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72 Bestürzung betroffen, unbeweglich da, sie gab, er nahm die Fackel langsamer, sie hefteten die Augen lange aus einander, als wenn sie sich erkennten oder einander früher gesehen hätten und sich darauf be- sännen, dann lächelten sie ein wenig, doch nur verstohlen und nur an der weniger ernsten Physiognomie erkennbar. Hierauf errötheten sie, als wenn sie sich des Geschehenen schämten, und dann, da die Leiden schaft ihnen vermuthlich in das Herz drang, erblaßten sie wieder. Kurz, ihr Aussehen nahm in wenig Augenblicken unzählige Wand lungen an, Farbe und Blick, die Bewegung der Seele verrathend, wechselte in alle Gestalten. Dies blieb natürlich der Menge, die mit andern Dingen und Gedanken beschäftigt war, verborgen, auch Chari- kles merkte davon nichts, weil er die üblichen Gebete und Anrufungen verrichtete. Nur ich war blos auf die Betrachtung des jungen Paares gewendet, denn schon seit Theagenes das Orakel beim Opfern im Tempel erhielt, hatten mich die darin enthaltenen Namen zu Ver muthungen über die Zukunft gebracht, doch konnte ich von den sonstigen Prophezeiungen mir nichts genau deuten. 6. Als Theagenes aber endlich, und wie mit Gewalt vom Mädchen sich losreißend, die Fackel unterlegte und den Altar anzündete, da hatte der Aufzug ein Ende, die Theffalier wandten sich zum Schmause, die andere Menge begab sich jeder in sein Haus. Charikleia legte einen weißen Mantel an und eilte mit wenigen Bekannten zu ihrer Wohnung in der Ringmauer des Tempels. Sie wohnte auch nicht bei ihrem vermeintlichen Vater, um durch strenge Absonderung die Heiligkeit ihres Amtes zu wahren. Durch das, was ich gesehen und gehört, war ich neugieriger geworden und traf in dieser Verfassung den Charikles an. Sahst du meinen und der Delphier Schmuck, Chari kleia? fragte er mich. Jetzt nicht zum ersten Male, entgegnete ich, schon oftmals früher, wann sie mich im Tempel traf, und zwar nicht im Vorbeigehen, wie man zu sagen pflegt: nicht selten verrichtete sie das Opfer mit mir und fragte mich nach göttlichen und menschlichen Dingen, wenn sie einige Zweifel hatte, und ließ sich belehren. „Was meintest du denn jetzt, mein Guter? gereichte sie dem Aufzuge zu inniger Zierde?" Schweige, Charikles, antwortete ich, eben so gut könntest du fragen, ob der Mond sich unter den andern Gestirnen aus zeichnet. Doch lobten auch Einige den Jüngling aus Thessalien, be-