Volltext Seite (XML)
19 die Augen, der Franzos hätte mir kom men sollen! und patscht sich aus den Bauch, ein Kerl, der vielleicht nicht werth wäre, dein Reitknecht zn sein. Clavigo (fällt in dem Ausbruch der hef tigsten Beängstigung, mit einem Strom von Thränen, dem Carlos um den Hals). Nette mich, Freund! mein Bester, rette mich! rette mich von dem gedoppelten Meineid, von der unübersehlichen Schande, von mir selbst — ich vergehe! Carlos. Armer! Elender! Ich hoffte, diese jugendlichen Rasereien, diese stür menden Thränen, diese versinkende Weh- muth sollte vorüber sein, ich hoffte, dich als Mann nicht mehr erschüttert, nicht mehr in dem beklemmenden Jammer zu sehen, den du ehemals so oft in meinen Busen ausgeweint hast. Ermanne dich, ' Clavigo, ermanne dich! Clavigo. Laß mich weinen! (Wirst sich in einen Sessel.) Carlos. Weh dir, daß du eine Bahn betreten hast, die du nicht endigen wirst I Mit deinem Herzen, deinen Gesinnungen, die einen ruhigen Bürger glücklich ma chen würden, mußtest du den unseligen Hang nach Größe verbinden! Und was ist Größe, Clavigo? Sich in Rang und Ansehn über andre zu erheben? Glaub' es nicht! Wenn dein Herz nicht größer ist, als andrer Herzen, wenn du nicht im Staude bist, dich gelassen über Verhält nisse hinaus zu setzen, die einen gemeinen Menschen ängstigen würden, so bist du mit allen deinen Bändern und Sternen, bist mit der Krone selbst nur ein gemei ner Mensch. Fasse dich, beruhige dich! Clavigo (richtet sich auf, sieht Carlos au und reicht ihm eine Hand, die Carlos mit Heftigkeit ansastt). Carlos. Auf! aus, mein Freund! und entschließe dich. Sieh, ich will alles bei Seite setzen, ich will sagen: Hier liegen zwei Vorschläge auf gleichen Scha len. Entweder du heirathest Marien und findest dein Glück in einem stillen bürger lichen Leben, in den ruhigen häuslichen Freuden; oder du führst ans der ehren vollen Bahn deinen Lauf weiter nach dem nahen Ziele. — Ich will alles bei Seite setzen, und will sagen: die Zunge steht inne; es kommt auf deinen Entschluß an, welche von beiden Schalen den Aus- schlag haben soll! Gut! Aber entschließe dich! — Es ist nichts erbärmlicher in der Welt, als ein unentschlossener Mensch, der zwischen zweien Empfindungen schwebt, gern beide vereinigen möchte, und nicht begreift, daß nichts sie vereinigen kann, als eben der Zweifel, die Unruhe, die ihn peinigen. Auf, und gicb Marien deine Hand, handle als ein ehrlicher Kerl, der das Glück seines Lebens seinen Worten aufopfert, der es für seine Pflicht achtet, was er verdorben hat, wieder gut zu machen, der auch den Kreis seiner Lei denschaften und Wirksamkeit nie weiter ausgebreitet hat, als daß er im Stande ist, alles wieder gut zu machen, was er verdorben hat: und so genieße das Glück einer ruhigen Beschränkung, den Beifall eines bedächtigen Gewissens und alle Seligkeit, die denen Menschen gewährt ist, die im Stande sind, sich ihr eigen Glück zn schaffen und Freude den Ihri gen — Entschließe dich; so will ich sa gen, du bist ein ganzer Kerl — Clavigo. Einen Funken, Carlos, deiner Stärke, deines Muths. Carlos. Er schläft in dir, und ich will blasen, bis er in Flammen schlägt. Sieh auf der andern Seite das Glück und die Größe, die dich erwarten. Ich will dir diese Aussichten nicht mit dich terischen bunten Farben vormalen; stelle sie dir selbst in der Lebhaftigkeit dar, wie sie in voller Klarheit vor deiner Seele standen, ehe der französische Stru delkopf dir die Sinne verwirrte. Aber auch da, Clavigo, sei ein ganzer Kerl, und mache deinen Weg stracks, ohne rechts und links zu scheu. Möge deine Seele sich erweitern, und die Gewißheit des großen Gefühls über dich kommen, daß außerordentliche Menschen eben auch darin außerordentliche Menschen sind, weil ihre Pflichten von den Pflichten des gemeinen Menschen abgehen; daß der, dessen Werk cs ist, ein großes Ganze zu übersehen,