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114 das Gesetz, o König, Fremde oder Einheimische zu opfern? Auf seine Entgegnung: „Fremde", sagte sie: Dann ist schon Zeit, daß du an dere zum Opfer suchst; denn du wirst finden, daß ich die eurige und eine einheimische bin. 12. Da er dieses seltsam fand und sagte, daß es Erdichtung wäre, versetzte Charikleia: Du wunderst dich noch über das Geringste, ich habe dir weit größere Dinge zu sagen, denn ich bin nicht nur eine Ein heimische, sondern die erste und nächste Verwandte des königlichen Hauses. Wie Hydaspes diese Worte wieder als thörichtes Geschwätz mit Verachtung anhörte, sagte Charikleia: O mein Vater! verwirf deine Tochter nicht! Nunmehr aber bezeigte der König nicht nur Ver achtung, sondern Zorn und Unwillen über Charikleia's Reden, indem er sie als einen Spott und eine Beschimpfung ansah, die ihm wider führe, daher sagte er: Sisimithres und ihr andern, seht ihr, wie weit meine Geduld geht? Ist das Mädchen nicht offenbar rasend, da sie mit diesen tollkühnen Erdichtungen den Tod von sich zu entfernen sucht? Wie eine Person ans der Schaubühne, die aus der äußersten Verzweiflung durch ein Wunder gerettet wird, tritt sie als meine Tochter hervor, da ich niemals, wie ihr selbst wißt, so glücklich gewesen bin, ein Kind zu haben. Ein einziges Mal, in der That, wurde mir nur gesagt, daß mir ein Kind geboren, aber auch zu gleicher Zeit, daß es gestorben wäre. Führt sie also zum Opfer und laßt sie nicht länger Erdichtungen erfinden, ihren Tod zu verschieben. Niemand soll mich führen, schrie Charikleia, bis die Richter es gebieten: du stehst hier vor Gericht und bist nicht Richter. Vielleicht mögt ihr ein Gesetz haben, das euch gebietet, Fremde zu tödten, aber ein Kind zu tödten, gestattet dir, mein Vater, weder ein Gesetz, noch die Natur; denn für meinen Vater werden die Götter dich heute noch erklären, so sehr du dich auch dagegen sträubst. In streitigen Sachen, o König, entscheiden zwei Hauptbeweise, schriftliche Urkunden und die Bekräftigung von Zeugen. Durch beide Belege kann ich dir darthun, daß ich deine Toch ter bin. Zum Zeugen will ich nicht einen aus dem Volke, sondern unsere Richter selbst auffordern: und was kann einem Kläger so viel Glauben verschaffen, als das Zeugniß des Richters? Als schriftlichen Beweis aber empfange diesen Brief, der die Geschichte meines Schicksals und des deinigen enthält.