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74 Tische zu sitzen, blos weil sie dieselbe Luft einathmeten. Diese Be hauptung kann dir nichts so gut, als das Entstehen der Liebe bezeu gen, ihr gibt das Gesehene den Ursprung, und die beflügelten Pfeile der Leidenschaft dringen durch das Auge in die Seele. Und das ist sehr natürlich; das Gesicht, der beweglichste und wärmste der in uns befindlichen Kanäle und Sinne, nimmt die Ausströmungen leichter auf und zieht vermittelst des ihm inne wohnenden feurigen Hauches das Hinübertreten der Liebe an. 8. Beispielshalber will ich dir auch einen mehr aus der Naturlehre entlehnten Grund anführen, der sich in den heiligen Büchern über die Thiere ausgezeichnet findet. Der Vogel Charadrios ^) heilt die Gelbsüchtigen, und wenn der mit dieser Krank heit Behaftete ihn ansieht, so flieht der Vogel und wendet sich mit ge schlossenen Augen ab, nicht, wie Einige glauben, weil er den Nutzen, den er gewährt, mißgönnt, sondern weil er die Natur hat, wann er gesehen wird, die Krankheit wie einen Strom auf sich zu ziehen, und deshalb mag er sich nicht gern sehen lassen, wie wenn er dadurch ver wundet würde. Und daß unter den Schlangen der sogenannte Basi lisk alles, was ihm ausstößt, blos durch seinen Hauch und Blick ver- dörrt und schädigt, hast du vielleicht gehört. Wenn Einige den Liebsten und denjenigen, gegen die sie Wohlwollen empfinden, etwas anthun, so muß das nicht Wunder nehmen. Da sie von Natur neidisch sind, so thun sie nicht, was sie wollen, sondern was ihre Natur mit sich bringt 4). 9. Nach kurzem Schweigen sagte er hierauf: Die Streitfrage hast du in einer sehr klugen und glaubwürdigen Weise gelöst. Möchte sie doch einmal Verlangen und Liebe empfinden, dann würde ich sie für gesund, nicht für krank halten; du weißt, daß ich hiezu deinen Bei stand anrief. Nun steht aber nicht zu befürchten, daß der lieblosen Feindin der Ehe so etwas widerfahren sei, sie scheint in der That durch 6) Ein unbestimmbarer, von den alten Schriftstellern mehrfach erwähnter Vogel. Die ganze Stelle über den Neid ist, wie Coraes bemerkt, den Symposiaka des Plu- tarch entnommen. Um diese Theorie über die Macht des neidischen Auges sich einigermaßen erklärlich zu machen, muß man sich erinnern, daß der religiöse Glaube der Griechen auch dem Gebete des Beleidigten eine entschiedene Macht über seinen Beleidiger beilegte.