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115 13. Indem sie dies sagte, zog sie unter ihrem Kleide das Tuch hervor, das mit ihr ausgesetzt worden war, und übergab es Persina. Sobald diese das Tuch erblickte, wurde sie starr, sprachlos, alle Glieder bebten ihr hierauf, ein Angstschweiß brach ihr aus und in diesem Zu stande sah sie lange Zeit bald die Schrift, bald Charikleia an, voll Freude, diese Tochter zu finden, aber noch zugleich voll ängstlicher Zweifel über ein so unerwartetes Glück, und voll Furcht, bei ihrem Gemahle keinen Glauben zu finden, voll Furcht vor seinem Argwohn, seinem Zorn, selbst seiner Rache, wenn ihr Unglück es so wollte. Hydaspes, der diese Bestürzung, diese so anhaltende Beängstigung sah, sagte endlich: Was ist das, meine Gemahlin? welche Wirkung hat die vorgezeigte Schrift auf dich? O mein König, versetzte sie, mein Herr und mein Gemahl, ich kann dir nichts weiter sagen, nimm dn selbst die Schrift und lies, sie wird dich von allem unterrichten. Zu gleich reichte sic ihm das Tuch und siel wieder in ein trauriges Schweigen. Hydaspes nahm es und verlangte, das; die Gymnosophisten näher treten und die Schrift mit ihm lesen sollten. Er durchlief sie hierauf selbst voll Verwunderuug und sah zugleich den Sisimithres er staunt, der in einem beständigen Wechsel seines Mienenspiels tausend verschiedene Gedanken verrieth und den Blick unaufhörlich bald auf Charikleia, bald auf das Tuch heftete. Nachdem er endlich durch die Schrift von der Aussetzung und ihrer Ursache unterrichtet war, sprach er: daß mir ehedem eine Tochter geboren worden ist, das weiß ich, und daß sie gestorben ist, hat Persina mir selbst gesagt: daß sie aber ausgesetzt worden ist, erfahre ich jetzt. Wer aber hat sie ausgenommen, wer hat ihr das Leben gerettet, wer hat sie erzogen, wer hat sie nach Egypten gebracht? Ist er nicht mit ihr zum Gefangenen gemacht wor den? Und was versichert mich überhaupt, daß diese Gefangene das ausgesetzte Kind ist, daß dieses nicht umgekommen ist? Daß nicht Jemand das Tuch und die Kennzeichen gefunden hat und sie zu einem Betrüge mißbraucht? Oder daß vielleicht nicht gar eine Gottheit unter der Person dieses Mädchens unserer Sehnsucht, ein Kind zu haben, spottet und uns einen untergeschobenen Bastard zum Erben aufdringt und, wie gesagt, durch dieses Tuch dem Betrüge den Schein der Wahr heit gibt? 8*