grotze, mos aus mich wartete, und fühlte daneben meine gänzliche Untüchtigkeit." In Wirklichkeit wurde Anna-Amalia eine gute Regentin, die im Rahmen der begrenzten Mittel des kleinen und armen Herzogtnmes und der ihr auserlegten Hemmungen durch die Händische Verfassung für ihr Volk andauernd und erfolgreich sargte. Eins der gemeinnützigsten Werke unter ihrer Regent schaft mar die Einführung der Feuerversicherung, -ie Hab und Gut der durch reichliche Brände geschädigten Untertanen sicherte, (gerade als Frau und Mutter bekümmerten sie die zahlreichen Fehlgeburten und eine erhebliche Kindersterblichkeit. Sie ernannte 1771 ihren Hoschirurgcn zum „Provinzial- kouchcur" der die Geburten und sonderlich auch die helfenden Frauen zu überwachen hotte. Ihre Hauptaufgabe sah die Herzogin in der Heranbildung chrer beiden Söhne, Karl-August und Konstantin, zu deutschen Fürsten. Sie suchte die in ihrer Zeit führenden Männer zu gewinnen, zunächst Wieland, dann Goethe. Durch ihre Ver sammlung in Weimar schuf Anna-Amalia den 'Mittelpunkt für die deutsche Dichtung. Wesentlich durch diese Fürstin entstand ^as Weimar, von dem Goethes Mutter — Anna-Amalia ver stand sich aufs beste mit ihr — bekannte: „Gott sei Dank, dotz es ein Weimar aus der Welt gibt!" Als die Fürstin noch in jungen Jahren die Regentschaft abgab, zog sie sich unverbittert und ohne Eingriffe in die Regierung des Sohnes in ihr persönliches Leben zurück. Das schlichte Wittumspalais in Weimar und die Bilder, die Anna- Amalia hier an ihren Le-seabenden zeichnen, wie das einfache Haus in Tiefurt mit seinem Park, vermitteln noch heute eine deutliche und ergreifende Anschauung, wie Anna-Amalia Jahr zehnte als Förderin alles Schönen lebte und wirkte. Das grötzte Erlebnis wurde für sie wie für andere Weimaraner Italien. Dorthin reiste sie 1788 und verweilte sechs 'Monate in Nom und ein ganzes Jahr in Neapel. Die Fürstin schrieb an Goethe: „Ich fühle mich hier ganz selig und wünsche mir keine andere Existenz." Allein auch im Süden blieb Anna- Amalia Deutsäle und vertrat ihr Vaterland mit grotzer Würde. Nicht nur ihre Hofdame, von Gocchhausen, berichtete: „Noch nie ist wohl einer teutschcn Fürstin in Rom so begegnet worden", sondern auch ein fernstehender Beobachter, Schütz, bekannte: „O welche Dame! Ueberhaupt eine Gesellschaft, die der ganzen deutschen Nation ihre Ehre wieder in Rom aus festen Fuß setzt und ich nun aufs neue stolz bin, ein Deutscher zu sein." Nach ihrer Heimkehr pflegte Anna-Amalia ihr in Italien gewonnenes Kunstverständnis durch eifriges Studium und be tätigte weiter ihr Interesse für die deutsche Literatur, beson ders durch regelmäßige Besuche des Theaters. Sie nahm aber auch ernsten Anteil an dem Geschick ihres eigenen Herzogtnmes und ihres weiteren deutschen Vaterlandes. Aiwa Amalia erlebte noch die schweren Niederlagen im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Eie selbst mutzte überdies vor Napoleon flüchten. Tiefer als dies äutzere Erlebnis erschütterte sie die innere Haltung weiter Kreise. So schrieb sic am 4. Februar 1807: „3" jetziger Zeit mutz man Geduld und Festigkeit haben, um nicht sortgeschleppt zu werden mit dem grotzen Haufen, um nicht auch so schlecht zu werden, wie er, denn Nechtsä)afsenheit und Redlichkeit gibt es nicht mehr." — Anna Amalia hat sich als deutsche Fürstin nicht nur durch Erfüllung ihrer Pslichten als Mutter und Regentin in den Tagen der Jugend, als Förderin deutscher Kunst auf der Höhe ihres Lebens bewährt, sondern auch im Alter durch würdige Abwehr der Erniedrigung Deutschlands. Vor der neuen Er hebung ihres Vaterlandes ..schied sie aus der Gcsellsämst der Ihrigen am 10. April 1807. wie sie gelebt hatte". Nach den Schlußworten von Goethes Rede zu ihrem Andenken behielt sie „den Vorzug edler Naturen, datz ihr Hinscheidcn in höhere Regionen segnend wirkt, wie ihr Verweilen auf Erden, datz sie uns von dorther gleich Sternen entgegcnleuchtet, als Richt punkt, wohin wir unfern Lauf bei einer nur zu oft durch Stürme unterbrochenen Fahrt zu richten haben". Gandhi auf der Pilgerfahrt / Man hat mich alsbald nach der Ankunst in Indien von verschiedensten Seiten her belehren zu müssen gemeint, datz «» mit Gandhis össentlick)«m Einsluß völlig zu Ende, ja datz «r gar, wie etliche es formulierten, zur lächerlichen Figur ge worden sei. Man rechnete ihm einige schwere politische Fehler des letzten Jahrzehnts nach und ivar überzeugt, datz seine Rolle in Indien nun endgültig ausgespielt sei. Mich halte das alles nicht davon abbringen können, eine Begegnung mit Gandhi sest in meinen Rciseplan auszunehmen, und fraglich war mir nur, ob sie zustande kommen könne: denn Indien ist grotz, und die Wege des Mahatma lang. Würden unsere Stratzen sich kreuzen? Da war es denn nun eine merkwürdige Tatsache, datz vom ersten Tage an durch all die Wochen meines Aufenthalts in Indien hindurch die öffentliche Press« tagtäglich von Berichten über Gandhi voll rvar. Wieder «inmal war es ihm gelungen, vsn Dv. Erich Stange soeben, kurz vor unserer Ankunst in Indien, der junge, neu auf den Thron gekommene Maharadscha des Landes, beraten von seiner Mutter und seinem Grotzivesir, ein Edikt erlassen, durch das mit einem Male den Kostenlosen die ihnen bisher verschlossenen Tempel zur Anbetung geössnet wurden. Für indisches Empsinden war das ein autzerordentlicher Schritt. Einen Augenblick lang ging ein Murren durch die Kreis« der Vrahmanen, das sich auch in allerlei juristischen und theologischen Erörterungen in den Spalten d«r grohen Tages presse Luft machte. Aber die Durchführung der fürstlichen An ordnung war ossenbar nicht mehr auszuhalten. Da entschlietzt sich Mahatma Gandhl zu einem entschet- dungsvollen Akt. Er bricht von seinem Sitz In Nordindien aul und stellt lick in einer grotzen Pilgersahrt an di, Spitze der Zehntausende von Kastenlosen, di« nun in Travankore von Stadt zu Stadt ziehen, um in die ihnen neu geöffneten Tempel Einzug zu halten. Wo er hinkommt, versammeln sich ungeheure Menschenmassen, zu denen er täglich mehrmals spricht: Behör- den und Fürsten empfangen ihn. Dann tritt er schweigend in die Tempel ein, deren Besuch er sich bisher freiwillig versagte. „Dieser Besuch in Travankore". so erzählt er einem Besucher gelegentlich, „ist tatsächlich im vollen Sinne des Wortes eine Pilgerfahrt für mich. Wenn ich früher Tempel, die den Un berührbaren verschlossen waren, gelegentlich dock; besuchte, so tat ich es nicht als Pilger, sondern als Tourist zur Besichtigung oder zu anderen Zwecken. So ist dies jetzt die allererste Pilger fahrt meines Lebens." Schon solche Aussprüche machen deutlich, datz cs ihm hier um mehr ging als um die Verherrlichung einer sozialen Tat von wahrhaft revolutionärem Charakter. Kein Zweifel zwar, datz diese Seite der Angelegenheit ihm, dem alten Vorkämpfer gegen die Schmach des indischen Kastenwesens, mit seiner Bcr- gewaltigung von 70 Millionen Menschen, ans Herz ging. Aber er nahm die Sache nicht nur als „Mittel zum Zweck", sondern in ihrem innersten Sinne. Das wurde mir nirgends so deutlich, als an einer Stelle seiner Reden, wo er fast ergreifende Töne anschlägt. Er wirst dort di« Frage aus, was denn die Tempel selbst im Leben des Hin duismus zu bedeuten hätten, und rüst dann seinen Zuhörern zu: „Ihr und ich, wir haben herauszusinden, ob wirklich der leben dige Gott in diesen Tempeln wohnt. Ich versichere euch: unser Suchen bleibt vergeblich, es sei denn, datz wir unsere Herzen da hineingeben und auch unser Denken sorgsam gebrauchen." Mit grotzer Spannung wartet man jetzt, was der weise Mann sagen wird. In aller Demut spricht er auch aus, er wisse, wie ein solches Suchen vor sich gehen könne. Aber dann — bricht er plötzlich ab: „Ich kann bei dieser Frage aus einer so eiligen Rundfahrt wie dieser nicht verweilen" — merkwürdige Aus flucht für einen, dem täglich Zehntausende gespannt stundenlang zuhören. Immerhin nennt er diese Proklamation von Travan kore den „Beginn eines notwendigen Prozesses zur Reini gung des Hinduismus" und wird nicht müde, seinen Zuhörern, zumal den Kastenlosen, zuzurusen, das neugcschcnkte Recht des Tcmpelbesuches ernstzunehmen. Was geht da in Gandhi vor? Das war die Frage, an der ich oftmals rätselte, wenn ich jeden Morgen die spalten langen Berichte über seinen Triumphzug und seine Reden in den Tageszeitungen las, und die mir dies Antlitz selbst mit seiner Mischung von Sarkasmus, Ironie, Güte und Weisheit aufgab, als ich ihm dort unter dem Sonnenbrand des Ianuartagcs gegenübersatz. Noch vor wenigen Jahren hat einer der führenden Missionare Indiens geschrieben, Gandhi sei durch sein Leben und seine Anschauungen und seine Methoden das Werkzeug geworden, durch das viel Interesse an Christus er weckt worden sei. Und ein anderer, der während Gandhis einundzwanzigtägizer Fastenzeit dessen Zeitschrift „Poung Indla" herausgab, schlotz seine Betrachtung über den leidenden Mahatma: „Als ich auf ihn schaute und die Bedeutung von allem ersatzte, fühlte ich wie nie zuvor in meinem eigenen Leben die Bedeutung des Kreuzes." Damals freilich war Gandhi noch ganz der Politiker Im engeren Sinn des Wortes, und es ist wohl glaubhaft, datz da mals die indirekten Auswirkungen seines Handelns der evan gelischen Verkündigung stark den Weg bereitet haben Jetzt aber wurde sein Blick weiter und umfassender. Ter Politiker wurde zum Pilger — und blieb doch dabei im tiefsten der Freiheitsheld Indiens. Gandhi Hai erkannt, datz In- diens letzte Frage und der Schlüssel seiner Zukunft die Religion i st. Ihr hat er sich deshalb zu- gewandt und als einer der grotzen „Gurus", der heiligen Lehrer Indiens, wird der Name des einstigen Rechtsanwalts und Politikers in die Geschichte seines Volkes eingehen. Das scheint mir das Kennzeichnende und so überaus Bedeutsame der gegenwärtigen Haltung Mahatma Gandhis. Diese Schilderung der religiösen und politischen Wirksam keit Gandhis gibt Dr. Erich Stange in seinem Aussatz „Ein junges Volk sucht Führung". Er ist ein Teil der unter dem Titel „Jung-Indien, wie wir es erlebten" heraus gegebenen Reisebericht« (Verlag I. F. Stcinkopf, Stuttgart). Als England noch eine Insel rvar... Frühere Feinde an seinen Aüften auf einer seiner überraschenden Reisen die Augen eines ganzen Volkes auf sich zu lenken. Er war das Tagesgespräch — säst so wie einst während der Wochen seines qualvollen Fastens. So lernte ich ihn, längst ehe ich ihm Auge in Auge gegenüber stand, gründlich kennen — nicht wie man sein Bild in euro päischen Büchern gezeichnet findet, sondern ganz verwoben in den eigentlichen Hintergrund Indischer Oesfentlichkeit. Diese indische Oesfentlichkeit war ja nun aber gerade in den ersten Wochen des Jahres 1937 auf das tiefste politisch erregt: Auf Grund der neuen Verfassung Indiens, die das englische Parlament nach so sehr mühsamen Vorbereitungen endlich verliehen hatte, sand zum ersten Male die Wahl zu gesetzgebenden Körperschaften Indien» In allen Tellen des Landes statt. Eine Well« von politischer Propaganda flutete über Indien. Svahlvcrsammlung folgte auf Wahlversammlung. Und es war damals schon vorauszusagen, datz die „Kongretz- >>arrei" — dle eigentliche Freiheitsbewegung Indiens — «inen überwältigenden Sieg davontragen werd« — so wir es dann auch tatsächlich gesä-ah. Es war der Triumph Gandhis. Denn daran konnte und kann kein Urteilsfähiger zweifeln, datz er es gewesen ist, der durch seine eigenartige Revolution des „Nichtwiderstehens" und des „passiven Widerstandes" erstmals die gleichgültigen und ungeformten Massen Indiens zu poli tischem Wollen ausgeriittelt und zu «inigermatzen einheitlichem Handeln zusammengeschwcitzt hat. Man hätte also erwarten sollen, datz er es sein würde, der im Mittelpunkt« dieses Wahl- lampses stand, und datz es seine Wahlreden waren, von denen die Presse voN war. - Nichts von alledem traf zul In dieser entscheidungs schweren Kampsstunde Indiens, die doch recht eigentlich der Freiheitskampf seines Lebens war, also sein Kampf, nahm Gandhi nicht ein einziges Mal zu einer politischen Rede das Wort. Seine» Entschluß, datz er sich aus der „Politik" zurück zieh«, hielt er ausrecht. Kaum datz er etwa auch an jenem Nachmittag, als ich ihn dort in Guntur Uber die Folgen einer Wirbelsturmkatastrophe sprechen hört«, ein paar leise, ironische Bemerkungen gegen die «nglksche Verwaltung «Inslocht. Statt dessen kehrt« er soeben von einer mehrwöchigen Reise zurück, die er selbst eine „Pilgerfahrt" nannte und bei der er durch täglich« Reden und Aufrufe di« Oesfentlichkeit Indiens in Atem gehalten hatte. Das kam so: Im Eüdwesten Indiens liegt Travankore, einer der halb-souveränen indischen Staaten. Dort ist seit alters das Kastenwesen besonders starr und geht so weit, datz bis vor einigen Jahren den „Unberührbaren" sogar das Be treten bestimmter Straßen verboten war. Andererseits ist dort in Travankore der Anteil der Christen an der Bevölkerungs zahl besonder» stark, und das Erwachen der Parias aus der Gleichgültigkeit über ihr menschenunwürdiges Los führt den christliche» Kirchen immer gröber« Massen zu. Da hatte nun Das Wort des Führers, datz cs keine Inseln mehr gibt, fängt an, sich in einer für England erschreckenden Weise als Wirklichkeit zu erweisen. Die ganze englische Politik war ja seit Jahrhunderten darauf gegründet, datz England durch seine glückliche geographische Lage für seine Feinde so gut wie un angreifbar war. Sogar im Weltkrieg blieb dieses Sicherheits gefühl des Engländers, obgleich cs durch die deutschen Zeppe linangriffe und durch die Beschießung der englisckien Ostküsten seitens der deutschen Kreuzer erschüttert wurde, doch noch im wesentlichen erhalten. Nach dem ersten Angriff der deutschen Kreuzer auf Aarmouth und Sarborough im Dezember 1914 schrieb die „Daily Mail" in ihrem Leitartikel: „Gestern war es zum erstenmal in zwei Jahrhunderten, datz britische Städte von einem fremden Feind beschossen wurden und britisches Blut auf britischem Boden vergossen ward." Diese für einen Engländer ganz überwältigende Tatsache, datz „britisches Blut auf britischem Boden vergossen wird", wiederholt sich nun in einem auch 10k4 nicht entfernt geahnten Ausmatze und erschüt tert die Grundlagen englischen Selbstvertrauens. Denn bisher zeigte die englische Geschichte ein erstaunliches Mißverhältnis zwischen den vielen, vielen Jahren, in denen die Briten Krieg geführt haben, und den wenigen angstvollen Tagen, in denen die Furcht vor fremden Eindringlingen sie bis ins Innerste verstörte. Das Jahr 1887 heitzt deshalb das „schwarze Jahr" in der Geschichte Englands, weil damals der siegreiche holländische Seeheld de Ruyter bis in die Mündung der Themse hinein segelte und hier Anker warf. Die düsteren Bilder dieser ersten Beschießung Englands durch eine fremde Flotte sind bis aus den heutigen Tag tief in die Gemüter der Briten eingeprägt. Am 7. Juni 1887 warfen die Schisse de Ruyters in der Themse ihre Anker aus. „Die Kanonen wurden bis nach Bethnall Green gehört", schreibt Pepys, der damalige Staatssekretär der Admiralität, in seinem berühmt gewordenen Tagebnck). Die holländische Flotte bestand aus sechs grohen Schissen und einer Anzahl Transportschiffen, die Truppen enthielten. De Ruyter sandte ein Gcschivader aus, um Shcernch anzugrcisen, dessen Fort bombardiert wurde: dann landete er eine Truppenmacht und nahm das Fort Im Sturm. Schisse wurden im Fluß ver senkt, um die Holländer aufzuhalten, ober dies Hindernis kümmerte sie nicht; sie drangen weiter vor, griffen eine Anzahl der besten Schisse der englischen Flotte an und versenkten sie. Dann kehrte der holländisck)« Admiral wieder zur Mündung des Flusses zurück und blockierte die Themse so lange, bis am 81. Juli der Friede von Breda geschlossen wurde. „Alle Herzen sind mit tiefstem Weh erfüllt", so schildert Pepys die Stim mung In London, „und Ich fürchte, daß es mit dem ganzen Königreich vorbei ist. Gott Helse uns, das ist das einzige, worum wir noch bitten können." Diesem größten „Raid" gegenüber, der bis dahin gegen englische Küsten unternommen worden war, erscheinen alle späteren feindlichen Angriffe bis zum Weltkrieg nur unbedeu tend. Die „Invasion" Wilhelms III. im Jahre 1868 sowie die verschiedenen Versuche der Stuarlschen Kronprätendenten, in den Jahren 1715 und 1745 in England zu landen, sind eigent lich keine Angriffe eines fremden Volkes, sondern unter den Feinden befanden sich sehr viele Engländer, und es waren Innerenglischc Llerhältnissc, dle zu diesen Konflikten führten. Eine Parallele zu den Angriffen der deutschen Flotte im Welt krieg findet sich höchstens noch in den kühnen Taten -es ame rikanischen Seeoffiziers John Paul Jones, der nach Ausbruch des Krieges zwischen England und Amerika 1775 der Schrecken der englischen Schiffahrt und eine ewige Drohung für -ie Kiistenstädte wurde. Am 10. April 1778 segelte Jones von Brest mit -em Kriegsschiff „The Ranger" ab und überraschte einige Tage später die Garnisonen -er beiden Forts, die den Hasen von Whitehaven beherrschten, vernagelte hier die Kano nen und machte einen Versuch, die im Hasen liegenden Schisse in Brand zu setzen, ivas ihm aber nicht völlig gelang. Im selben Jahr sichtete er am 28. September mit drei Kriegsschif fen zwei britische Kri^agchisse, die „Scrapis" und die „Gräfin von Scarbroug" bei Flamborough Hacd. Jones griff zunächst die seinen Schiffen überlegene „Scrapis" an und zwang sie nach einem verzweifelten Kampf von dreieinhalb Stunden, sich zu ergeben. Das andere Schiss war unterdessen von einem seiner Schisse in Grund gebohrt worden. Ganz England hielt den Atem an vor Angst bei dieser Kunde. Man zitterte vor einem neuen Angriff Jones', und dessen Angriff gegen den Ha«en von Leith scheiterte tatsächlich nur durch die ungünstigen Winde, die ihn zur Umkehr zwangen. Das letztemal, daß vor dem Weltkrieg ein Unternehmen direkt gegen England selbst gerichtet wurde und Erfolg hatte, ist eine ziemlich unbekannte Episode aus -en französischen Revolutionskriegen. Im Jahre 1797 unternahm General Hoche eine Expedition gegen England. Während es ihm selbst nicht glückte zu landen, kam eine kleinere französische Macht von 1500 Mann unter General Täte auf englischen Boden. Sie landete in Cardigan Bay an der Küste von Pembrokcshire, konnte aber mit ihren geringen Kräften natürlich nicht viel ausrichlen. 117 Jahre lang ist dann England von keinem Feind be lästigt worden, bis im Weltkriege di« deutschen Angriffe aus seine Küsten begannen, die seht, aber mit unvergleichlich viel stärkeren Mitteln, wieder ausgenommen werden.
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